Читать книгу Wer auf dich wartet - Gytha Lodge - Страница 10
6. April – Neunzehn Monate vorher
ОглавлениеSeit Ginas Hochzeit wurde Zoe täglich in wahllosen Abständen von plötzlicher Erregung gepackt; beim Malen, beim Radfahren, in Vorlesungen oder im Gespräch mit Freunden. Sie konnte ihr Lächeln kaum unterdrücken, jedes Mal wenn ihr etwas einfiel, was Aidan ihr geschrieben hatte, oder sein Gesichtsausdruck in der Bar, als er sich schließlich von ihr verabschiedet hatte, in den langen Sekunden, bevor er sich vorgebeugt und sie geküsst hatte.
Gott, was für ein Kuss. Elektrisierend. Muskelerweichend. Alles, was ein Kuss sein sollte.
So hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt. Alle ihre früheren Beziehungen hatten mit intensiven Gesprächen über die traurigsten Momente in ihren Leben begonnen. Keine mit der ständigen Lust zu lachen. Es war nur ganz miserables Timing, dass Aidan zehn Tage weg gewesen war. Bis gestern hatte sie sich mit Mails, Nachrichten und gelegentlichen Skype-Chats begnügen müssen. Aber nun war endlich Donnerstag, am Abend würde sie ihn treffen, und sie war aufgekratzt, als sollte sie einen Preis bekommen.
Aidan hatte ein Hotelzimmer gebucht, damit er nicht nach Hause »in die Wildnis von Alton« fahren musste, und dieses Hotelzimmer hatte sich ein paarmal in ihre Gedanken geschlichen. So lief das normalerweise nicht bei ihr. In der Regel brauchte sie Zeit, um jemanden kennenzulernen und das Gefühl zu entwickeln, dass eine gemeinsam verbrachte Nacht der natürliche nächste Schritt war. Aber mit Aidan … mit Aidan fühlte sie sich wie ein vollkommen anderer Mensch. Wie eine Frau, die impulsiv war, bereit, aus einer Laune heraus alles zu wagen.
Als sie die Haustür aufschloss, dachte sie gerade wieder an jenen Kuss und wurde deshalb völlig auf dem falschen Fuß erwischt, als sie in den Wohnbereich weiterging und Maeve in der Küche entdeckte, die offensichtlich geweint hatte, bleicher war, als Zoe sie jemals gesehen hatte, und mit ruckartigen Schritten in der Küche auf und ab ging.
»Hey«, sagte Zoe und stellte ihre Tasche auf einem der Sessel ab. »Alles in Ordnung?«
»Mir geht es … Die Schweine in der Kirche haben … sie haben Lügen über mich verbreitet«, sagte Maeve, bevor sie sich abwandte, um ihre Tränen zu verbergen.
»Was?« Zoe ging zu ihr und blieb vor ihr stehen, unsicher, ob sie sie umarmen sollte. Sie wusste, dass Maeve es unter normalen Umständen nicht gefallen würde, womöglich gefiel es ihr sogar noch weniger, wenn sie wirklich aufgewühlt war. Zoe entschied sich für ein kurzes Schulterreiben. »Hey, wenn sie lügen, können wir etwas dagegen tun. Das können sie nicht einfach so machen.«
»Sie haben es schon überall verbreitet!« Maeve drehte sich wieder um und blickte, um die Tränen zu zurückzuhalten, zur Decke. »Es … es war schrecklich, alle waren so seltsam, dass ich wusste, dass … dass irgendwas im Busch war. Und dann hat Alison … Alison hat mir erzählt, dass Isaacs Frau etwas gesagt hat …«
Einen Moment lang war Zoe zu schockiert, um zu antworten. »Was …? Aber du bist ihr nie begegnet! Wie kann sie sich über dich beklagen?«
Maeve schüttelte den Kopf und wischte sich mit dem Ärmel die Augenwinkel. »Ich weiß nicht.«
»Hat sie deine Nachrichten gesehen?«, fragte Zoe, und ihr Magen zog sich zusammen. In ihren Textnachtrichten hatte Maeve ihr Herz ausgeschüttet. Sie hatte Zoe einige davon gezeigt. Wenn Isaacs Frau es herausbekommen hatte … Nun, dann würden beide nicht gut aussehen, aber am Ende war es nie der Ehebrecher, der in der Tinte saß. Es war immer die andere Frau, die von allen verurteilt wurde. Jedenfalls nach Zoes Erfahrung.
