Читать книгу Madame Bovary - Gustave Flaubert, Gustave Flaubert - Страница 5
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ОглавлениеWir waren im Arbeitszimmer bei den Schulaufgaben, als der Direktor eintrat. Ihm folgte ein Neuer, der hoch „Zivil“ trug, und ein Schuldiener mit einem großen Pult. Wer gerade schlief, wachte auf, und alle sprangen von den Plätzen und taten, als seien sie mitten aus der eifrigsten Arbeit herausgerissen worden.
Der Direktor winkte ab: Setzen! und wandte sich dann an den Klassenlehrer.
„Herr Roger“, sagte er halblaut, „hier ist ein Schüler, den ich Ihrer Obhut empfehle. Er kommt zunächst mal in die Quinta. Wenn seine Leistungen und sein Betragen entsprechend sind, soll er zu den Großen aufrücken, zu denen er seinem Alter nach gehört.“
Der Neue, der in der Ecke hinter der Tür stehengeblieben war, so daß man ihn kaum sah, war ein Junge vom Lande, etwa fünfzehn Jahre alt und größer als wir alle. Er trug die Haare über der Stirn geradegeschnitten wie ein Dorfkantor und sah ganz verständig aus, nur sehr verlegen. Obgleich er nicht breitschultrig war, schien ihm seine grüne, mit schwarzen Knöpfen besetzte Tuchjacke doch zu eng unter den Achseln zu sein. Durch den Schlitz der Ärmelaufschläge schauten rote Handgelenke hervor, denen man ansah, daß sie für gewöhnlich unbedeckt waren. Seine Beine, die in blauen Strümpfen steckten, kamen aus einer gelblichen, von den Trägern übermäßig straff gespannten Hose. Er trug derbe, schlecht geputzte Nagelschuhe.
Man begann mit dem Vorlesen der Schularbeiten. Der Neue war ganz Ohr, aufmerksam wie bei der Predigt, und wagte weder die Beine übereinanderzuschlagen noch den Ellbogen aufzustützen. Als um zwei Uhr die Glocke läutete, mußte ihn der Klassenlehrer erst eigens auffordern, mit uns anzutreten.
Es war bei uns Brauch, beim Eintritt ins Klassenzimmer unsere Mützen auf den Boden zu schleudern, um die Hände frei zu haben; und zwar mußte man sie gleich von der Tür aus so unter die Bank feuern, daß sie bis an die Wand sausten und möglichst viel Staub aufwirbelten. Das gehörte zum „Schick.“
Entweder hatte der Neue dieses Manöver nicht bemerkt, oder er wagte nicht, gleich mitzumachen – jedenfalls war das Gebet schon beendet, als er seine Mütze noch immer auf den Knien hielt. Es war dies eine jener nicht näher zu bezeichnenden Kopfbedeckungen, die aus den verschiedenartigsten Elementen zusammengebaut sind, eine Mischung aus Bärenmütze, Tschapka, Filzhut, Pelzbarett und Zipfelmütze, kurz, eines jener bedauernswerten Dinge, deren stumme Häßlichkeit einen so unergründlich anblickt wie das Gesicht eines Idioten. Eiförmig und durch Fischbeinstäbchen versteift, kamen erst drei wurstartige Wülste, dann folgten, durch rote Einfassungen voneinander getrennt, rautenförmig Flicken aus Samt und Kaninchenfell, darüber eine Art Beutel, der oben von einem mit verzwickter Bortenstickerei überzogenen Vieleck aus Pappe abgeschlossen wurde, von dem an einer langen, unverhältnismäßig dünnen Schnur eine kleine Troddel aus Goldfäden herabhing. Die Mütze war neu, denn ihr Schirm glänzte noch.
„Steh auf!“ sägte der Klassenlehrer.
Er stand auf, seine Mütze fiel herunter. Die ganze Klasse fing an zu kichern. Er bückte sich, um sie aufzuheben. Ein Nachbar schubste sie mit dem Ellbogen wieder runter; er hob sie abermals auf.
