Читать книгу Madame Bovary - Gustave Flaubert, Gustave Flaubert - Страница 13

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Oft, wenn Charles fort war, holte sich Emma aus dem Schrank das grünseidene Zigarrenetui wieder zwischen der Wäsche hervor, wo sie es verborgenhielt.

Sie betrachtete es, öffnete es, sog den Geruch des Innenfutters ein, das nach Eisenkraut und Tabak duftete. Wem mochte es wohl gehört haben? Dem Vicomte? Vielleicht war es ein Geschenk seiner Geliebten. Vielleicht hatte sie es in aller Heimlichkeit gestickt, auf einem zierlichen Polisanderrahmen, und gewiß viele Stunden lang träumerisch daran gestichelt, während ihr die weichen Locken darüber fielen. Ein Liebeshauch war in die Maschen des Kanevas eingewebt. Mit jedem Nadelstich war eine Hoffnung oder eine Erinnerung mit hineingestickt, und all die verschlungenen Seidenfäden spannen nur die eine stumme Leidenschaft fort. Und dann, eines Morgens, hatte der Vicomte die Tasche mit sich genommen. Was mochte sie wohl alles für Gespräche mit angehört haben, als sie noch auf breiten Kaminsimsen zwischen Blumenvasen und Rokokouhren gelegen hatte?

Jetzt war sie hier in Tostes. Und er, er war in Paris da drunten! Wie mochte dieses Paris sein? Was für eine Unermeßlichkeit lag in diesem Namen! Sie sprach ihn immer wieder halblaut vor sich hin und entzückte sich daran; er klang ihr in den Ohren wie Glockengedröhn einer Kathedrale, flammte ihr in die Augen, selbst von den Etiketten ihrer Salbentöpfe.

In der Nacht, wenn die Fischhändler mit ihren Karren unter ihrem Fenster vorbeifuhren und die „Marjolaine“ sangen, wurde sie wach und lauschte dem Rasseln der eisenbeschlagenen Räder, das jäh erstarb, wenn sie am Ende der Ortschaft wieder auf die ungepflasterte Landstraße kamen.

Die sind morgen früh in Paris, dachte sie dann bei sich; und in Gedanken folgte sie ihnen dahin, hügelauf, hügelab durch die Dörfer und Marktflecken, im Sternenlicht auf der großen Landstraße. Und irgendwo in ungewisser Ferne lockte dann immer das dunkle, verworren brausende Ziel, in das sich ihr Traum verlor.

Sie kaufte sich einen Plan von Paris und machte mit dem Zeigefinger lange Wanderungen durch die Weltstadt. So ging sie die Boulevards auf und ab, verweilte an jeder Ecke, zwischen den Straßenzügen, vor den weißen Vierecken der Häuserblocks. Wurden ihr die Augen müde, dann schloß sie die Lider und sah im Dunkel die Flammen der Gaskandelaber vor den Säulenportalen der großen Theater im Winde flackern und hörte das Rollen der anfahrenden Equipagen.

Sie abonnierte „La Corbeille“, eine Frauenzeitschrift, und die „Sylphe des salons“. Sie verschlang, ohne auch nur das geringste auszulassen, sämtliche Berichte über Uraufführungen, Rennen und Abendgesellschaften. Sie interessierte sich für das Debut einer Sängerin ebenso wie für die Eröffnung eines Warenhauses. Sie kannte die neuesten Moden, die Anschriften der guten Schneider, die Tage, an denen sich die vornehme Gesellschaft im Bois de Boulogne oder in der Oper traf. Sie studierte bei Eugène Sue die Schilderungen von Wohnungseinrichtungen. Sie las Balzac und George Sand und suchte bei ihnen imaginäre Befriedigung ihrer persönlichen Lebensbegierden. Sogar zu den Mahlzeiten brachte sie ihr Buch mit und las und blätterte darin, während Charles aß und mit ihr sprach. Immer wieder tauchte beim Lesen das Bild des Vicomte vor ihr auf, und sie setzte alle Romangestalten in Beziehung zu ihm. Mit der Zeit aber erweiterte sich der Kreis immer mehr, und der Glanz, der ihn umgab, wich von ihm, um andere Traumbilder zu erleuchten.

