Читать книгу Wer auf dich wartet - Gytha Lodge - Страница 5

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Jonah hätte die Angelegenheit beinahe unter den Tisch fallenlassen. Den Anruf. Die Meldung wäre ihm beinahe durchgerutscht.

Später fragte er sich, welchen Unterschied das gemacht hätte. Wie man es eben tat, wenn man einen Fall abschloss. Man suchte nach Fehlern und dem Gegenteil, nach dem, was man gut gemacht hatte. Man fragte sich, wie das die Ermittlung beeinflusst hatte, und in diesem Fall schwebte das größte Fragezeichen über der Meldung eines Mordes, die ihm beinahe durchgerutscht wäre. Er fragte sich, ob die Dinge anders gelaufen wären, wenn er früher gehandelt hätte, und wie sie sich entwickelt hätten, wenn er gar nicht reagiert hätte.

Es war durchaus möglich, dass weder das eine noch das andere irgendetwas bewirkt hätte. Vielleicht wären die Ereignisse trotzdem unerbittlich auf dieses Ende zugesteuert. Aber vielleicht wäre auch alles ganz anders gekommen.

Zum ersten Mal war ihm der Anruf am Ende einer quälenden freitagmorgendlichen Dienstbesprechung untergekommen. Die Abwesenheit von Detective Chief Inspector Wilkinson hatte das Ganze noch schlimmer gemacht. Ohne sein gnadenloses Pochen auf die Tagesordnung war das Meeting in Diskussionen über jedes Detail ausgeufert, eine deprimierend langwierige Veranstaltung.

Zuletzt hatten sie sich noch dazu durchgerungen, die anstehenden Fälle zu verteilen, und Yvonne Heerden, seine engagierte Amtskollegin bei der uniformierten Polizei, hatte ohne Wenn und Aber drei Diebstähle und einen Verkehrsunfall übernommen.

Dann sagte sie: »Wir haben von der Zentrale eine unbestätigte Meldung über einen Mord weitergereicht bekommen. Ich habe Ihnen eine Kopie zukommen lassen«, fuhr sie an Jonah gewandt fort, »aber ich glaube nicht, dass sich daraus irgendwas ergibt, deshalb können wir die Sache auch übernehmen. Der Anrufer behauptet, seine Freundin sei ermordet worden, während er mit ihr geskypt hat. Den Mörder hat er allerdings nicht gesehen. Als die Zentrale nach seinem Namen und weiteren Details gefragt hat, hat er aufgelegt. Die Kollegen haben versucht, das zu überprüfen, konnten jedoch im Netz keine Spur einer Frau dieses Namens finden.«

Jonah überflog den Bericht, bis er auf den Namen des Mädchens stieß: Zoe Swardedeen.

Ich muss … Meine Freundin ist ermordet worden … las er.

Heerden hatte wahrscheinlich recht. Vermutlich ging es nur um simple Schreibtischarbeit. Eine Anfrage bei der Vermisstenstelle. Ein paar alternative Schreibweisen des Namens abfragen.

»Okay?«, fragte Heerden, während er weiterlas.

Irgendetwas an den Formulierungen des Anrufers ließ Jonah zögern. Irgendetwas beunruhigte ihn.

Aber Heerden wartete auf eine Antwort, und schließlich vertraute er darauf, dass sie und ihr Team die Sache richtig einschätzten. Seine eigenen Leute steckten bis zum Hals in einem komplizierten Erpressungsfall und hatten keine Zeit für Fleißarbeit.

»Klar«, sagte er. »Halten Sie mich auf dem Laufenden, falls sich etwas ergibt.« Als Nächstes stand ein Verkehrsunfall mit mehreren Todesopfern auf der Tagesordnung, der vermutlich von einem Lkw-Fahrer verursacht worden war, der auf sein Handy geguckt hatte. Jonah war froh, dass er sich damit nicht beschäftigen musste. Solche Fälle hinterließen Narben. Fälle, bei denen man sich schnell vergewisserte, dass es seinen Liebsten gut ging. Fälle, die das Leben flüchtig und die Welt wie einen willkürlichen, gleichgültigen Ort erscheinen ließen.

