Читать книгу Wer auf dich wartet - Gytha Lodge - Страница 9

5.

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Linda McCullough war kurz nach dem Team der Spurensicherung in der Wohnung eingetroffen, und sobald sie die Schwelle überschritten hatte, fühlte Jonah sich besser. Die Hampshire Constabulary konnte sich ungemein glücklich schätzen, eine Forensikerin zu haben, die nicht nur jeden Tatort persönlich in Augenschein nehmen wollte, sondern neben ihrem Abschluss in Kriminaltechnik auch noch studierte Biologin und Chemikerin war.

Außerdem konnte man gut mit ihr zusammenarbeiten. Ihr unerschütterlicher Humor und ihre staubtrockene Art waren unschätzbar, und Jonah hatte gelernt, sich auf ihr Urteil und ihr Auge fürs Detail zu verlassen. Er wusste nur zu gut, wie viele seiner Fälle ohne sie nie zur Anklage gekommen wären.

»Versuchen Sie, nicht im Weg rumzustehen, Sheens«, sagte McCullough mit einem knappen Lächeln, nachdem sie ihnen ein Stück Plastikplane zugewiesen hatte, auf das sie sich stellen sollten.

»Ich werde mir alle Mühe geben«, erwiderte Jonah im gleichen Ton. »Irgendwelche Neuigkeiten vom Gerichtsmediziner?«

»Er hat gesagt, er wäre in zwanzig Minuten hier.« McCullough blickte auf ihre Uhr. »Das heißt, er müsste in fünf Minuten ankommen. Wir fangen hier draußen an. Ich warte, bis er da ist, bevor ich mir die Leiche ansehe.«

»Auf der Arbeitsplatte stehen mehrere Gläser, bei denen ich an Fingerabdrücken oder DNA-Spuren interessiert wäre«, sagte Jonah und wies mit dem Kopf Richtung Küche.

»Das kann ich mir vorstellen.« McCullough setzte einen Mundschutz auf und ging an ihm vorbei in die Küche.

Jonahs Telefon klingelte. Der schrille Weckruf verriet ihm, dass der Detective Chief Superintendent ihn erreichen wollte.

»Ist das allen Ernstes Ihr Klingelton?«, fragte McCullough, drehte sich um und starrte ihn ungläubig an.

»Nur für Wilkinson«, antwortete er lächelnd und nahm den Anruf entgegen. »Sir«, meldete er sich und trat in den Flur.

»Ich habe gehört, Sie haben eine neue Mordermittlung aufgenommen?«, fragte der DCS und klang höflich interessiert.

»Da haben Sie richtig gehört. Obwohl ich mein Urteil darüber, ob es ein Mord war, noch aufschieben möchte. Es sieht nach Selbstmord aus, aber der Freund des Opfers behauptet, die Tat während eines Skype-Anrufs beobachtet zu haben. Ich bin jetzt am Tatort, und der Gerichtsmediziner sollte jede Minute eintreffen.« Er zögerte. »War es okay für Yvonne, dass ich die Sache übernommen habe?«

»Ja, natürlich. Das ist kein Fall für sie«, sagte der DCS. »Allerdings sind wir angehalten, den Erpressungsfall endlich abzuschließen.«

»Verstanden«, sagte Jonah. »Ich werde die Hälfte meines Teams weiter daran arbeiten lassen.«

»Klar«, erwiderte Wilkinson trocken. »Das sind dann exakt anderthalb Mann.«

»Genau, Sir«, sagte Jonah mit einem Grinsen, obwohl niemand da war, der es sehen konnte.

»Okay. Halten Sie mich auf dem Laufenden.«

Das war das Gute an Wilkinson, dachte Jonah, als er das Gespräch beendete. Der DCS war stets geneigt, Jonahs Entscheidungen zu vertrauen.

Als er das Handy einsteckte, öffnete sich die Tür zum Treppenhaus, und ein Mann Mitte dreißig in Anzug und Krawatte tauchte auf. Der Gerichtsmediziner, nahm er an, obwohl sie sich noch nicht begegnet waren. Bis jetzt hatte bei Jonahs Fällen immer der deutlich ältere und weniger eifrig wirkende Dr. Stephen Russell die Untersuchungen durchgeführt. Jonah fragte sich, ob dies ein jüngerer Kollege war, der vielleicht auf seine Chance zu glänzen gewartet hatte.

Es war wahrscheinlich irrelevant, aber Jonah war trotzdem leicht besorgt. Sie hatten es mit dem Tatort eines potenziellen Mordes zu tun, der vordergründig wie ein Selbstmord aussah. Falls sie in einem Mordfall ermittelten, war Präzision vonnöten. Und erst recht ein Gerichtsmediziner, der vor Gericht überzeugend klingen würde.