Weiter als ein Ozean, lag Paris vor Emmas Blicken gleichsam in funkelndem Glanze ausgebreitet. Das tausendfältige Leben, das sich dort regte, schied sich jedoch in ihrer Vorstellung in scharf voneinander getrennte Gruppen, und zwar waren es eigentlich nur drei, hinter denen für sie alle anderen zurücktraten und die einzig und allein für sie die Menschheit darstellten. Das war einmal die Welt der Diplomaten, die sich in Spiegelsälen auf glänzendem Parkett um Tische mit goldbefransten Sammetdecken bewegten; die Welt der Staatsgeheimnisse, der Ängste und Sorgen unter lächelnder Larve. Dann kam die Welt der Herzoginnen, in der man aristokratisch bleich aussah und erst nachmittags um vier Uhr aufstand; die Damen – arme Engel! – trugen Unterwäsche mitenglischen Spitzen, und die Herren, die durchweg die hervorragendsten Fähigkeiten unter einer nichtssagenden Außenseite verbargen, ritten zum bloßen Vergnügen ihre Vollblüter zuschanden, verbrachten die Saison in Baden-Baden und heirateten schließlich, wenn sie an vierzig waren, reiche Erbinnen. Der dritte Kreis endlich, das war der bunte Schwarm der Literaten und Schauspieler, die nach Mitternacht in den Séparées bei Kerzenschein tafelten und lachten, verschwenderisch alle wie die Könige und voll hochfliegender Ideale und toller Phantastereien. Das war ein Leben, hoch überm Alltag, zwischen Himmel und Erde, in Sturm und Drang – etwas Erhabenes.

Was die übrige Welt betraf, so verlor sie sich für Emma ins Ungewisse und hatte keinen bestimmten Platz in ihren Gedanken, als wäre sie gar nicht vorhanden. Je näher ihr übrigens die Dinge standen, um so mehr schloß sich ihr Innenleben dagegen ab, und was sie unmittelbar hier in Tostes umgab – die langweilige Landschaft, die stumpfsinnigen Spießbürger, dies ganze Durchschnittsdasein –, kam ihr wie eine Ausnahmeerscheinung in der Welt vor, eine Enge, in die sie nur durch Zufall festgebannt war, während sich überall draußen das unabsehbare Reich der Glückseligkeiten und Leidenschaften breitete.

In ihren Wunschträumen war Herzensglück untrennbar mit Wohlstand, Gefühlszartheit untrennbar mit äußerer Eleganz verbunden. Bedurfte die Liebe nicht auch, wie die Tropenpflanzen, eines besonders gepflegten Bodens und einer besonderen Luft? Die Seufzer im Mondschein, die langen Umarmungen, die Tränen, auf hingegebene Hände geweint, all die heißen Schauer des Fleisches, all die schmachtenden Wonnen des Herzens waren für sie nicht mehr wegzudenken von stolzen Schlössern mit hohen Altanen, wo man nur seiner Muße und seinem Belieben lebt, von einem Boudoir mit seidenen Vorhängen, dicken Teppichen, gefüllten Blumentischchen, von einem erhöht auf einer Estrade prangenden Himmelbett, von dem Funkeln der Edelsteine und dem Glitzern betreßter Livreen.

Der Bursche von der Post, der allmorgendlich kam, um die Stute zu striegeln, klotzte jedesmal mit seinen plumpen Holzpantinen durch den Hausflur. Er trug keine Strümpfe, und sein Kittel war zerlöchert. Das war nun der Groom in Kniehosen, mit dem sie sich begnügen mußte. Hatte er seine Arbeit getan, so kam er den ganzen Tag über nicht mehr wieder, denn Charles brachte, wenn er heimkehrte, sein Pferd immer selbst in den Stall und nahm ihm Sattel und Zaumzeug ab, während das Dienstmädchen ein Bündel Heu herbeischleppte und in die Krippe warf, so gut sie konnte.