Nicht dass es ein richtiger Ehebruch gewesen war, weil Maeve Sex vor der Ehe ablehnte. Die beiden hatten nie mehr getan, als sich zu küssen, und auch das nur zweimal, wonach Isaac erklärt hatte, er würde sich deswegen sehr schlecht fühlen.
Zoe war sich nicht sicher, ob sie ihm glaubte, so fest Maeve es auch tat. Er war nicht nur verheiratet, sondern auch Pastor ihrer Kirche. Ein Glaubensführer. Er hätte sich nie mit einer Studentin einlassen dürfen. Und er hätte sie ganz bestimmt nicht hinhalten und ihr erklären dürfen, dass er seine Frau und seine Kinder verlassen würde, um mit ihr zusammen zu sein, ohne es je wirklich wahrzumachen.
Die ganze Geschichte hatte Zoe maßlos frustriert. Nachdem sie eine Stunde lang zugehört hatte, wie Maeve den Mann verteidigte, war sie zu dem Schluss gekommen, dass Isaac ein Arschloch war. Und selbst wenn er ein geringfügig besserer Mensch sein sollte, als Zoe glaubte, und es tatsächlich ernst meinte, wenn er davon sprach, seine Frau zu verlassen, wünschte sie, dass Maeve willensstärker wäre. Immerhin ging es um eine Familie, die sie zerstören würde. Um Kinder. Es war so verkehrt.
Und dann war alles besser geworden. Maeve hatte die Sollbruchstelle erreicht und Isaac erklärt, dass sie die Nase voll hatte. Sie hatte Zoe gegenüber beteuert, dass es vorbei war. Sie hatte sich mit anderen Männern verabredet und über andere Dinge geredet. Es schien ihr besser zu gehen. Warum passierte das jetzt? War es bloß ein dummer Zufall?
»Was hat sie gesagt?«
Maeve schüttelte erneut den Kopf, riss etwas von der Küchenrolle ab und schnäuzte sich die Nase. »Tut mir leid. Ich bin so … so erbärmlich …«
»Sei nicht albern!«, sagte Zoe. »Manchmal muss man weinen. Man kann nicht optimistisch sein, wenn das Leben einen mit Scheiße bewirft.«
»Aber ich bin immer optimistisch«, jammerte Maeve fast wie ein kleines Kind. »Selbst nachdem er mich auf einen blöden Kaffee eingeladen und mir dann erklärt hat, er könne nicht aufhören, an mich zu denken, bin ich stark geblieben. Und dann … dann erzählt sie überall herum, ich sei eine Verführerin.«
»Oh, Maeve«, sagte Zoe. »Er hat nicht zugegeben, dass es seine Schuld war?« Eigentlich brauchte sie die Frage gar nicht zu stellen.
»Ich weiß nicht«, sagte Maeve. »Er geht nicht ans Telefon.«
Zoe verzog das Gesicht. Wenn Maeve ihn dauernd anrief, würde sie nur noch zwanghafter wirken. »Hör mal«, sagte sie. »Wenn er … wenn er ihr erzählt hat, alles wäre von dir ausgegangen, um sich so auf deine Kosten rauszureden, ist das beschissen von ihm. Es ist verständlich, aber trotzdem beschissen. Bitte gib nicht allen anderen außer ihm die Schuld.«
»Das tue ich auch nicht«, sagte Maeve. »Wirklich nicht. Aber er hat es ihnen nicht erzählt. Sie war es …«
Zoe spürte eine vertraute Mutlosigkeit, als Maeve wieder in das Muster glitt, Isaacs Frau für alles verantwortlich zu machen. Einer Frau, der genau wie ihr unrecht getan worden war.
