Читать книгу Wer auf dich wartet - Gytha Lodge - Страница 7

3.

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Der Anruf erreichte Jonah im Auto, als sie noch etwa zehn Minuten von Zoes Wohnung entfernt waren, und als er hörte, wie der Sergeant »Sir« sagte, wusste Jonah Bescheid. Sie ermittelten jetzt in einem Todesfall, und er war froh, dass O’Malley bereitgestanden hatte, ihn zu begleiten. Von seinen drei Teammitgliedern war er am meisten abgehärtet, und sie mussten sich nun auf den Tatort eines Gewaltverbrechens einstellen.

Bis Lightman und Hanson ankämen, würde es schon leichter sein. Die Kriminaltechniker würden bereits vor Ort sein mit ihren Post-its, Pfeilen und Etiketten, Utensilien, die einen sterilisierenden Effekt hatten. Es würde aussehen wie ein Labyrinth von Indizien und darüber fast vergessen lassen, dass dort ein Mensch gelitten hatte und gestorben war.

Er parkte den Mondeo in der Latterworth Road, einer vorstädtisch anmutenden Wohnstraße, die an der A35 Richtung Norden endete. Er und O’Malley waren an einer Reihe identischer Häuser aus den dreißiger Jahren vorbeigefahren: flache Erkerfenster, die obere Haushälfte weiß gestrichen, rechteckige Vorgärten. Zoes Apartmentblock war das einzige Gebäude, das aus der Reihe tanzte. Es sah aus, als wäre es auf der Fläche von zwei Doppelhäusern ohne erkennbare Rücksicht auf die ansehnliche Nachbarschaft errichtet worden. Ein ultramoderner Bau mit einer abgestuften rechteckigen Fassade, die beinahe aggressiv wirkte.

Sie wurden von einem Police Constable durchgewunken, der an der Tür stand. Eine unglaublich dünne Frau, bei der es sich um Angeline Judd handeln musste, saß mit einer Polizistin auf einer Fensterbank und hielt einen Becher Tee mit beiden Händen an die Brust gedrückt, neben sich eine Reihe zerknüllter Papiertaschentücher. Ihre Augen waren vom Weinen gerötet.

Die Polizistin nickte ihm zu, während Angeline ihn ängstlich musterte wie ein gefährliches Raubtier.

»Ich bin DCI Sheens«, sagte er und blieb vor ihr stehen. »Ich leite die Ermittlung und will herausfinden, was Zoe zugestoßen ist. Ich möchte Ihnen einige Fragen stellen, in Ordnung?«

Angeline starrte ihn an und antwortete dann: »Ja. Ja, das ist okay.«

Wenn man sie in ihrer zu großen grauen Strickjacke und den grünen Leggings betrachtete, konnte man kaum übersehen, wie hager sie war. Die Arme und Beine schienen beinahe skelettartig, und ihr unglaublich dürrer Körper ließ ihr Gesicht übergroß wirken, die riesigen Augen wie die einer Puppe, ihr kurzes flaumiges Haar kraftlos.

Jonah fragte sich, ob sie vielleicht krank war. Sie wirkte fast kindlich, was seinen Beschützerinstinkt weckte.

Er bedankte sich sanft für ihre Hilfe und sprach ihr sein Beileid aus. Schließlich erklärte sie, dass sie bereit sei, einige Fragen zu beantworten. Aber ihre Antworten bestanden hauptsächlich aus Kopfschütteln zu allem, was er auch andeutete, und dabei kullerten Tränen über ihre Wangen.

Ihres Wissens hatte Zoe keine Feinde gehabt. Keine Geldsorgen. Keinen Streit in letzter Zeit. Kein sonderbares Verhalten gezeigt.

»Sie war – so liebenswürdig«, sagte Angeline am Ende mit belegter Stimme.

Sie musste ein paarmal schlucken, bevor sie weitersprechen und Jonah erzählen konnte, dass sie Zoe von der Uni kannte.

»Studieren Sie auch Kunst?«, fragte er lächelnd.