Als Ersatz für Nastasie, die schließlich tränenüberströmt aus Tostes abgezogen war, hatte Emma ein vierzehnjähriges Mädchen, eine sanftmütig dreinschauende Waise, in Dienst genommen. Sie verbot ihr, ihre Bauernmütze zu tragen, brachte ihr bei, die Herrschaften nur in der dritten Person anzureden, ein Glas Wasser auf dem Teller zu reichen, vor dem Eintreten anzuklopfen, lehrte sie Wäsche bügeln und stärken, beim Ankleiden behilflich zu sein und war bestrebt, eine richtige Kammerzofe aus ihr zu machen. Die Kleine fügte sich denn auch ohne Murren in alles, um nur nicht fortgeschickt zu werden; und da die Gnädige gewöhnlich den Schlüssel im Büfett steckenließ, nahm sich Félicité – so hieß das hoffnungsvolle Kind – jeden Abend einen kleinen Vorrat an Zucker mit, den sie dann, nachdem sie ihr Nachtgebet verrichtet hatte, heimlich verspeiste.

Nachmittags machte sie zuweilen einen Sprung über die Straße, um mit den Postillionen zu schwatzen. Madame blieb um diese Zeit gewöhnlich oben in ihrem Zimmer.

In einem ausgeschnittenen Morgenrock, der zwischen den Aufschlägen ein feingefälteltes Vorhemdchen mit drei Goldknöpfen sehen ließ, eine Kordel mit dicken Quasten um die Taille, ihre granatroten, mit Rosetten aus breiten Bändern gezierten Pantöffelchen an den Füßen, trödelte Emma dann im Zimmer umher und suchte sich die Zeit zu vertreiben. Sie hatte sich eine Schreibunterlage, Briefpapier und einen Federhalter gekauft, aber es gab niemanden, an den sie hätte schreiben können. So wischte sie hier und da ein wenig Staub, betrachtete sich im Spiegel oder nahm ein Buch zur Hand, ließ es aber, darüber hinweg träumend, bald wieder in den Schoß sinken. Am liebsten wäre sie auf eine weite Reise gegangen oder in ihr Kloster zurückgekehrt. Sie wünschte sich im selben Atem, zu sterben und in Paris zu leben.

Unterdessen trabte Charles bei Wind und Wetter über Weg und Steg, aß Eierkuchen bei den Bauern, griff in verschwitzte Krankenbetten, ließ sich beim Aderlassen das warme Blut ins Gesicht spritzen, lauschte auf das Röcheln Sterbender, prüfte den Inhalt von Spucknäpfen und streifte viele schmutzige Hemden hoch. Am Abend jedoch fand er immer ein flackerndes Feuer vor, einen gedeckten Tisch, einen weichen Lehnstuhl und eine reizende Frau, hübsch angezogen und einen frischen Wohlgeruch ausströmend, von dem man nicht recht wußte, woher er eigentlich kam und ob es nicht ihre Haut war, die das Hemd durchduftete.

Sie entzückte ihn immer wieder mit tausend netten Kleinigkeiten: bald hatte sie eine neue Art Papiermanschetten für die Leuchter erfunden, bald einen Volant an ihrem Kleid umgeändert oder sich einen großartigen Namen ausgedacht für ein ganz simples Gericht, das das Mädchen obendrein verdorben hatte, das Charles aber bis zum letzten Rest begeistert verschlang. Einmal sah sie in Rouen, daß die Damen an ihren Uhrketten allerlei Berlocken trugen; sofort kaufte sie sich auch Berlocken. Dann wieder wünschte sie sich für ihren Kamin zwei große Vasen aus blauem Glas und einige Zeit darauf ein Nähzeug aus Elfenbein mit einem vergoldeten Fingerhut. Je weniger Charles von derlei Luxusdingen verstand, um so stärker war der Zauber, den sie auf ihn ausübten. Sie schmeichelten seinen Sinnen und machten ihm sein Heim noch liebenswerter. Es war ihm, als sei sein ganzer bescheidener Lebenspfad mit feinem Goldstaub bestreut.