„So trenne dich doch endlich von deinem Helm“, sagte der Lehrer, der ein Mann von Humor war.
Das darauf losplatzende Gelächter brachte den armen Jungen so aus der Fassung, daß er nicht wußte, ob er die Mütze in der Hand behalten, sie auf dem Boden liegenlassen oder sich auf den Kopf stülpen sollte. Schließlich setzte er sich hin und legte sie auf seine Knie.
„Steh auf“, begann der Lehrer wieder, „und sage mir, wie du heißt.“
Der Neue stieß stammelnd einen unverständlichen Namen hervor.
„Noch mal!“
Wieder ließ sich unter dem Hohngeschrei der Klasse das gleiche Silbengehaspel vernehmen.
„Lauter!“ rief der Lehrer. „Lauter!“
Da faßte der Neue einen verzweifelten Entschluß, riß seinen Mund überweit auf und schrie aus vollem Halse, als wolle er jemanden rufen: „Scharbovari!“
Mit einem Schlage erhob sich ein Spektakel und wuchs zum Orkan an; spitze Stimmen schrillten dazwischen, man heulte, bellte, trampelte und echote immer wieder: „Scharbovari! Scharbovari!“, bis das Getöse schließlich in einzelne Ausrufe verebbte und sich nach und nach legte. Nur hie und da zischte hoch auf einer Bank ein halbersticktes Lachen auf, ähnlich wie ein Schwärmer, der am Verlöschen ist.
Unter dem Hagel von Strafarbeiten, der auf die Klasse niederprasselte, trat wieder Ruhe ein, und nachdem es dem Lehrer endlich gelungen war, den Namen Charles Bovary zu verstehen, indem er ihn sich buchstabieren und dann nochmals vorsprechen ließ, befahl er dem armen Schlucker sogleich, sich auf die Faulenzerbank dicht vor dem Katheder zu verfügen. Charles Bovary setzte sich in Bewegung, zögerte jedoch noch, seinen Platz zu verlassen.
„Was suchst du denn?“ fragte der Lehrer.
„Meine Mü . . .“, brachte der Neue schüchtern hervor und schaute mit unruhigen Blicken um sich.
„Fünfhundert Verse die ganze Klasse!“
Dieser Satz, von wütender Stimme gedonnert, erstickte wie das Quos ego einen neuen Sturm im Keim.
„So gebt doch Ruhe!“ fuhr der entrüstete Schulmeister fort und wischte sich mit dem Taschentuch, das er unter seinem Käppchen hervorholte, den Schweiß von der Stirn. „Und du, der Neue da, du wirst mir zwanzigmal aufschreiben ,ridiculus sum‘.“ Dann fuhr er mit milderer Stimme fort: „Na, und deine Mütze wirst du schon wiederfinden; gestohlen hat sie keiner.“
Alles war wieder still. Die Köpfe beugten sich über die Hefte, und der Neue verharrte zwei Stunden lang in mustergültiger Haltung, ungeachtet dessen, daß ihm von Zeit zu Zeit eine Papierkugel, von einer Federspitze abgeschnellt, ins Gesicht flog. Er wischte sich jedesmal nur mit der Hand ab und blieb mit niedergeschlagenen Augen unbeweglich sitzen.
Am Abend holte er im Arbeitszimmer seine Ärmelschoner aus seinem Pult, brachte seinen kleinen Kram in Ordnung und liniierte sorgfältig sein Papier. Wir sahen, daß er mit großer Gewissenhaftigkeit arbeitete, alle Vokabeln im Wörterbuch nachschlug und sich viel Mühe gab. Sicherlich hatte er es auch hur dem guten Willen, den er bekundete, zu verdanken, daß er nicht in eine niedrigere Klasse kam, denn wenn er auch leidlich seine Regeln konnte, so war er doch ganz ungewandt in Stil und Ausdruck; er war nur durch den Pfarrer seines Dorfes in die Anfangsgründe des Latein eingeführt worden, weil ihn seine Eltern aus Sparsamkeitsgründen erst so spät wie möglich in die Schule geschickt hatten.