Übersehen Sie bloß nichts, dachte Jonah, als er ihm zunickte.

Jonahs Sorgen erwiesen sich als unbegründet. Dr. Peter Shaws Untersuchung war so methodisch und gewissenhaft, wie Jonah es sich nur wünschen konnte, und seine Kommentare strahlten eine ruhige Autorität aus.

Eine Beobachtung interessierte Jonah besonders, und das war das Fehlen sichtbarer Blutspuren um die Badewanne. Wenn die junge Frau angegriffen und nach unten gedrückt worden war, würde man Blutflecken erwarten, bemerkte der Gerichtsmediziner. Und wahrscheinlich auch im ganzen Badezimmer Spritzer von blutgetränktem Badewasser.

»Das deutet also eher auf einen Selbstmord hin«, meinte Jonah, unsicher, was er davon halten sollte.

»Ja, aber es könnte auch andere Gründe geben«, erwiderte der Gerichtsmediziner.

Als er sich vorbeugte und dicht am Mund der Toten schnupperte, wurde Jonah kurz übel.

»Interessant. Ein deutlich wahrnehmbarer chemischer Geruch.« Er stellte den Koffer mit seiner Ausrüstung neben die Wanne und zog ein kleines Plastikröhrchen mit hellblauem Deckel heraus. »Ich werde einen Abstrich machen.«

»Können Sie näher definieren, was Sie mit ›chemisch‹ meinen?«, fragte Jonah, während der Gerichtsmediziner den Deckel abschraubte und das kleine Wattestäbchen herauszog.

»Nun, zum jetzigen Zeitpunkt lässt sich die Substanz nur schwer bestimmen, aber es ist auf jeden Fall ein markantes Aroma. Leicht süßlich, aber beißend.«

»Es könnte nicht etwas sein, das sie gegessen hat?«

»Das glaube ich nicht«, sagte er und strich mit dem Wattestäbchen über Zoes Haut. Er nahm ein zweites Stäbchen und wiederholte den Vorgang behutsam in ihren Nasenlöchern. »Ich vermute, etwas aus der Chloroform-Familie.« Er richtete sich auf und sah sich um. »Das könnte das Fehlen von Kampfspuren erklären, und wenn es zutrifft, wäre ein Selbstmord ausgeschlossen.«

»Wie lange dauert es, bis wir das Ergebnis haben?«

»Normalerweise bis nach dem Wochenende, aber vielleicht könnte Ihre Forensikerin …«

»Ich bin sicher, sie kann uns helfen«, sagte Jonah grinsend. Vielleicht würde McCullough nicht besonders begeistert davon sein, ihren Freitagabend im Labor zu verbringen, aber er wusste, dass sie es trotzdem machen würde.

Juliette Hanson war erleichtert, dass der Gerichtsmediziner seine Untersuchung bereits beendet hatte, als sie am Tatort eintraf. Das Team der Spurensicherung bereitete gerade Zoes Abtransport vor.

Nicht Zoe, dachte sie. Die Leiche. Nur die Leiche.

Aber bei aller Erleichterung wollte sie genauso viel Einblick haben wie der DCI und O’Malley, deshalb nahm sie sich, während McCullough Sheens die diversen Fingerabdrücke und Fußspuren erläuterte, die Kamera des forensischen Fotografen und scrollte durch die Fotos.

Selbst auf den kleinen Bildern war der Anblick verstörend. Die blutleeren Arme, das krasse Rot im Kontrast zu der weißen Wanne. Sie sah, was der DCI gemeint hatte, als er von fehlenden Spritzern gesprochen hatte. Bis auf eine lange, schmale getrocknete Spur, die vom Messer den Wannenrand hinunterlief, war Blut nur in dem dunkelroten Wasser zu erkennen, das beinahe fest wirkte.

Sie klickte weiter zu verschiedenen Ansichten des Badezimmers. Die vierte zeigte das Waschbecken. Auf dem Wannenrand stand deutlich sichtbar eine Medikamentenpackung.

Sie konnte das Etikett nicht lesen, aber als sie weiterklickte, fand sie eine Nahaufnahme. Das Rezept für das Medikament, aufgedruckt auf das Etikett, war auf Zoe Swardadine ausgestellt, 7,5 mg Zopiclone, einzunehmen einmal täglich.