Es ging ihm gut, und er sah auch vortrefflich aus. Sein Ansehen als Arzt war nun fest gegründet. Das Landvolk mochte ihn gern, weil er gar nicht stolz war. Er streichelte die Kinder, ging niemals ins Wirtshaus und flößte aller Welt durch seine Biederkeit Vertrauen ein. Besondere Erfolge hatte er bei Hals- und Lungenleiden. Da er immer Angst hatte, seine Patienten zu Tode zu kurieren, verschrieb er fast ausschließlich Beruhigungsmittel und dann und wann ein Brechpulver, ein Fußbad oder Blutegel. Dabei hatte er keineswegs etwa Angst vor Eingriffen chirurgischer Art. Er ließ die Leute zur Ader, als hätte er Pferde vor sich, und es hieß, beim Zähneziehen habe er eine währe Eisenfaust.

Um sich auf dem laufenden zu halten, abonnierte er „La Ruche médicale“, eine neue medizinische Fachzeitschrift, von der man ihm eine Probenummer zugeschickt hatte. Darin pflegte er nach dem Essen ein wenig zu lesen, aber die Zimmerwärme, vereint mit der beginnenden Verdauung, hatte meistens zur Folge, daß er bereits nach fünf Minuten einnickte; und da saß er denn, den Kopf vornüber auf die Hände gebettet, daß sich die Haare auf dem Tisch wie eine Mähne bis an den Fuß der Lampe breiteten. Emma sah sich das achselzuckend an. Warum hatte sie nicht wenigstens eine jener stillen Leuchten der Wissenschaft zum Ehemann, die nachts über ihren Büchern hocken und schließlich mit sechzig Jahren, wenn sich das Gliederreißen einstellt, ein Verdienstkreuz an den schlecht sitzenden Frack gehängt bekommen. Sie hätte gewünscht, der Name Bovary, den sie ja nun auch trug, sei berühmt, in den Buchläden ausgestellt, in den Zeitungen genannt, in ganz Frankreich bekannt. Aber Charles hatte ja keinen Funken Ehrgeiz! Ein Arzt aus Yvetot, mit dem er kürzlich eine gemeinsame Konsultation gehabt, hatte ihn am Bett des Kranken vor der versammelten Familie blamiert. Als Charles abends die Geschichte erzählte, entrüstete sich Emma höchlich über den Kollegen. Darüber gerührt, küßte Charles sie feuchten Auges auf die Stirn. Aber sie war außer sich vor Scham über die Demütigung und hätte ihn am liebsten geohrfeigt. Sie ging auf den Flur hinaus, riß das Fenster auf und sog die frische Luft ein, um sich zu beruhigen.

„Wie erbärmlich! Wie erbärmlich!“ sagte sie immer wieder vor sich hin und biß sich auf die Lippen.

Auch sonst wurde er ihr immer widerwärtiger. Mit der Zeit hatte er allerhand üble Gewohnheiten angenommen: beim Nachtisch zerschnitt er den Korken der leeren Weinflasche, nach dem Essen fuhr er mit der Zunge in den Zähnen umher, und wenn er die Suppe löffelte, gluckste er bei jedem Schluck. Zudem fing er an dick zu werden, und seine an sich schon kleinen Augen schienen allmählich ganz hinter seinen feisten Backen zu verschwinden.

Manchmal schob sie ihm den roten Saum seiner Trikotunterjacke wieder unter die Weste, zog seine Krawatte zurecht oder warf ein Paar abgetragene Handschuhe fort, die er gerade wieder anziehen wollte. Aber das tat sie nicht ihm zuliebe, wie er meinte, sondern sich selbst zuliebe, aus Widerwillen gegen den häßlichen Anblick, aus nervöser Gereiztheit. Manchmal sprach sie auch zu ihm von dem, was sie gerade gelesen hatte: von einer Stelle aus einem Roman, von einem neuen Stück oder einer Skandalgeschichte aus der großen Gesellschaft, die in der Zeitung gestanden hatte. Schließlich war er doch immerhin jemand, der ihr jederzeit bereitwillig zuhörte und in allem beistimmte. Sie sprach ja auch mit ihrem Windspiel und hätte im Notfall auch mit den Holzscheiten im Ofen und dem Pendel ihrer Stutzuhr geredet.