Sein Vater, Charles-Denis-Bartholomée Bovary, ein ehemaliger Stabsarzt, war um 1812 in Durchstechereien bei Rekrutenaushebungen verwickelt worden und hatte seinen Abschied nehmen müssen. Daraufhin hatte er seine persönlichen Vorzüge ausgenutzt und sich beiläufig in den Besitz einer Mitgift von sechzigtausend Francs gesetzt, die sich ihm in der Person der Tochter eines Mützenfabrikanten bot, der er mit seinem Auftreten den Kopf verdreht hatte. Ein schöner Mann, ein Renommist, der sporenklirrend daherkam, den Schnurrbart so trug, daß er in den Backenbart überging, die Finger stets mit Ringen schmückte und sich in auffallende Farben kleidete, vereinte er das Aussehen eines schneidigen Soldaten mit der schwungvollen Gewandtheit eines Geschäftsreisenden. Nach der Heirat lebte er zwei, drei Jahre von dem Vermögen seiner Frau, aß gut, stand spät auf, rauchte aus großen Porzellanpfeifen, kam abends erst nach Schluß des Theaters nach Hause und saß Tag für Tag in den Cafés. Dann starb der Schwiegervater, der nur wenig hinterließ. Empört darüber, verlegte sich Bovary nun selber auf die Fabrikation, setzte aber nur Geld dabei zu und zog sich aufs Land zurück, wo er den Verlust wieder herauswirtschaften wollte. Da er jedoch vom Ackerbau nicht mehr verstand als von Mützen und Mützentuchen, seine Pferde selber ritt, statt sie aufs Feld zu schicken, seinen Apfelwein selber trank, statt ihn zu verkaufen, das beste Geflügel seines Hofes aufaß und seine Jagdstiefel mit dem Speck seiner Schweine schmierte, dauerte es nicht lange, bis er merkte, daß es mit dem Herauswirtschaften auch nichts war.
Schließlich fand er in einem Dorf an der Grenze zwischen Caux und der Picardie ein Anwesen, halb Bauernhof, halb Herrenhaus, das er für zweihundert Francs jährlich mietete. Dorthin zog er sich mit fünfundvierzig Jahren zurück, vergrämt, von Reue geplagt, mit seinem Schicksal hadernd und auf alle Welt neidisch. Die Menschen ekelten ihn an, erklärte er, er wolle in Frieden leben.
Seine Frau hatte ihn in der ersten Zeit ihrer Ehe rasend geliebt und sein Herz durch tausend demütige Unterwürfigkeiten zu gewinnen versucht, die aber nur bewirkten, daß er sich noch mehr von ihr abwandte. Von Natur heiter, mitteilsam und liebevoll, war sie mit zunehmendem Alter – so wie abgestandener Wein sich in Essig verwandelt – reizbar, weinerlich und nervös geworden. Sie hatte anfangs, ohne sich zu beklagen, unsäglich gelitten, wenn sie mit ansehen mußte, wie er hinter jeder Dorfdirne herlief und abends abgestumpft und nach Fusel riechend aus irgendwelchen üblen Lokalen heimkam. Dann war es darüber zu heftigen Szenen gekommen, später aber empörte sich ihr Stolz, und sie schwieg dazu; sie schluckte ihren Kummer hinunter und hüllte sich in einen stummen Stoizismus, den sie bis an ihren Tod bewahrte. Sie war ständig in irgendwelchen Angelegenheiten unterwegs. Sie lief zu den Rechtsanwälten, zum Gericht; sie dachte daran, wenn Wechsel fällig waren, und erwirkte Zahlungsaufschub. Zu Haus plättete, nähte und wusch sie, beaufsichtigte die Arbeiter und beglich die Rechnungen, während der Herr Gemahl, ohne sich um irgend etwas zu kümmern, immer nur mißgelaunt und schläfrig am Kamin hockte, rauchte und in die Asche spuckte und aus seinem Dösen nur aufwachte, um seiner Frau etwas Gehässiges zu sagen.