»Haben Sie das gesehen?«, fragte sie Sheens. »Zoe nahm Zopiclone.«

Der DCI blickte auf das Display. »Ja«, sagte er. »Ich wollte es nachschlagen.«

Hanson wurde rot, als sie sagte: »Es ist ein Schlafmittel. Ich habe es während des Studiums manchmal genommen. Ich hatte damals Schlafprobleme.«

Der DCI nickte. »Ist das Rezept aktuell?«

»Ausgestellt vor einer Woche«, sagte Hanson mit einem Blick auf das Datum. »Und es ist unwahrscheinlich, dass sie es schon viel länger eingenommen hat. Wenn man es zu lange nimmt, wirkt es nicht mehr. Nicht mehr als vier Wochen, hat man mir gesagt.«

Sheens nickte erneut. »Interessant.«

Sonst gab es auf den Fotos aus dem Bad nicht viel zu sehen. Sie erkannte die Post-its und Pfeile, wo das Team der Spurensicherung eine Reihe von Fingerabdrücken auf der Türklinke, am Wannenrand und an der Wand markiert hatte.

Sie ging wieder zu ihrem Chef, der jetzt neben McCullough vor der Wohnungstür kauerte und weitere Abdrücke betrachtete. Die Fingerabdrücke waren um das Schloss und den Türknauf verteilt, und die winzigen Post-its sahen aus wie bunte Wimpel.

Sheens richtete sich auf und wandte sich ihr zu. »Ein Yale-Schloss.«

»Das heißt, die Tür war entweder angelehnt«, erwiderte Hanson, »oder der Mörder hatte einen Schlüssel.«

Victor stellte sein Rad in dem kleinen Hinterhof des Cafés ab, genervt vom Knirschen der Pedale. Das ging jetzt schon seit Wochen so und wurde immer schlimmer. Aber er dachte nur daran, es reparieren zu lassen, wenn er gerade damit fuhr. Außerdem war das Rad sowieso Schrott. Er überlegte, es zu verticken und sich ein neues zu kaufen.

Er öffnete den Personaleingang auf der Rückseite und nickte Mieke zu, die in der engen Vorratskammer des Lokals Kisten hin und her schob.

»Hey, Victor. Hältst du das mal eben?«, fragte sie und drückte ihm eine in Plastik eingewickelte Palette Kaffeebohnen in die Arme. »Ich muss nur kurz …«

Er stand da, während sie diverse Objekte hin und her rückte.

»Das reinste Chaos«, sagte sie gereizt. »Und ich hatte heute Morgen keine Zeit für Chaos.«

»War es sehr voll?«, fragte Victor und verlagerte das Gewicht der Kaffeebohnen in seinen Armen, die wegen der rutschigen Verpackung schwer zu halten waren.

»Nicht übermäßig voll, aber ich war allein«, sagte Mieke. »Hast du irgendwas von Luca gehört? Zoe ist nicht gekommen.«

Victor war plötzlich unbehaglich zumute. »Ist sie krank?«, fragte er heiser.

»Uns hat sie jedenfalls nichts davon gesagt«, antwortete seine Kollegin, nahm ihm endlich die Kaffeebohnen ab und legte sie auf einen Stapel Kisten. »Sie ist einfach nicht gekommen und geht auch nicht ans Telefon. Ich dachte, Lucas hätte dich gebeten, früher zu kommen.«

»Er hat nichts gesagt«, erwiderte Victor und räusperte sich. »Ich schicke Zoe eine SMS. Das sieht ihr gar nicht ähnlich.«

»Findest du? Wenn ich mich recht erinnere, kam das letztes Jahr ständig vor, als ihr neuer Typ sie um den Schlaf gebracht hat.«

Grummelnd schloss Mieke die Vorratskammer ab. Victor wollte Zoe verteidigen, doch er hatte diese Zeit selbst gehasst. Die Vorstellung, dass sie überhaupt mit jemandem zusammen war, hatte ihn … was? Erzürnt? Verletzt? Sein Herz gebrochen?

All das, dachte er, als er seine Tasche vom Rücken auf den Bauch schwang und sein Handy herauszog. All das.

Was er seinen Studenten hier lieferte, war quälend schlecht, das wusste Aidan. Aber er konnte sich einfach nicht konzentrieren. Drei- oder viermal hatte er sich dabei ertappt, wie er in dem Lehrbuch geblättert hatte ohne eine Ahnung, was er suchte oder sagen wollte. Als er aufblickte, merkte er, dass seine Studenten ihn mit unterschiedlichen Mienen ansahen. Einige schienen besorgt. Andere gaben sich sichtlich Mühe, nicht zu lachen.