Im Grunde ihrer Seele aber wartete sie immerzu auf irgendein Ereignis. Gleich Schiffbrüchigen ließ sie ihre verzweifelten Blicke über die Öde ihres Lebens schweifen, ob sich denn nicht endlich in der Ferne, im Dunst des Horizonts ein weißes Segel zeige. Sie wußte nicht, welcher Zufall, welcher günstige Wind es ihr zutreiben werde und zu welchem Gestade es sie bringen sollte, noch ob es eine kleine Schaluppe oder ein stolzer Ozeandampfer sein würde, bis oben hin beladen mit Ängsten oder Glückseligkeiten. Aber an jedem Morgen, wenn sie erwachte, hoffte sie auf den neuen Tag, horchte auf jedes Geräusch, fuhr hoch, wunderte sich, daß nichts kam, und wünschte sich am Abend todtraurig, es möge schon wieder Morgen sein.

Der Frühling kehrte wieder. Als die ersten warmen Tage kamen und die Birnbäume blühten, litt sie an Atembeklemmungen.

Von Anfang Juli an zählte sie die Wochen bis zum Oktober an den Fingern ab, in der Hoffnung, daß der Marquis d’Andervilliers vielleicht dies Jahr wieder einen Ball auf Vaubyessard geben werde. Aber der September verging, ohne daß eine schriftliche oder mündliche Einladung kam.

Nachdem sie den Verdruß über diese Enttäuschung verwunden hatte, war es wieder leer in ihrem Herzen, und die Reihe der ewig gleichen Tage begann von neuem.

Sie sollten also nun wirklich immer so dahingehen, einer wie der andere, unzählig, und keiner brachte etwas mit sich. So fläch auch das Leben anderer Leute war, für sie bestand doch wenigstens die Möglichkeit, daß sich in ihrem Dasein einmal etwas ereignete. Ein Zufall hatte manchmal unabsehbare Folgen und veränderte das Bild vollkommen. Aber für sie geschah nichts. Gott hatte es so bestimmt. Wie ein langer stockfinsterer Gang mit einer fest verschlossenen Tür am Ende lag die Zukunft vor ihr.

Sie gab auch das Musizieren auf. Wozu Klavier spielen? Wer hörte ihr schon zu? Da es ihr ja doch niemals vergönnt sein würde, in einem Samtkleid mit kurzen Ärmeln in einem Konzertsaal auf einem Erardflügel mit leichten Fingern über die Elfenbeintasten dahinzufahren und das Raunen der Begeisterung wie Windhauch um sich her zu fühlen, so lohnte es ja auch nicht, sich mit dem Üben abzuquälen. Auch Zeichengerät und Stickrahmen ließ sie im Schrank. Wozu das alles? Wozu? Das Nähen ward ihr zuwider. – Und gelesen habe ich auch schon alles, dachte sie. Und so saß sie da und vertrieb sich die Zeit damit, die Feuerzange so lange in die Glut zu halten, bis sie glühte, oder sie schaute zu, wie der Regen fiel.

Und wie traurig war sie an Sonntagnachmittagen zur Zeit des Vesperläutens! Sie lauschte stumpfsinnig und doch gespannt, wie die matten Glockenschläge einer nach dem anderen verhallten. Manchmal schlich wohl eine Katze langsam über die Dächer und krümmte den Buckel unter den bleichen Sonnenstrahlen. Auf der Landstraße blies der Wind Staubwirbel auf. In der Ferne bellte ein Hund. Und immer wieder, in regelmäßigen Abständen, fing die Glocke mit ihrem eintönigen Gebimmel an, das sich in der Landschaft verlor.

Dann kamen die Leute aus der Kirche. Die Frauen in blankgewichsten Schuhen, die Bauern in frischen Kitteln, und vor ihnen her sprangen barhäuptig die Kinder. Alle gingen sie heim; nur vor der Wirtshaustür saßen noch fünf oder sechs Männer, immer dieselben, und spielten Bouchon.

Der Winter war kalt. Jeden Morgen waren die Fensterscheiben zugefroren, und das Licht, das weißlich-blaß durch sie hereinschien wie durch Milchglas, hellte sich manchmal den ganzen Tag nicht auf. Um vier Uhr nachmittags mußte man schon die Lampen anzünden.