Und während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen, wurde sein Unbehagen über die seltsame anonyme Meldung eines Mordes in den Hintergrund gedrängt.

Eigentlich hatte Aidan viel zu tun. Drei Studenten hatten ihre Essays geschickt, und er hatte einen Haufen Verwaltungskram für die Fakultät zu erledigen, doch er hatte es nicht geschafft, auch nur eine einzige Zeile zu lesen. Er hatte E-Mail um E-Mail geöffnet, ohne dass er bei dem lauten Herzklopfen und Rauschen in seinen Ohren irgendetwas verstanden hätte. Er nahm die Worte gar nicht wahr; er sah nur die sich öffnende und wieder schließende Tür, in Endlosschleife.

Die Ungewissheit war das Schlimmste. Erst hatte er sich einzureden versucht, dass das Ganze ein Missverständnis oder ein Traum gewesen sein müsse, bevor er sich daran erinnerte, dass Zoe nicht mehr aus dem Badezimmer gekommen war, solange er den Bildschirm beobachtet hatte. Tief im Innern wusste er, dass sie dringend Hilfe gebraucht und sie vermutlich nicht erhalten hatte.

Direkt nach dem Aufstehen hatte er die Nachrichten und sozialen Netzwerke auf Hinweise durchkämmt, eine Suche, die er seitdem in regelmäßigen Abständen wiederholt hatte. Aber nirgendwo fand er eine Meldung über einen Mord oder ein Gewaltverbrechen in Southampton. Nichts über einen Angriff auf eine junge Frau. Ein absolut schwarzes Loch.

Es gab natürlich einen Weg, es herauszufinden, so er denn wollte. Er könnte noch einmal bei der Polizei anrufen, und wenn man ihn diesmal nach seinem Namen und seiner Adresse fragte, könnte er sie nennen.

Gestern Abend war er kurz davor gewesen. Die Zentrale hatte ihn zu einer Polizistin durchgestellt, die alles, was er gesagt hatte, mitgetippt und in Daten verwandelt hatte. Sie hatte auch weitergetippt, als er gestanden hatte, dass er die Nummer des Einweg-Handys nicht wusste, von dem aus er anrief, weil es ein Ersatztelefon war, das er aus einer Schreibtischschublade gekramt hatte. Und sie hatte mitgeschrieben, als er ihr erklärte, weshalb er glaubte, dass seine Freundin ermordet worden war.

Ganz zum Schluss hatte die Polizistin ihn nach seinem Namen gefragt, und während des langen, aufgeladenen Schweigens, das folgte, hatte er ihm schon auf der Zunge gelegen. Dann hatte er gehört, wie irgendwo draußen eine Wagentür zugeschlagen wurde.

Er hatte aufgelegt und krank vor Anspannung auf weitere Geräusche gelauscht. Er versuchte, sich einzureden, dass er nichts zu befürchten hatte, doch er wusste, dass das nicht stimme. Er hatte allen Grund, sich zu ängstigen. Weil Zoe vor seinen Augen ermordet worden war. Weil die ganze Wahrheit ans Licht kommen könnte.

Das durfte er nicht zulassen. Für ihn stand alles auf dem Spiel. Alles.

Er hatte überlegt, dass Skype-Fenster zu schließen, um die Szene auszublenden. Aber es war seine einzige Möglichkeit, nach Zoe zu schauen. Zu sehen, ob die Polizei bei ihr eintraf.

Mitternacht war gekommen und gegangen.

Es war jetzt elf Stunden her, dass er gesehen hatte, wie die Tür zu Zoes Wohnung aufgeschwungen war. Elf Stunden und kein Zeichen, keine Nachricht. Sollte er noch einmal bei der Polizei anrufen? Alles noch einmal durchgehen und sich zu erkennen geben?

Aber allein der Gedanke ließ ihn jedes Mal in kalten Schweiß ausbrechen. Das konnte er nicht riskieren, er spürte es geradezu körperlich, im Magen und in den Lenden. Und es machte das Stillsitzen unerträglich.