»Oh. Nein. Ich mache … Tanz, ein Aufbaustudium fürs Lehramt.«

Ihre Antworten fielen, egal was Jonah fragte, mehr oder weniger gleich aus. Schließlich sagte er, dass er mit Zoes Freund sprechen müsse. Angelines Blick wurde klar, und sie sah ihn scharf an.

»Sie hatte … Meinen Sie Aidan?«

»Vielleicht müssen Sie uns das erklären«, sagte Jonah behutsam, während er den Namen notierte. »Zoes Freund hat uns alarmiert und gebeten, nach ihr zu sehen, aber wir wissen nicht, wie wir ihn erreichen können.«

»Ich habe seine Nummer«, sagte Angeline, zog ihr Handy aus der Tasche und las sie vor. Jonah schrieb sie in sein Notizbuch. »Ich dachte mir schon, dass sie vielleicht wieder zusammen sind«, fügte sie hinzu, und es klang, als verletzte sie das persönlich.

»Sie hatten sich getrennt?«

»Ja, schon ein paarmal.«

»Sie haben nicht zusammen gewohnt?«

Angeline schüttelte den Kopf. »Nein, sie hat allein gelebt. Früher hat sie mit einer Freundin zusammengewohnt, aber dann ist sie hierhergezogen.«

»Wann war das?«

»Im Juni … glaube ich.«

Jonah nickte langsam. »Es wäre großartig, wenn Sie in den nächsten Tagen aufs Kommissariat kommen könnten«, sagte er. »Aber fürs Erste gehen Sie am besten nach Hause und geben gut auf sich acht. Können Sie irgendjemanden anrufen …?«

Angeline nickte und brach unvermittelt wieder in Tränen aus. »Ich muss wohl meine Mum anrufen. Normalerweise – normalerweise rufe ich immer Zoe an.«

Zoes Wohnung wirkte genauso modern und unversöhnlich wie die Fassade des Gebäudes. Sie war karg möbliert, und in zwei Ecken des Wohnbereichs standen Umzugskartons. Die in Schwarz gehaltene Küche wies Spuren von Benutzung auf. Verschmierte Abdrücke auf dem Backofen. Krümel auf der Arbeitsplatte, mehrere Gläser mit Rotweinresten.

»Vielleicht hatte sie gestern Abend Besuch«, sagte Jonah leise zu O’Malley.

In der Ecke der Küche stand ein Napf mit Katzenfutter und eine Schale mit Wasser, die Katze selbst war nirgends zu sehen. Vielleicht hatte sie sich aus Angst vor der Polizei verkrochen.

Rechts neben der Tür stand ein Schreibtisch, der von einem Desktop-Computer dominiert wurde. In der unteren Ecke des Bildschirms blinkte langsam ein orangefarbenes Licht: im Ruhezustand, aber nicht ausgeschaltet. Unter dem Bildschirm lag ein Handy. Es juckte Jonah in den Fingern, doch er ließ es für die Techniker liegen.

Auf der anderen Seite des Raumes blickte ein Sofa ins Leere. Kein Fernseher. Keine Gemälde. Jenseits davon nur zwei Umzugskartons, auf einen war mit Edding »Skulpturen« geschrieben.

Das Ganze kam ihm seelenlos vor. Kahl. Ganz anders, als er sich die Wohnung einer Künstlerin vorgestellt hätte. Sie hatte seit Juni hier gelebt, hatte Angeline gesagt. Aber in diesen fünf Monaten hatte sie nicht einmal die Kisten fertig ausgepackt, geschweige denn sich eingerichtet.

Er ging zu der gegenüberliegenden Tür, die ins Schlafzimmer führte. Sie befand sich im Bad, hatten die uniformierten Kollegen berichtet. Die Tür zur Linken.

Er zwängte sich durch die offene Tür, ohne sie zu berühren, und sah Zoe in der Wanne liegen. An einem Ende ragten nur Schultern, Kopf und Oberarme aus dem Wasser, in der Mitte bildeten ihre Knie zwei winzige Inseln. Wenn ihr Verletzungen zugefügt worden waren, wurden sie von dem tiefroten Wasser verdeckt.

Eine nadeldünne Spur dunklen Bluts verlief von einem Messer mit rotem Griff auf dem Wannenrand bis ins Wasser. Ein Teppichmesser, dachte er, das Werkzeug eines Künstlers.