An schönen Tagen ging sie in den Garten hinunter. Der Reif hatte um die Kohlstauden silberne Spitzen gewoben, und hie und da hingen lange Silberfäden von einer zur andern. Kein Vogel ließ sich hören, alles schien im Winterschlaf zu liegen.

Das Spalier war mit Stroh umwickelt, und der Weinstock hing wie eine große, kranke Schlange an der Mauer, auf der man, wenn man näher hinschaute, vielfüßige kleine Asseln umherkriechen sah. Der im Brevier lesende Pfarrer bei den Fichten an der Hecke hatte den rechten Fuß verloren; auch war der Gips vom Frost hie und da abgesprungen, so daß sein Gesicht von weißen Flecken entstellt war.

Dann ging sie wieder hinauf, verschloß die Tür, schürte das Feuer im Kamin und fühlte sich in der erschlaffenden Wärme von neuem und nur noch bleierner von der Langenweile gelähmt. Sie wäre gern hinuntergegangen, um ein bißchen mit dem Dienstmädchen zu plaudern, aber ein Gefühl der Scham hielt sie zurück.

Jeden Morgen um die nämliche Stunde öffnete drüben der Schulmeister, sein schwarzseidenes Käppchen auf dem Kopf, die Fensterläden seines Hauses, und der alte Feldhüter kam vorbei, den Säbel um seinen Kittel geschnallt. Morgens und abends wurden die Postpferde, immer zu drei und drei, durch die Straße zur Tränke nach dem Dorfteich geführt Von Zeit zu Zeit bimmelte die Türklingel eines Kramladens, und wenn der Wind ging, hörte man die beiden kleinen Messingbecken, die der Friseur als Aushängeschild vor seinem Laden hatte, an ihren Stangen quietschen. Die Dekoration seines Schaufensters bestand aus einem an die Scheibe geklebten alten Modenblatt und einer weiblichen Wachsbüste mit gelber Perücke. Auch er, der Haarkünstler, klagte ständig über sein verfehltes Leben und seine aussichtslose Zukunft; sein Traum war ein Geschäft in einer großen Stadt, in Rouen zum Beispiel, am Hafen oder in der Nähe des Theaters, und in Ermangelung dessen spazierte er den ganzen Tag lang mit düsterer Miene zwischen der Bürgermeisterei und der Kirche hin und her und wartete auf Kundschaft. Sooft Frau Bovary einen Blick hinauswarf, sah sie ihn in seiner Wolljacke, die phrygische Mütze auf dem Ohr, wie eine Schildwache hin und her pendeln.

Nachmittags erschien zuweilen vor den Fenstern des Eßzimmers ein sonngebräunter Männerkopf mit schwarzem Backenbart und einem breiten, trägen, sanften Lächeln um den Mund, aus dem zwei Reihen weißer Zähne blitzten. Alsbald ertönte eine Walzermelodie, und in einem winzig kleinen Salon, der auf dem Leierkasten angebracht war, begannen sich lauter daumenlange Figürchen – Damen in rosa Turbanen, Tiroler in Lodenjacken, Affen in schwarzen Fräcken und Herren in Kniehosen – zwischen den Sesseln und Kanapees und Ziertischchen um und um zu drehen und zu wenden, vervielfältigt durch die aus kleinen Spiegeln bestehenden, an den Kanten mit Goldpapier aneinandergeklebten Wänden. Immer an seiner Kurbel leiernd, ließ der Mann seine Blicke nach rechts, nach links und zu den Fenstern hin wandern. Von Zeit zu Zeit hob er mit dem Knie seinen Kasten ein wenig hoch, weil ihn der harte Gurt auf die Schulter drückte, wobei er einen langen Strahl braunen Tabaksaft gegen den Prellstein spie. Und immerfort dudelte unterdessen die Musik, bald schwermütig und schleppend, bald vergnügt und munter, hinter dem rosafarbenen Taftbezug hervor, über dem ein verschnörkelter Messingbeschlag glänzte. Es waren Melodien, die man überall spielte und sang in den Theatern und Salons und abends zum Tanz unter strahlenden Kronleuchtern – ein Widerhall aus der großen Welt draußen, der hier bis zu Emma drang. Es war ihr, als zöge ein ganzer, nicht endender Reigen von Musik sie mit sich, und wie eine Bajadere auf dem Blumenmuster eines Teppichs hüpfte ihr Geist im Takt der Musik und wiegte sich in immer sehnsüchtigeren Traum, in immer tiefere Trübsal. Wenn der Mann die Geldstücke in seine Mütze gesammelt hatte, schlug er die alte blaue Wolldecke wieder über seinen Kasten, nahm ihn auf den Rücken und ging mit schweren Schritten weiter. Sie schaute ihm lange nach.