Sie blickte an Maeve vorbei und sah, dass es viel später war, als sie gedacht hatte. Sie hatte nur noch eine halbe Stunde, um sich fertig zu machen, bevor sie das Haus verlassen musste, wenn sie pünktlich zu ihrem Treffen mit Aidan kommen wollte. Da sie noch duschen und die Haare föhnen musste, wäre das auch ohne ein Gespräch mit Maeve knapp geworden. Und sie konnte sie jetzt nicht einfach stehenlassen.
»Ich mach uns einen Tee«, erklärte sie entschieden, »und dann überlegen wir, was wir machen können, damit das Gerede aufhört.«
Während sie den Kessel aufsetzte, schickte sie Aidan eine Nachricht.
Kleine Krise hier. Können wir unser Treffen eine halbe Stunde nach hinten schieben? Tut mir wirklich leid. Erkläre später alles. xx
Sie goss gerade Milch in den Tee, als Aidan antwortete.
Ich bin sicher, das ist nur eine List, um mich warten zu lassen. Aber ich werde es tun. Du bist es wert. xx PS Rede dich nicht heiser. Ich will von dir alles über dich wissen.
Zoe lächelte erleichtert und machte sich daran, Maeve den Tee einzuflößen.
Sie kam trotzdem noch ein paar Minuten zu spät. Sie wollte spektakulär aussehen, aber anders spektakulär als auf der Hochzeit, also hatte sie sich ein schwarzes Kleid und einen Oversized-Pullover gekauft, der, wie sich herausstellte, einen Flecken hatte, den sie rausschrubben musste. Das Augen-Make-up, für das sie sich entschieden hatte, war eine Mischung aus Ice-White und Hot Pink und nicht gerade leicht aufzutragen.
Schließlich war sie, fünf Minuten bevor sie bei Brown’s sein sollte, aus dem Haus gestürzt, eine zwölfminütige Radfahrt vor sich. Auf dem Weg aus der Tür hatte sie Maeve zugewinkt, die auf dem Sofa zusammengerollt Frühstück bei Tiffany guckte und schon deutlich weniger elend aussah. Zoe zog ihr Rad aus dem Seitengang, brauste los und machte im Fahren das Licht an.
Aidan saß an der Bar und studierte die Speisekarte, als sie hereinstürmte. Mit seinen dunklen, in die Stirn fallenden Locken und den wie zu einem Ausdruck leichter Belustigung geformten Lippen war er im Profil leicht zu erkennen. Gott, er war schön. Einfach schön. Sie spürte ein Kribbeln.
Er blickte zu ihr auf und lächelte freundlich. Gefährlich. »Unbedingt des Wartens wert«, sagte er, stand auf und küsste sie. Seine Lippen streiften nur kurz die ihren, doch die Berührung schien sich durch alle Nerven fortzusetzen und einen Punkt irgendwo in der Mitte ihres Unterleibs zu treffen.
»Ich habe uns Gin bestellt«, sagte er, als er sich von ihr löste. »Leider habe ich ein Lokal ausgesucht, das offenbar keine Jägerbombs ausschenkt.«
Grinsend streifte Zoe ihre Tasche von der Schulter und setzte sich. »Durchgefallen. Aber wir können später bestimmt noch irgendwo anders hingehen.«
»Das klingt wie einer dieser Abende, nach denen ich am nächsten Morgen unerklärlicherweise krank bin und meine Seminare verpasse«, sagte er.