Sein Blick wanderte flüchtig über ihr zu einem Dutt gebundenes Haar und ihr Gesicht. Die Züge waren schlaff, die Haut war bronzefarben mit einem lila Schimmer. Die Augen waren geschlossen, doch sie sah nicht aus, als würde sie schlafen. Ihr Antlitz hatte die unverkennbare Leere des Todes.

Er spürte O’Malley hinter sich, der wartete, bis er an der Reihe war, Jonahs Platz einzunehmen.

Jonah trat einen Schritt zurück und wollte, dass O’Malley seine Gedanken in Worte fasste und sagte, auf den ersten Blick sehe es aus wie ein Selbstmord. Absolut eindeutig. Der einzige Grund, etwas anderes zu vermuten, waren zwei Meldungen, bei denen er sich nicht sicher war, ob er ihnen traute.

Sein Telefon klingelte, und er seufzte, als er die Nummer auf dem Display sah.

»Zoes Vater«, sagte er zu O’Malley. »Sehen Sie sich um, während ich mit ihm spreche.«

Er wurde nie leichter, dieses erste Gespräch mit der Familie. Zoes Vater hatte unter erstickten Tränen kaum ein Wort herausgebracht und das Telefon an seine Frau weitergereicht, die Jonah nur immer wieder gefragt hatte, warum es passiert war. Natürlich hatte er keine Antwort für sie. Das hatte er bei diesem ersten Anruf selten.

Er hatte sein Möglichstes getan, sie zu beruhigen, und ihnen versichert, dass der Tod wahrscheinlich schnell und schmerzlos eingetreten sei. Er hatte überlegt, ihnen zu erklären, dass das warme Badewasser den Prozess des Verblutens beschleunigt hatte, doch das waren Details, mit denen er sie noch nicht belasten wollte. Im Moment hatten sie genug zu verkraften.

»Bitte sagen Sie mir die Wahrheit«, hatte Zoes Mutter irgendwann verlangt. »Es ist doch kein … Sie hat sich das nicht selbst angetan, oder?«

Jonah hatte vernehmlich ausgeatmet. »Das wissen wir leider erst, wenn wir den Tatort genauer untersucht und ihre letzten Tage rekonstruiert haben.«

Er hatte sie gefragt, ob sie nach Southampton kommen wollten. Dabei hatte er an die formelle Identifizierung und all die Dinge gedacht, die er ihnen persönlich sagen musste.

»Es ist nicht notwendig, sofort herzukommen«, fügte er hinzu. »Häufig wird die Identifikation auch per Video-Link vorgenommen.« Er sagte nicht, weil es nicht so qualvoll ist.

»Nein«, hatte Zoes Mutter erklärt. »Wir wollen kommen. Sofort. So bald wie möglich.«

Während er auf die Spurensicherung wartete, überlegte Jonah, um welche praktischen Fragen er sich kümmern musste. Heute würde wahrscheinlich ein sehr langer Tag werden. Er schlug im Geist seinen Kalender auf, dankbar dafür, dass er freitagsabends nur selten Termine hatte. An Samstagen versuchte er normalerweise, seine Mutter zu besuchen, aber die war zum ersten Mal seit acht Jahren nicht da.

Es hatte ihn komplett überrascht, dass seine vom katholischen Glauben abgefallene Mutter von der örtlichen anglikanischen Gemeinde adoptiert worden war. Die Mitglieder hatten entschieden, dass sie Hilfe brauchte, was Jonah schlecht bestreiten konnte, und hatten einen Turnus von Aktivitäten und Besuchen organisiert, der die Zeit, die sie allein mit dem Alkohol verbrachte, drastisch reduziert hatte. Das Ganze war eine Riesenerleichterung für Jonah gewesen, ungeachtet der leicht vorwurfsvollen Blicke, die ihm die Kirchendamen zuzuwerfen pflegten, wenn sich ihre Wege kreuzten. Er wartete allerdings immer noch darauf, dass seine Mutter sie alle zu hassen begann. Oder dass sie sie so wüst beschimpfte, dass man ihr nicht verzeihen konnte. Sie hatte die Angewohnheit, alle Bemühungen, ihr zu helfen, zunichtezumachen. Samstag konnte er also problemlos den ganzen Tag arbeiten. Vielleicht würde er die Einladung zum Polterabend seines Radfahrerkumpels Roy am Samstagabend absagen müssen. Selbst wenn er sein Tagespensum rechtzeitig erledigte, wollte er danach vermutlich nicht mehr ausgehen. Mordermittlungen und trinkselige Abende passten in der Regel nicht gut zusammen.