»Tut mir leid«, sagte er schließlich. »Ich habe mörderische Kopfschmerzen. Ich bin offen für alle Beiträge, die die Diskussion in eine fruchtbarere Richtung lenken.«

Das löste Gelächter aus, und dann fragte Leena, eine seiner Lieblingsstudentinnen, mitfühlend: »Möchten Sie eine Nurofen?«

»Ist schon okay …«, sagte er und merkte, dass er klang wie die Leute, die er hasste. Die über Kopfschmerzen klagten, dann aber erklärten, sie würden »keine Schmerztabletten nehmen«. Was sie seinetwegen auch gerne lassen konnten, solange sie einräumten, dass sie damit jedes Recht auf Gejammer verwirkt hatten. »Nein, ähm, das wäre ehrlich gesagt super«, verbesserte er sich, ohne zu wissen, warum es ihn überhaupt kümmerte, welchen Eindruck er heute machte. Er wartete, während Leena die Tabletten aus ihrer Tasche kramte und sie geräuschvoll aus der Plastikverpackung in seine Hand drückte.

Sie lächelte schüchtern, und er bedankte sich mit einem Nicken.

»Okay«, sagte er, als sie sich wieder gesetzt hatte. »Ideen. Mal sehen, wer heute besser ist als ich.«

Dann summte sein Telefon, und Angst stieg in ihm auf. Er zog es aus der Tasche, bemüht, die roten Kapseln, die er immer noch nicht geschluckt hatte, nicht fallen zu lassen. Auf dem Display leuchtete eine Nummer, die er nicht kannte.

»Entschuldigen Sie, da muss ich kurz rangehen«, wandte er sich an die Studenten, die ihn unsicher musterten. In einer einzigen Bewegung stand er auf und nahm das Gespräch an. »Hallo?«

Er war auf dem Weg zur Tür, als eine Männerstimme fragte: »Spreche ich mit Aidan Poole?«

»Ja«, sagte er, ging hinaus und zog die Tür hinter sich zu, während er weiter das Gefühl hatte, seine Beine und Arme würden in zäher Flüssigkeit treiben.

»Hier ist DCI Jonah Sheens, Hampshire Constabulary. Sie haben gemeldet, dass Sie Zeuge einer Gewalttat an Ihrer Freundin Zoe Swardadine waren?«

Einen Moment lang war er unsicher, was er sagen, unsicher, ob er es leugnen sollte. Aber sie hatten ihn angerufen. Sie wussten, wer er war.

»Ja«, antwortete er. »Das stimmt. Ist sie …?«

»Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Zoe unter ungeklärten Umständen zu Tode gekommen ist«, erklärte der Mann ruhig. »Ich weiß, das ist bestimmt eine erschütternde Nachricht.«

»Ja«, sagte er noch einmal und klang selbst in seinen eigenen Ohren wie ein dämliches Echo. »Ja, ich …«

Er wusste nicht, was er sonst sagen sollte, doch der Polizist redete weiter. Er bat ihn, ins Kommissariat zu kommen.

»Okay«, sagte er. »Ich unterrichte bis … ich schätze, ich könnte um sechs Uhr dort sein, wenn …«

Und er meinte: Wenn ich das ertrage.

»Sechs passt gut«, sagte der Polizist. »Vielen Dank, Mr Poole.«

Dann war er mit dem Rauschen des Blutes in seinen Ohren wieder allein. Sein Blick fiel auf die bonbonroten Nurofen in seiner Hand, und er schluckte sie in der irrationalen Hoffnung, sie könnten ihm helfen.

Anschließend ging er langsam zurück in den Seminarraum und setzte sich auf seinen Stuhl vor die Studenten. Er hatte Mühe, sie anzusehen. Oder eigentlich, seinen Blick auf irgendetwas zu fokussieren.

»Gut. Ich werde tun, was ich schon früher hätte tun sollen, und das Seminar an einem Tag wiederholen, an dem mehr mit mir anzufangen ist.« Wieder gab es Gelächter, und er sagte: »Sie hören von mir. Genießen Sie die vierzig Minuten unvermuteter Freiheit. Und nutzen Sie sie gut.«

Hal und einige der anderen eher arbeitsscheuen Studenten waren sofort verschwunden, die meisten anderen folgten zügig. Leena nahm sich mehr Zeit, ihre Sachen einzupacken, und sagte: »Ich hoffe, Sie fühlen sich schon besser.«

»Danke«, erwiderte Aidan und nickte ihr zu. Er brachte es nicht über sich, sie wie sonst anzulächeln. Sie lief dann meistens rot an, und er fand es herzerwärmend, dass er diese Wirkung auf eine hübsche Neunzehnjährige hatte.