Als sie ein Kind bekam, mußte sie es zu einer Amme geben. Nachdem der Kleine wieder ins Elternhaus zurückgebracht worden war, wurde er verwöhnt wie ein Prinz. Die Mutter fütterte ihn mit Süßigkeiten; seih Vater, den Philosophen à la Rousseau spielend, ließ ihn barfuß gehen und behauptete, eigentlich müsse er ganz nackt herumlaufen wie die Jungen der Tiere. Im Gegensatz zu den Ansichten der Mutter schwebte ihm ein gewisses Ideal von Männlichkeit vor, nach dem er seinen Sohn zu modeln versuchte. Spartanisch sollte der Junge erzogen werden, damit er recht stark und abgehärtet werde. Er ließ ihn im ungeheizten Zimmer schlafen, Rum mußte der Bengel trinken lernen, in großen Schlucken wie ein Mann, und sich über die Prozessionen lustig machen, das gehörte auch dazu. Da der Kleine jedoch von Natur friedfertig war, schlug diese Methode nicht recht an. Seine Mutter hatte ihn immer am Schürzenbändel. Sie schnitt ihm Pappfiguren aus, erzählte ihm Geschichten und unterhielt sich mit ihm in endlosen, melancholisch spaßigen, kindlich geschwätzigen Selbstgesprächen. Vereinsamt und in ihren Lebenserwartungen getäuscht, übertrug sie jetzt alle ihre Hoffnungen auf den Knaben. Sie träumte von hohen Stellungen, sah ihn schon als schönen, klugen jungen Mann vor sich, wohlbestallt bei der Straßen- und Brückenbauverwaltung oder bei der Stadtbehörde. Sie lehrte ihn lesen und brachte ihm sogar ein paar Lieder bei, die sie auf ihrem alten Klavier begleitete. Alles das erklärte Herr Bovary, der nicht viel vom Lernen hielt, für nicht der Mühe wert. Würden sie denn jemals in der Lage sein, den Jungen auf eine höhere Schule zu schicken oder ihm ein Amt oder ein Geschäft zu kaufen? Im übrigen: „Mit ein bißchen Maulwerk kommt einer sowieso schon durch die Welt.“ Frau Bovary biß sich auf die Lippen, und der Junge trieb sich im Dorf herum.
Er lief den Feldarbeitern nach und scheuchte die Krähen mit Erdklumpen auf. Er aß von den Brombeeren an den Rainen, hütete wohl auch einmal mit der Gerte in der Hand die Truthühner, half beim Heuwenden oder streifte im Wald umher. An Regentagen spielte er unter dem Kirchenportal Murmeln, und an den hohen Feiertagen bettelte er den Küster, ihn die Glocken läuten zu lassen. Dann hängte er sich mit seinem ganzen Gewicht an das Seil und ließ sich von seinem Schwung mittragen.
Bei all dem wuchs er auf wie eine Eiche, bekam starke Hände und eine gesunde Farbe.