Besonders zu den Mahlzeiten wurde es ihr unerträglich in diesem kleinen Wohnzimmer im Erdgeschoß, wo der Ofen rauchte, die Tür in den Angeln quietschte und die Wände und der Fußboden ewig feucht waren. Es schien ihr dann, als werde ihr die ganze Bitternis ihres Lebens auf ihrem Teller vorgetischt, und wenn sie den Rindfleischdunst roch, war ihr, als stiege aus dem Grund ihrer Seele ein ebensolcher fader Brodem auf. Charles aß und aß, während sie nur ein paar Nüsse knackte oder sich, den Ellenbogen aufgestützt, damit die Zeit vertrieb, mit der Messerspitze auf dem wachsleinenen Tischtuch herumzusticheln.

Im Haushalt ließ sie jetzt alles gehen, wie es wollte, so daß sich die alte Frau Bovary, als sie während der Fastenzeit zu Besuch kam, sehr über diese Veränderung wunderte. Es ging so weit, daß sich Emma, die sonst so peinlich sauber und sorgfältig war, tagelang nicht ordentlich anzog, in grauen Baumwollstrümpfen herumlief und statt der Lampe ein Talglicht brannte. Immer wieder behauptete sie, sie seien nicht reich und müßten sparen, wobei sie jedesmal hinzufügte, daß sie sehr zufrieden, sehr glücklich sei, daß es ihr in Tostes sehr gut gefalle, und führte dergleichen ungewohnte Reden mehr, die der verdutzten Schwiegermutter die Sprache verschlugen. Im übrigen schien Emma auch gar nicht mehr geneigt, ihre Ratschläge zu befolgen. Als Mama Bovary einmal die Bemerkung für nötig befunden hatte, die Herrschaft sei verpflichtet, sich um den religiösen Lebenswandel ihrer Dienstboten zu kümmern, hatte Emma ihr mit einem so zornigen Blick und einem so eiskalten Lächeln erwidert, daß die gute Frau nicht wieder an das Thema rührte.

Emma wurde immer reizbarer und launischer. Sie ließ sich besondere Gerichte zubereiten und rührte sie dann nicht an; den einen Tag trank sie nur Milch, den nächsten ein Dutzend Tassen Tee. Sie weigerte sich hartnäckig, an die Luft zu gehen, und fand es im nächsten Augenblick im Zimmer zum Ersticken, riß die Fenster auf und zog sich ein leichteres Kleid an. Wenn sie ihr Dienstmädchen nach Kräften schikaniert hatte, machte sie ihr Geschenke und ließ sie Spazierengehen, wie sie denn auch manches Mal alles Kleingeld, das sie bei sich trug, an arme Leute fortgab, obwohl sie von Natur nicht eben mildtätig war und für die Leiden anderer nicht viel übrig hatte, gleich den meisten Menschen bäuerlicher Herkunft, deren Gemüt immer etwas von den Schwielen behält, die die Väter und Vorväter an den Händen hatten.

Gegen Ende Februar erschien Vater Rouault und brachte zur Erinnerung an seine Heilung dem Schwiegersohn eine prachtvolle Truthenne mit. Er blieb drei Tage in Tostes, und da Charles meistens bei seinen Kranken war, leistete ihm Emma Gesellschaft. Er qualmte in ihrem Zimmer, spuckte in den Kamin und redete von Landwirtschaft, Kälbern, Kühen, Geflügel und Gemeinderatssitzungen, so daß sie, als er wieder abreiste, die Tür hinter ihm mit einem Gefühl der Erleichterung schloß, das sie selbst überraschte. Im übrigen machte sie jetzt gar kein Hehl mehr aus ihrer Geringschätzung für alles und für jeden, versteifte sich auf sonderbare Meinungen, tadelte, was andere lobten, und lobte, was andere verkehrt und unmoralisch fanden, so daß ihr Gatte oft große Augen machte.