»Seminare?«, fragte sie, beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie. »Bist du ein überreifer Student?«
Aidan schüttelte den Kopf. »Schlimmer. Ein unreifer Dozent.«
Zoe stieß ein kleines schockiertes Lachen aus. »O nein! Das ist wie … nein, schlimmer als Politiker. Du bist einer von ihnen.«
»Alles klar«, entgegnete er und nahm ihr mit dem verschmitzten Lächeln, das sie schon kannte, ihren Gin Tonic weg, »den nehm ich zurück.«
»Nein, nicht! Den brauche ich!« Sie streckte lachend die Hand aus, doch er hielt das Glas außerhalb ihrer Reichweite.
»Leuten, die mich mit Politikern vergleichen, spendiere ich keine Drinks«, sagte er.
»Na gut, na gut«, sagte Zoe. »Du bist nicht so schlimm wie ein Politiker. Außer du bist Dozent für Politikwissenschaft, dann …«
»Nicht ganz«, sagte er mit einem Kopfschütteln. »Wirtschaft. Bin ich zugelassen?«
»Ooh, also richtig klug«, sagte sie mit einem Grinsen. »Ja, du bist zugelassen.«
Nachdem sie ihren Drink zurückhatte, fragte sie ihn ein wenig ernster: »Aber du hast nichts dagegen? Du weißt schon, mit einer Studentin auszugehen?«
»Ich unterrichte dich schließlich nicht, oder?«, fragte er achselzuckend. »Und du bist ja auch nicht gerade eine milchgesichtige kleine Achtzehnjährige. Du bist … sechsundzwanzig, hast du gesagt, richtig? Praktisch schon eine ältere Dame.«
»Alles klar. Ich rede nicht mehr mit dir«, sagte sie.
»Doch«, erwiderte er. »Ausführlich. Du hast es versprochen.«
Bis sie an ihrem Tisch platziert wurden, hatte er ihr bereits Maeves komplette Geschichte sowie die Langfassung von Victors seltsamen Anwandlungen entlockt. Die Art, wie er nachdenklich zuhörte, Fragen stellte und umsichtige Vorschläge machte, gefiel ihr. Er gab ihr das Gefühl, als wäre all das jetzt auch sein Problem.
Danach war sie bei ihrem Vater gelandet, seiner Alkoholsucht, die er vor ihrer Mutter verbarg, und den Anlässen, bei denen sie zu seiner Rettung hatte eilen müssen.
»Ist es nicht unfair, dass er sich auf dich verlässt?«, fragte Aidan am Ende sanft. »Du bist schließlich die Tochter. Also, ich finde, er sollte sich um dich kümmern.«
Zoe zuckte die Schultern und lächelte knapp und verlegen. »Ich brauch niemanden, der sich um mich kümmert.«
Es hatte etwas Köstliches, wie Aidan langsam nickte und sagte: »Das werden wir sehen.«
Irgendwann drehte sie den Spieß um und fragte ihn über sein Leben aus; sie erfuhr von der Mutter, für die nichts jemals gut genug gewesen war, die Freundinnen, die er gewählt hatte, weil sie ihn an sie erinnerten, von ihrem Tod und seiner komplizierten Trauer.
»Findest du, dass ich bin wie sie?«, fragte Zoe.
»Nein«, sagte Aidan lächelnd und mit leuchtenden Augen. »Du bist überhaupt nicht wie sie. Und ich glaube, dass ich dieses Trauma vielleicht endlich überwunden und eine gewählt habe, die tatsächlich gut für mich ist.«
Es hätte peinlich sein sollen, doch das war es nicht. Stattdessen spürte sie eine Wärme von innen und einen leichten Schwindel.
Es schien unvermeidlich, dass sie von dem Restaurant zu Aidans Hotelzimmer gingen, sich langsam gegenseitig auszogen und ihre Körper verschmelzen ließen.
»Mein Gott, du bist wundervoll«, murmelte er danach und aus irgendeinem Grund standen beiden Tränen in den Augen.