Als er zwölf Jahre alt war, setzte seine Mutter endlich durch, daß er Unterricht erhielt. Man beauftragte damit den Pfarrer. Die Stunden waren jedoch so kurz und wurden so unregelmäßig gehalten, daß nicht viel dabei herauskam; sie wurden meist nur so nebenbei in der Sakristei erteilt, in aller Eile, im Stehen, zwischen einer Taufe und einer Beerdigung. Manchmal auch ließ der Herr Pfarrer, wenn er nicht ausgehen mußte, seinen Schüler abends nach dem Angelus zu sich kommen; dann stiegen sie hinauf in sein Zimmer und setzten sich zurecht. Nachtfalter und Fliegen tanzten um die Kerze. Es war heiß; der Junge schlief ein und bald auch der gute Mann, der nun, die Hände auf dem Bauch gefaltet, mit offenem Munde schnarchte. Manchmal wieder, wenn der Herr Pfarrer einem Kranken in der Umgebung die letzte Wegzehrung gebracht hatte und auf dem Heimweg Charles erwischte, der sich gerade auf dem Feld herumtrieb, rief er ihn heran, redete ihm ein Viertelstündchen ins Gewissen und benutzte die Gelegenheit dazu, ihn rasch unterm nächsten besten Baum ein Verb konjugieren zu lassen, wobei sie denn freilich des öfteren durch den Regen oder durch einen vorbeikommenden Bekannten unterbrochen wurden. Im übrigen war er immer mit ihm zufrieden und meinte sogar, der „junge Mann“ habe ein vortreffliches Gedächtnis.
So ging das nicht weiter mit Charles. Seine Mutter wurde energisch. Beschämt oder vielmehr des Sträubens müde, gab der Vater den Widerstand auf. Man wartete noch ein Jahr, bis der Junge die Erstkommunion hinter sich hatte.
Dann vergingen nochmals sechs Monate, und im Jahr darauf wurde Charles endgültig auf das Gymnasium nach Rouen geschickt. Sein Vater brachte ihn gegen Ende Oktober zur Zeit des Saint-Romain-Jahrmarkts selbst hin.
Es wäre heute wohl keinem von uns mehr möglich, sich noch irgendwie besonders an ihn zu erinnern. Er war ein ziemlich ruhiger Junge, der in der Freizeit spielte, im Arbeitszimmer fleißig büffelte, in der Klasse aufmerksam zuhörte, im Schlafsaal gut schlief und im Speisesaal tüchtig aß. Ein Bekannter seiner Eltern, ein Kurzwarenhändler aus der Rue Ganterie, der es übernommen hatte, sich ein bißchen um ihn zu kümmern, ließ ihn allmonatlich einmal an einem Sonntag nach Ladenschluß zu sich kommen, führte ihn am Hafen spazieren, wo er sich die Schiffe anschauen konnte, und brachte ihn, sobald es sieben Uhr war, noch vor dem Abendbrot wieder ins Gymnasium zurück. Jeden Donnerstag abend schrieb Charles mit roter Tinte einen langen Brief an seine Mutter, den er mit drei Oblaten verschloß. Dann vertiefte er sich wieder in seine Geschichtshefte oder las wohl auch in einem alten Exemplar des „Anacharsis“, das im Arbeitszimmer herumlag. Bei den Schulspaziergängen unterhielt er sich am liebsten mit dem Hausdiener, der auch vom Lande war.
Dank seinem Fleiß hielt er sich immer in der Mitte der Klasse; einmal kam er in Naturkunde sogar auf den ersten Platz. Am Ende des dritten Schuljahres nahmen ihn seine Eltern jedoch wieder von der Schule, um ihn Medizin studieren zu lassen; sie waren überzeugt, er würde sich allein bis zum Examen durchbringen.
Seine Mutter mietete ihm bei einem ihr bekannten Färber am Eau-de-Robec ein Zimmer im vierten Stock, gab ihn dort auch in Kost, beschaffte einen Tisch und zwei Stühle, ließ von daheim ein altes Bett aus Kirschbaumholz kommen und kaufte außerdem noch einen kleinen Eisenofen nebst einem Holzvorrat, damit ihr armes Kind nicht zu frieren brauchte. Dann fuhr sie Ende der Woche wieder ab, nachdem sie ihm noch tausendmal ans Herz gelegt hatte, sich jetzt, da er ganz auf sich allein gestellt sei, recht brav zu halten.