Sie ging, und eine Minute lang herrschte in dem Seminarraum vollkommene Stille. Er lauschte den leiser werdenden Gesprächen der Studenten auf dem Flur.

Dann beugte er sich auf seinem Stuhl vor, bis sein Kopf fast die Knie berührte, sackte weiter in sich zusammen, sodass sein ganzer Körper zur Seite kippte, rutschte tiefer und tiefer und brach in Tränen aus.

»Und wie lautet unser Matchplan?«, fragte Hanson, nachdem Jonah das Gespräch mit Aidan Poole beendet hatte. Sie standen immer noch herum, während das Team der Spurensicherung seine Arbeit fortsetzte.

O’Malley steckte sein Handy ebenfalls ein, und Jonah fragte sich, ob der Sergeant etwas nachgesehen oder nur aus Langeweile im Netz gesurft hatte.

»Ich möchte, dass Sie Zoes Freundin Angeline anrufen, die einen Schlüssel besitzt und uns in die Wohnung gelassen hat. Vielleicht weiß sie, ob es noch mehr Schlüssel gibt, außerdem hätte ich von ihr gern eine Liste von Zoes Freunden. Sie ist ein wenig fragil, also …«

Hanson nickte. »Ich werde behutsam vorgehen.«

»Und anschließend die Überwachungskameras, in Ordnung?«

»Klar.«

»Domnall, könnten Sie mit der Überprüfung der Familie und des Freundes beginnen? Und wenn Sie die Kontaktdaten von Zoes anderen Freunden von Juliette bekommen haben, suchen Sie die bitte auch auf.«

»Das heißt, wir glauben, der Freund, der es gemeldet hat, könnte es in Wahrheit selbst gewesen sein?«, fragte O’Malley.

»Achtzig Prozent aller Frauen«, sagte Hanson bedeutungsvoll und zog ihr Telefon aus der Tasche, um Angelines Nummer einzugeben. Jonah musste lächeln. Sie hatten in der Woche zuvor über diese Erkenntnis gesprochen. Die Tatsache, dass vier von fünf ermordeten Frauen von einem Partner getötet wurden, hatte Schlagzeilen gemacht, und die Studie war eine Bestätigung dafür gewesen, wie sie ihre Mordermittlungen angingen. Man nahm sich immer den Partner vor. Immer.

»Statistisch gesehen, ist es weniger wahrscheinlich, wenn sich herausstellt, dass er zu dem Zeitpunkt tatsächlich von zu Hause aus mit ihr geskypt hat«, wandte O’Malley grinsend ein.

Jonah bemerkte, dass sie alle davon ausgingen, es mit einem Mord zu tun zu haben. Nach Aidan Pooles Anruf und dem chemischen Geruch schien das mehr oder weniger eine gegebene Tatsache zu sein. Trotzdem bereitete es Jonah Unbehagen. Voreilige Schlüsse waren ihm zutiefst zuwider.

McCullough rief ihn vom Eingang der Wohnung, und er kehrte zu ihr zurück. »Nichts Dramatisches, aber ich habe die Dose gefunden, aus der das Messer stammt. Wir haben die Fingerabdrücke gesichert, danach habe ich hineingeschaut, und es ist definitiv die richtige.«

Er folgte ihr zu einem aufgeklappten Karton in einer Ecke der Wohnung, in dem eine offene Metalldose stand, darin ein leerer Umriss in Hartschaum, in dem das Messer gelegen hatte.

»War die Dose offen, als Sie sie gefunden haben?«

»Nein. Sie war geschlossen und säuberlich in dem Karton verstaut«, antwortete McCullough.

»Ziemlich ordentlich«, sagte Jonah.

»Für einen Mörder?«, fragte McCullough. »Sie meinen, wenn jemand es wie Selbstmord aussehen lassen wollte, hätte er die Schachtel offen liegen lassen, um deutlich zu machen, dass es ihr Messer ist?«

»Möglich«, sagte Jonah, der sich nicht zu irgendwelchen Schlüssen verlocken lassen wollte. Es zählte zu McCulloughs größten Freuden, brillante Theorien von übertrieben selbstgewissen Beamten abzuschießen. »Aber für einen Selbstmord wäre es auch ziemlich ordentlich. Es sagt uns also nicht viel. Es ist bloß merkwürdig.«

»So sind die Menschen, habe ich festgestellt« sagte McCullough. »Selbst die nichtkriminellen.«

Angeline erwies sich als schwierig. Juliette rief sie aus dem Erdgeschoss des Gebäudes an, wo sie sich auf eine Fensterbank gesetzt hatte und ein Notebook auf dem Schoß balancierte. Angeline weinte offensichtlich schon, als sie ans Telefon ging.