Seine Leute hatten wahrscheinlich eigene Pläne. Pläne, die sie weniger begeistert aufgeben würden. Es wurde Zeit, Lightman und Hanson über die neuesten Entwicklungen zu informieren.

Juliette Hanson war vollkommen in ihre finanzielle Schnitzeljagd vertieft, als der Chef anrief. Sie ließ das Telefon mindestens viermal klingeln, während sie noch rasch das Zwischenergebnis notierte, und versuchte, nicht allzu verärgert zu klingen, als sie abnahm.

»Chef?«

»Ist Lightman in der Nähe? Dann kann ich Sie beide gleichzeitig auf Stand bringen.«

»Ja, er ist hier«, sagte Hanson, als ihr Blick Lightmans traf. »Ich stelle den Anruf in ein Besprechungszimmer durch.«

Nachdem sie den Anruf wieder aufgenommen hatten, lauschten beide schweigend, während Sheens schilderte, wie man Zoe gefunden hatte.

»Alles sieht nach Selbstmord aus«, sagte der Chef. »Nur dass man uns erzählt hat, sie sei angegriffen worden. Deshalb ist der erste Punkt auf meiner Liste, ihren Freund aufzuspüren. Außerdem brauche ich einen von Ihnen am Tatort, und ich fürchte, für denjenigen wird es ein langer Abend werden. Die Spurensicherung ist gerade eingetroffen, die Familie ist unterwegs, und ich werde eine Obduktion beantragen.«

»Tut mir leid, Sir. Ich kann nicht«, sagte Lightman, und Hanson sah ihn überrascht an. »Ich muss heute um vier Uhr los.«

Hanson hätte beinahe eingewandt, dass er unmöglich etwas vorhaben konnte. Es war Freitag. Pub-Abend. Freitags gingen sie immer zusammen in den Pub. Zumindest hatten sie das in den letzten vier Monaten getan. Wenn sie nicht völlig in irgendeinem Fall versunken waren, gingen sie die Straße runter zum Anchor und blieben bis acht oder neun. Lightman trank nie mehr als zwei Bier und redete selten viel, aber er kam immer mit.

»Kein Problem«, sagte Sheens. »Juliette?«

»Ich kann kommen«, sagte sie und notierte sich die Adresse, die er ihr nannte.

Als sie den Anruf beendeten, ertappte sie sich dabei, Lightman genau zu mustern. Er schrieb noch etwas auf und erhob sich, so schwer zu durchschauen wie immer. Dabei war sie extrem neugierig zu erfahren, was los war.

»Typisch«, sagte sie und stand ebenfalls auf. »Ich habe drei Wochen gebraucht, um mich in die Erpressungssache einzuarbeiten, und jetzt, wo ich endlich Fortschritte mache, werde ich zu einem anderen Fall abberufen.«

»Ah, tut mir leid«, sagte Lightman mit einem Grinsen. »Meine Schuld. Du hast einen gut bei mir.«

Und damit verließ er das Besprechungszimmer ohne ein weiteres Wort. Hanson sah ihm schlechtgelaunt nach. Eine Erklärung hätte nicht wehgetan, dachte sie.

Aber vielleicht brauchte sie auch gar keine Erklärung. Es war Freitagabend, und Lightman hatte offenbar keine Probleme, weibliche Aufmerksamkeit anzuziehen. Irgendeine Frau, die versuchte, ihn anzumachen, gehörte zum festen Programm ihrer Pub-Abende. Und sie wusste, dass er schon mit Frauen ausgegangen war.

Gut, dachte sie. Soll er zu irgendeinem Date gehen, während ich die harte Arbeit erledige.

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