Das Verzeichnis der Vorlesungen, das er am Schwarzen Brett las, verursachte ihm ein Schwindelgefühl: Anatomie, Pathologie, Physiologie, Pharmazeutik, Chemie, Botanik, klinischer und therapeutischer Kurs, ganz abgesehen von Hygiene und Diätetik – lauter Namen, bei denen er sich nicht einmal über ihre sprachliche Herkunft klar war und die ihm wie ebenso viele Pforten zu Heiligtümern voll erhabenen Dunkels vorkamen.
Er verstand anfangs gar nichts; er konnte noch so eifrig zuhören, er begriff einfach nicht. Trotzdem arbeitete er, füllte eifrig die Kolleghefte und versäumte keine Vorlesung und keine Visite. Er erledigte sein tägliches Pensum wie ein Zirkuspferd, das mit verbundenen Augen immer im Kreise herumläuft und keine Ahnung hat, wobei es eigentlich mitmacht.
Um ihm Ausgaben zu ersparen, schickte ihm seine Mutter jede Woche durch einen Boten ein Stück Kalbsbraten, von dem er morgens frühstückte, wenn er auf einen Sprung aus der Klinik kam. Dann mußte er zu den Vorlesungen rennen, in die Anatomie, wieder in die Klinik und wieder heim durch alle die Straßen. Abends stieg er nach dem mageren Essen bei seinem Wirt in sein Zimmer hinauf und setzte sich in seinen durchgeschwitzten Kleidern, die ihm am Leibe dampften, vor dem glühenden Ofen an die Arbeit.
An den schönen Sommerabenden, um die Stunde, da die lauwarmen Straßen leer sind und die Dienstmädchen vor den Türen Federball spielen, öffnete er sein Fenster und lehnte sich hinaus. Unter ihm floß zwischen Brücken und Wehren, gelbviolett oder blau schillernd, der kleine Fluß, der diesen Teil von Rouen zu einem schmuddeligen Klein-Venedig macht. Am Ufer hockten Arbeiter, die sich die Arme im Wasser wuschen. An langen, aus den Speicherluken ragenden Stangen waren Baumwollsträhnen zum Trocknen aufgehängt. Vor ihm dehnte sich über den Dächern der klare, weite Himmel, an dem die Sonne rotleuchtend unterging. Wie schön mußte es jetzt daheim sein! Und wie frisch im Buchenwald! Er atmete tief, als spüre er die gute Landluft, die doch nicht bis zu ihm kam.
Er magerte ab; seine Gestalt ging in die Länge, und sein Gesicht nahm einen schmerzlichen Ausdruck an, der es beinahe interessant machte.
Wie nicht anders zu erwarten war, ließ er nach und nach aus Lässigkeit alle seine guten Vorsätze fahren. Einmal versäumte er die Visite, das nächstemal die Vorlesung, und schließlich behagte ihm die Faulheit so gut, daß er überhaupt nicht mehr hinging.
Er gewöhnte sich an, in die Kneipe zu gehen und mit Leidenschaft Domino zu spielen. Sich allabendlich in einem schmutzigen Lokal festzusetzen und mit schwarz punktierten Hammelknöchelchen auf Marmortischen herumzuklappern, schien ihm ein glorreicher Akt männlicher Freiheit, der ihn in seiner eigenen Ächtung steigen ließ. Das kam ihm vor wie die Einführung in die große Welt, wie der Zugang zu verbotenen Freuden, und schon wenn er eintrat, legte er die Hand mit einer fast wollüstigen Empfindung auf die Türklinke. Viel Verdrängtes in ihm entfaltete sich nun; er lernte allerlei Gassenhauer auswendig, die er bei Gelegenheit vortrug, begeisterte sich für Béranger, machte sich die Geheimnisse des Punschbrauens zu eigen und entdeckte schließlich auch die Liebe.
Dank dieser Vorbereitungen fiel er im medizinischen Staatsexamen glatt durch. Und am selben Abend erwartete man ihn daheim, um seinen Erfolg zu feiern!