»Ich muss Sie nur ein paar Dinge fragen«, sagte Hanson in beruhigendem Tonfall. »Mein DCI sagt, dass Sie einen Schlüssel zu Zoes Wohnung haben. Gibt es dafür einen besonderen Grund?«

»Damit ich ihren Kater füttern kann.« Angeline schluchzte unvermittelt laut los. »O Gott. Was ist mit ihm passiert? Ich habe nicht … Vielleicht hat die Polizei ihn rausgelassen, und er ist … er ist überfahren worden oder …«

»Ich schaue nach ihm«, erwiderte Juliette rasch. »Schon gut. Wie heißt er?«

»Monkfish«, sagte Angeline mit bebender Stimme. »Es ist eine Perserkatze.«

»Ist er … weiß?«, erkundigte Juliette sich, deren Kenntnis über Katzen sich darauf beschränkte, diejenigen zu streicheln, die ihre Freunde zufällig besaßen.

»Ja«, bestätigte Angeline. »Wie … wie Blofelds Katze, hat Zoe immer gesagt.«

»Danke«, sagte Juliette und notierte das ohne besonderen Grund ebenfalls. »Hatte sonst noch jemand einen Schlüssel?«

»Nein«, antwortete Angeline. »Ich glaube nicht … Oh, vielleicht Felix.«

»Felix?«, fragte Juliette und dachte kurz an eine weitere Katze.

»Der Vermieter.«

»Ah, verstehe. Haben Sie seine Adresse?«

»Er wohnt unten.«

»In dem Stockwerk unter Zoe?«, fragte Juliette und dachte, dass das ziemlich unüblich war.

»Ja«, sagte Angeline. »Ich weiß seine Apartmentnummer nicht, aber … wenn Sie sich auf dem Treppenabsatz im ersten Stock rechts halten, ist es die erste Tür auf der linken Seite.«

»Das ist wirklich hilfreich, vielen Dank«, sagte Juliette in einem Tonfall, den man gegenüber einem Kind anschlagen würde. »Hatte sie außer Ihnen noch andere enge Freunde?«

»Ja. Maeve. Sie hat früher mit ihr zusammengewohnt. Und Victor. Aus dem Café.«

»Dem Café? Hat sie in einem Café gearbeitet?«

»Ja«, sagte Angeline, und ihre Stimme brach erneut. »Sie hätte heute Morgen dort sein sollen.«

»Es tut mir leid«, war alles, was Juliette sagen konnte, bevor sie nach den Telefonnummern der beiden fragte, die Angeline ihr bereitwillig nannte, obwohl Juliette hören konnte, dass sie nach wie vor kaum beieinander war.

»Oh«, sagte Angeline plötzlich. »Ich bin mir nicht sicher, ob das Victors aktuelle Nummer ist. Er hat eine neue und … ich vergesse immer, sie zu speichern.«

»Ich probiere es einfach«, erklärte Juliette ihr. »Keine Sorge. Nur noch eine letzte Frage, und dann können wir Sie für eine Weile in Frieden lassen. Wann haben Sie Zoe zum letzten Mal gesehen, und welchen Eindruck hat sie gemacht?« Das waren eigentlich zwei Fragen, doch Angeline schien es nicht zu bemerken.

»Gestern Vormittag«, antwortete sie. »Ich muss immer wieder daran denken … ich war wütend auf sie. Ich wollte ihr Modell stehen, und sie … sie hat mich verletzt, und je länger ich darüber nachdenke, desto mehr glaube ich, dass sie das gar nicht getan hat, sondern … ich war einfach dumm!«

»Inwiefern?«, fragte Juliette. Die Antwort sprudelte ausnahmsweise förmlich aus Angeline heraus, sodass Juliette sich fragte, ob sie darauf gewartet hatte, dieses kleine Geständnis zu machen.