Zoe, dachte er, als könnte er sie mit schierer Willenskraft dazu bringen, sich zu melden. Zoe, bitte. Ruf an, verdammt noch mal.

Jonah ging zu Domnall O’Malley, dem einzigen Mitglied seines Teams, das er auf seinem Weg durch die modernen, hell erleuchteten Räumlichkeiten des CID entdeckte.

»Sind Sie ernsthaft der Erste am Arbeitsplatz?«, fragte er ungläubig.

»Himmel, nein«, antwortete O’Malley und lehnte sich mit dem ganzen Gewicht seines massigen Körpers auf dem Stuhl zurück. »Ich bin vor fünf Minuten gekommen. Juliette ist schon seit vor acht hier. Aber Lightman kommt ein wenig später, hat er gesagt.«

»Lightman hat gesagt, er würde zu spät kommen?«

»Ich weiß«, sagte O’Malley. »Hat mich auch überrascht. Vielleicht hat er sich endlich eine Freundin zugelegt und nicht gut geschlafen.«

»Aber wir reden von Ben Lightman«, entgegnete Jonah. »Er braucht keinen Schlaf.«

»Ja, da haben Sie auch wieder recht. Nun, was auch immer, ich habe jedenfalls vor, ihn damit gnadenlos aufzuziehen.«

Grinsend ging Jonah in sein Büro und ließ die Tür offen. Er zog kurz sein Handy aus der Tasche und fragte sich, ob Jojo ihm heute schreiben würde oder ob sie sich wieder an irgendeinem entlegenen Ort ohne Funknetz aufhielt.

Ihr Nachrichtenaustausch war fraglos einer der Lichtblicke seiner Tage. Ihre Neckereien und ihr Humor konnten seine Stimmung nachhaltig heben, sie war wirklich erfrischend. So viele Monate hatte er Michelle hinterhergeweint, seiner jüngsten Exfreundin. Er hatte schon gedacht, dass er vielleicht den Rest seines Lebens damit verbringen würde, sie zu vermissen.

Aber all das hatte sich geändert, seit Jojo, in die er schon als Teenager verknallt gewesen war, wieder in seinem Leben aufgetaucht war. Sie hatten sich darauf verständigt, dass die Ermittlung, in die sie verwickelt gewesen war, erst abgeschlossen werden musste, bevor sie sich treffen konnten. Und dann hatte Jojo beschlossen, auf Reisen zu gehen, während ihr Haus repariert wurde. Nachdem ihr Freundeskreis ebenfalls von der Mordermittlung erschüttert worden war, war ihr Bedürfnis nach Abstand nur allzu verständlich. Trotzdem hatte Jonah einen Stich gespürt, als sie ihm von ihren Plänen erzählt hatte.

Jetzt war sie in Namibia auf einer Tour zu spektakulären Klettersteigen, die alle meilenweit entfernt von der Zivilisation lagen. Der Gedanke, dass sie sich allein dort draußen in der Wildnis herumtrieb, hätte Jonah eigentlich nervös machen sollen, doch das war er aus irgendeinem Grund nicht. Vielleicht hatte es etwas damit zu tun, dass Jojo sich schon immer zu helfen gewusst hatte und gerade einen Mordanschlag überlebt hatte. Keine Nachricht von ihr. Er legte das Handy beiseite und loggte sich in seinen Computer ein. Einige weitere Dateien zu der Erpressungsermittlung waren zur Akte hinzugefügt worden, doch er überflog sie nur flüchtig. Aus irgendeinem Grund gingen ihm die Worte im Kopf herum: Bitte helfen Sie ihr. Vielleicht lebt sie noch.

Wie auf Autopilot machte Juliette Hanson sich einen Kaffee, den sie heute Morgen eigentlich gar nicht gebraucht hätte. Sie stand ganz kurz vor einem Durchbruch, das spürte sie bis ins Mark. Sie war schon vor sechs aufgewacht, und durch ihren Kopf schwirrten eine Reihe von Zahlungen auf verschiedene Konten, die mit Sicherheit etwas mit ihrem Fall zu tun hatten. Sie war in ihrem Element.