Ach, sollte denn dieses Elend ewig so weitergehen? Sollte sie nie davon loskommen? Sie war doch wahrhaftig ebensoviel wert wie alle die anderen Frauen, die glücklich lebten. Auf Vaubyessard hatte sie Marquisen und Herzoginnen gesehen, die plumper gebaut waren und sich ungeschickter benahmen als sie, und sie verwünschte die Ungerechtigkeit Gottes, lehnte den Kopf an die Wand und schluchzte vor Neid und Sehnsucht nach dem rauschenden Leben, nach nächtlichen Maskeraden, gewagten Vergnügungen und all den Tollheiten, die sie nicht kannte, die es aber doch sicher gab.

Sie wurde zusehends blasser und litt an Herzklopfen. Charles verordnete ihr Baldrian und Kampferbäder. Aber alles, was man versuchte, schien sie nur noch mehr zu reizen.

An manchen Tagen redete sie ohne Unterlaß mit einer fieberhaften Geschwätzigkeit, und auf diese Exaltiertheit folgte im nächsten Augenblick wieder ein Zustand völliger Stumpfheit, in dem sie keines Wortes und keiner Regung fähig war. Einigermaßen beleben konnte sie sich dann nur dadurch, daß sie sich eine Flasche Kölnischwasser über die Arme goß.

Da sie sich ständig über Tostes beklagte, glaubte Charles, daß die Ursache ihrer Krankheit in irgendwelchen örtlichen Einflüssen zu suchen sei, und begann ernsthaft daran zu denken, sich anderswo niederzulassen.

Von da an trank sie Essig, um mager zu werden; ein kleiner trockener Husten stellte sich ein, und der Appetit verschwand völlig.

Es fiel Charles nicht leicht, Tostes nach vierjährigem Aufenthalt aufzugeben, und gerade jetzt, da er festen Fuß gefaßt hatte. Aber wenn es sein mußte, in Gottes Namen! Er brachte sie nach Rouen, um seinen ehemaligen Lehrmeister zu konsultieren. Der stellte ein nervöses Leiden fest und verordnete Luftveränderung.

Nach vielen Anfragen hier und dort brachte Charles schließlich in Erfahrung, daß sich in Yonville-l’Abbaye, einem größeren Marktflecken im Arrondissement Neufchâtel, der dort ansässige Arzt, ein polnischer Emigrant, in der vergangenen Woche aus gewissen Gründen aus dem Staube gemacht habe. Er schrieb also an den Apotheker des Ortes, um zu erfahren, wieviel Einwohner Yonville habe, wie weit entfernt der nächste Kollege säße, wieviel sein Vorgänger jährlich verdient habe und dergleichen mehr, und da die Antworten zufriedenstellend ausfielen, beschloß er, im Frühjahr umzusiedeln, wenn sich Emmas Gesundheit bis dahin nicht gebessert haben sollte.

Eines Tages, als sie, schon mit Vorbereitungen für den Umzug beschäftigt, in einer Schublade kramte, stach sie sich mit etwas in den Finger.

Es war ein Stückchen Draht von ihrem Brautbukett. Die Orangenknospen waren grau von Staub und die Atlasbänder mit den Silberfransen schon ganz ausgefasert an den Rändern. Sie warf es ins Feuer. Es flammte rascher auf als trocknes Stroh. Einen Augenblick glühte es noch wie ein kleiner feuriger Dornbusch, dann sank es in sich zusammen. Sie schaute zu, wie es verbrannte. Die kleinen Beeren aus Pappe platzten, die Drähte krümmten sich, die Silberfransen schmolzen, die verkohlten Blütenblätter schwebten wie schwarze Schmetterlinge am Kaminblech empor und flatterten schließlich durch den Rauchfang davon.

Als sie im März aus Tostes fortzogen, war Frau Bovary schwanger.

Madame Bovary

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