»Sie hat gesagt, es sei meine … meine Gebrochenheit, die sie an mir mögen würde. Wenn ich ihr für ihre Zeichnungen oder Gemälde Modell gesessen habe. Und das hat wehgetan. Ich dachte, sie würde mir sagen, dass ich schön bin.«

»War das … ungewöhnlich für Zoe? Dass sie schroff war?«

Es entstand eine Pause, bevor Angeline sagte: »Ja. Also … ich weiß nicht. In letzter Zeit vielleicht nicht.«

»Sie meinen, dass sie sich in letzter Zeit verändert hatte?« Juliette wartete. »Dass sie wütender oder unfreundlicher geworden war?«

»Irgendwie schon. Ich weiß nicht. Sie hat sich einfach zurückgezogen, wissen Sie.«

»Gab es einen Grund dafür?«

Wieder zögerte Angeline, bevor sie mit zittriger Stimme sagte: »Diese Beziehung hat sie wirklich beschädigt. Ich meine, er war nett zu ihr, aber gleichzeitig fühlte sie sich seinetwegen auch schlecht.«

»Ist er … in irgendeiner Weise ausfällig oder gewalttätig geworden?«

»Nein, nein«, erwiderte Angeline hastig. »Das will ich damit nicht sagen. Nur … manchmal sind Menschen einfach nicht gut für einander.«

Im Wagen ließ Domnall O’Malley den Chef in Ruhe nachdenken. Er hatte schon vor langer Zeit gelernt, den DCI nicht zu stören, wenn der sich alle Details durch den Kopf gehen ließ. Und auch O’Malley war es lieber, wenn die ersten Eindrücke sich ungestört setzen konnten.

Im CID marschierte Sheens direkt in sein Büro. Lightman war gegangen, vermutlich um seine Pläne für den Abend zu verfolgen, was immer er vorhatte, und auch sonst waren an einem Freitagnachmittag um kurz vor fünf nicht mehr viele andere Detectives da. Es herrschte die Art Ruhe, die entweder der Konzentration förderlich war oder lähmend wirkte.

O’Malley erweckte seinen Computer zum Leben, loggte sich in die Datenbank ein und suchte nach möglichen Vorstrafen aller Personen, die ihnen im Zusammenhang mit dem Fall bislang namentlich untergekommen waren. Er begann mit Zoes Eltern, fand jedoch auch mit diversen Varianten der Schreibweise ihres Namens keinen Eintrag, weshalb er mit Aidan Poole weitermachte, der ebenfalls eine reine Weste hatte.

Angeline Judd tauchte hingegen zu O’Malleys kurzer Erregung im System auf, wie sich herausstellte, handelte es sich jedoch lediglich um einen Verweis wegen Besitzes von Marihuana im Alter von fünfzehn Jahren. Sie war mit einer Gruppe Freundinnen aufgegriffen worden, und die Sache war folgenlos geblieben. O’Malley machte sich eine Notiz, glaubte jedoch nicht, dass es für den Fall von Bedeutung war.

Da auch seine weiteren Abfragen ergebnislos blieben, versuchte er es im Netz. Angeline schien dort nur minimal präsent zu sein, mit Ausnahme von Twitter, wo sie moderat aktiv war. Die meisten ihrer Posts handelten davon, dass sie sich traurig oder betrogen fühlte. In den anderen kamen vor allem Kätzchen vor, was nur wenig Rückschlüsse auf mögliche mörderische Absichten zuließ. Aber als er einige ihrer eher morbiden Einträge von vor ein paar Monaten anklickte, sah er, dass Zoe Swardadine einer der ganz wenigen Menschen gewesen war, die ihr geantwortet hatten. Die Grundbotschaft war immer die gleiche: Halte durch. Sei stark. Du wirst geliebt. Alles wird gut.

Aber im Laufe der Monate waren Zoes Antworten sporadischer geworden, was O’Malley ihr kaum verdenken konnte.

Aidan Poole hingegen war online sehr viel präsenter. Der oberste Treffer war eine Seite des Lehrpersonals der Southampton University. O’Malley öffnete sie und sah sich dem irgendwie düsteren Porträt eines dunkelhaarigen Mannes gegenüber. Es war seitlich von oben aufgenommen, eine künstlerische Fotografie, die Poole auf eine mürrische Art attraktiv aussehen ließ, über die O’Malley leise lachen musste. Denn was das Bild weniger vermittelte, war Professionalität, aber vielleicht hatte Aidan das Foto nicht selbst ausgesucht.

O’Malley las den kurzen Lebenslauf und erfuhr, dass Aidan Poole seinen Abschluss in Warwick gemacht hatte, wo auch Juliette Hanson studiert hatte. Aber dazwischen lagen gut fünfzehn Jahre, sodass diese Verbindung wahrscheinlich ziemlich nutzlos war.

Ansonsten bot die Seite wenig von Interesse, sodass er weitersuchte und es mit einem Eintrag der Royal Economic Society probierte. Aidans Foto war dasselbe leicht mürrische Porträt, also musste Aidan es doch selbst ausgesucht haben. Darin lag eine Eitelkeit, die O’Malley sowohl interessant als auch amüsant fand.