Er machte sich zu Fuß auf, und als er am Eingang des Dorfes angelangt war, ließ er seine Mutter herbeirufen und beichtete ihr alles. Sie verzieh ihm, schob die Schuld auf die Ungerechtigkeit der Examinatoren, sprach ihm Mut zu und übernahm es, die Angelegenheit ins reine zu bringen.
Erst fünf Jahre später erfuhr Herr Bovary die Wahrheit. Da war schon Gras darüber gewachsen, und er regte sich nicht mehr auf, denn es war ja doch nicht denkbar, daß sein Sprößling ein Dummkopf sein sollte.
Charles setzte sich also wieder an die Arbeit; er wich nun keinen Augenblick mehr von seinen Büchern und paukte sich die Antworten auf sämtliche nur erdenklichen Fragen ein. Er bestand mit einer leidlichen Note. Das war ein Freudentag für seine Mutter und wurde mit einem großen Festessen gefeiert.
Wo sollte er nun seine Kunst ausüben? In Tostes. Dort gab es nur einen alten Arzt, auf dessen Tod Frau Bovary schon seit langem lauerte. Der alte Herr hatte denn auch kaum sein Bündel fürs Jenseits geschnürt, als sich Charles bereits ihm gegenüber als Nachfolger niederließ.
Doch nicht genug damit, daß sie ihren Sohn aufgezogen, ihm das Studium ermöglicht und eine Praxis für ihn gefunden hatte – nun mußte er auch noch eine Frau haben. Auch die fand sie für ihn, und zwar in der Witwe eines Gerichtsvollziehers aus Dieppe, die fünfundvierzig Jahre alt war und zwölfhundert Francs Zinsen jährlich zu verzehren hatte.
Obgleich Frau Dubuc, dürr wie eine Hopfenstange, alles andere als schön war und in ihrem Gesicht so viele Pickel sprossen wie Blüten im Lenz, war sie doch eine begehrte Partie, und Frau Bovary mußte, um zu ihrem Ziel zu kommen, erst eine ganze Schar anderer Freier aus dem Felde schlagen, wobei sie sehr geschickt sogar die Ränke eines Metzgermeisters vereitelte, dessen Werbung von der Geistlichkeit unterstützt wurde.
Charles hatte gehofft, sich durch die Heirat ein angenehmeres Leben zu schaffen, und sich eingebildet, er werde nun freier über sich und sein Geld verfügen können. Statt dessen zeigte sich bald, daß seine Frau der Herr im Hause war. Sie schrieb ihm vor, was er vor den Leuten sagen und was er nicht sagen durfte. Sie zwang ihn, jeden Freitag zu fasten und sich zu kleiden, wie sie es für richtig hielt. Sie war hinterher, daß er säumige Patienten mit Mahnungen verfolgte. Sie öffnete seine Briefe, überwachte seine Gänge, und wenn Frauen bei ihm in der Sprechstunde waren, horchte sie an der Wand.
Sie mußte jeden Morgen ihre Schokolade haben und nahm tausend Rücksichten für sich in Anspruch. Ewig hatte sie zu klagen: bald waren es die Nerven, bald die Brust, bald der Kopf. Das Geräusch von Schritten tat ihr weh. Ging man von ihr fort, stöhnte sie über die Einsamkeit, kam man zu ihr, so hieß es, man könne wohl nicht erwarten, sie sterben zu sehen. Wenn Charles abends heimkehrte, streckte sie ihre langen, hageren Arme unter der Bettdecke hervor, umschlang ihn und zog ihn auf den Bettrand nieder. Dann ging das alte Lied an: er vernachlässige sie, er liebe eine andere! Man habe ihr ja vorausgesagt, sie würde unglücklich werden! Zum Schluß bat sie ihn jedesmal um einen Löffel Sirup für ihre Gesundheit und um ein bißchen mehr Liebe.