Nachdem er außer einer Reihe wissenschaftlicher Veröffentlichungen nichts weiter gefunden hatte, wählte er die Nummern von Victor Varos und Maeve Silver. Beide gingen nicht dran, aber Hanson hatte noch aus Zoes Wohnung eine E-Mail geschickt, die auch die Adresse und Telefonnummer des Cafés Gina enthielt, wo Victor arbeitete. Dazu den Vermerk, dass er dort anzutreffen sein sollte.

Seufzend stand O’Malley wieder auf und nahm seinen Mantel und seine Schlüssel. Auf dem Weg hinaus klopfte er an die Tür des DCI.

»Ich versuche, einen der Freunde zu erwischen«, sagte er. »Soll ich unterwegs die Universität anrufen, um die Nachricht zu überbringen?«

»Das habe ich vor ein paar Minuten schon probiert«, antwortete Sheens mit einem Kopfschütteln. »Ich hatte eine Sekretärin dran, die steif und fest behauptete, dass der Dekan den ganzen Tag beschäftigt ist.«

»Ich frage mich, was ihn bewegen würde, nicht mehr beschäftigt zu sein«, sagte O’Malley und überlegte. »Wenn Sie wollen, könnte ich anrufen und sagen, bei ihm zu Hause sei eingebrochen worden.«

Sheens lachte. »Wenn er sich nicht meldet, komme ich darauf zurück.«

Von außen sah das Café Gina teuer aus, stilvoll beleuchtet mit einer Reihe von modischen Deckenlampen in Form von Glühbirnen im Retrodesign. An der Decke kreuzten sich diverse Rohre, die so niedrig hingen, dass O’Malley sich sicher war, dass sie zur Dekoration nachträglich angebracht worden waren. Vor der Tür stand eine große Tafel, auf der in Handschrift stand: »Kaffee ist wie das Leben zum Genießen da.« Ihm kam der seltsame Gedanke, dass Zoe das geschrieben haben könnte, wenn sie hier gearbeitet hatte.

O’Malley betrat das warme, helle Lokal. Von innen wirkte es ebenfalls teuer. Die Tische waren mit Absicht wackelig. Sie sollten den Anschein erwecken, dass jeder einzelne von ihnen aus einem Eichenstamm geschnitzt wurde, von jemandem, dem es ein Anliegen war, dass man die Handarbeit auch sah. Auf einer großen Tafel hinter dem Tresen standen verzierte Listen mit Speisen und Getränken. O’Malley entdeckte einen Kaffee für fast fünf Pfund.

Im Moment stand nur eine Person hinter dem Tresen, ein kleiner untersetzter Mann mit einem leicht amüsierten Gesichtsausdruck.

O’Malley trat auf ihn zu und lächelte knapp. »Ich suche Victor.«

»Oh, er ist …« Der Barista wies vage zum anderen Ende des Tresens, doch im selben Moment kam ein großer schlanker Mann mit sehr dunklem Haar und durchdringenden blauen Augen aus einer Tür zu den hinteren Räumen des Cafés.

»Victor«, sagte O’Malley. »Ich würde Sie gern kurz sprechen. Ich bin von der Polizei.«

Victor erstarrte. Irgendwo hinter ihm regte sich etwas, und eine junge weibliche Stimme mit nordirischem Akzent durchschnitt die Stille.

»Geht es um Zoe? Was ist passiert?«

O’Malley musste sich umdrehen, um sie anzusehen. Sie war direkt hinter ihm stehen geblieben. Ihr Gesicht war bis auf zwei rote Flecken auf ihren Wangen sehr weiß.

»Sind Sie mit Zoe befreundet?«

»Ja. Ich bin … ich war ihre Mitbewohnerin. Ich bin Maeve.«

O’Malley nickte ihr zu. »Ah. Ich habe versucht, Sie zu erreichen.«

»Mein Handy war …« Sie wies auf einen Tisch an der Wand, wo ein iPhone mit einem verworrenen Kabel in eine Steckdose gestöpselt war. »Was ist passiert? Ich hab Polizeiautos gesehen.«

O’Malley bedachte sie mit einem Lächeln, das er sich für das Überbringen von schlechten Nachrichten vorbehielt, und wandte sich dann an Victor. »Gibt es ein Hinterzimmer, in dem wir uns unterhalten können?«

Maeve sah verängstigt aus, aber bei Victor war es schlimmer. Genau genommen hatte sein Gesicht den Ausdruck eines Mannes, dessen Welt gerade zusammengebrochen war.

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