Seltsam, dass sie den finanziellen Aspekt des Falles beinahe gemieden hätte. Normalerweise wäre das eher ein Job nach Ben Lightmans Geschmack gewesen. Lightman war in ihrem Team der Penibelste und Akribischste und hatte das beste Gedächtnis. Aber er steckte mitten in etwas anderem, und sie hatte das Gefühl gehabt, einspringen zu müssen.

Sie war überrascht, dass Lightmans Schreibtisch noch unbesetzt war. In den vier Monaten, die sie jetzt zu dem Team gehörte, war es noch nie vorgekommen, dass er sich verspätet hatte, und man konnte sich nur schwer vorstellen, dass ihn unvorhersehbare Ereignisse von der Arbeit abhielten. Doch als sie gerade O’Malley nach Lightman fragen wollte, kam er durch die Tür des CID, unerschüttert wie eh und je.

»Lightman, alter Junge«, sagte O’Malley mit einem breiten Grinsen. »Was ist passiert? Hast du verschlafen?«

Lightman lächelte knapp und warf seine Wagenschlüssel auf den Schreibtisch. »Ich hatte noch etwas zu tun.«

»Aah«, erwiderte O’Malley mit einem wissenden Nicken. »Also eine Frau? Die dich den Schlaf gekostet und nicht aus dem Haus gelassen hat?«

Lightman schüttelte lachend den Kopf, sagte jedoch nichts, während er seinen Mantel auszog und sich auf seinem Stuhl niederließ.

Statt seine Tutorien vorzubereiten, ertappte Aidan sich dabei, die Polizei von Southampton zu googeln. Southampton, las er, gehörte zur Hampshire Constabulary, die eine eigene Website hatte. Er klickte sie an, obwohl unklar war, was er dort suchte. Er bezweifelte, dass sie Einzelheiten von Fällen oder Berichte über Einsätze zur Rettung verletzter Frauen veröffentlichten.

Natürlich gab es nichts dergleichen. Nur eine Reihe von Kästen mit großen Überschriften, die dem Besucher diverse Optionen anboten. Er entschied sich für Hilfe und Ratschläge. Aber dort gab es nichts Relevantes.

Zurück auf der Homepage fiel sein Blick auf ein Formular, mit dessen Hilfe sich Verbrechen online melden ließen. Wenn die Polizei von Southampton seinen Anruf nicht ernst genommen hatte, könnte er es vielleicht auf diesem Weg noch einmal versuchen.

Als Erstes wurde er nach der Postleitzahl des Tatorts gefragt, worauf er am liebsten die Stirn auf die Tischplatte geschlagen hätte. Es gab kein Kästchen, in das man schreiben konnte: »Ich weiß die Scheißpostleitzahl nicht!« Immerhin konnte er Southampton eingeben und weiter klicken.

Nachdem er Einzelheiten des Verbrechens geschildert hatte, wurde er nach seiner E-Mail-Adresse oder Telefonnummer gefragt. Er gab Zoes E-Mail-Adresse an, weil er das Gefühl hatte, dass er damit keinen Verrat mehr beging, und hoffte, die Polizei würden keine Zeit damit verschwenden, diese erst zu überprüfen, bevor sie etwas unternahm.

Aber als er das Formular abgeschickt hatte, empfand er keine Erleichterung. Er spürte gar nichts, während Zoe womöglich im Sterben lag. Oder vielleicht schon tot war.

Daran durfte er nicht denken, und das Leugnen machte es noch schlimmer. Immerhin hatte er etwas getan. Er hatte etwas getan und sie nicht einfach dort liegen gelassen.

Als Jonah am späten Nachmittag seinen Bericht über den Erpressungsfall geschrieben hatte, wanderten seine Gedanken zurück zu der Lagebesprechung am Vormittag. Ob Heerdens Team herausgefunden hatte, was hinter der Mordmeldung steckte?

Er fand den Fall in der Datenbank und las, dass ein Constable aus Heerdens Team versucht hatte, die Identität des mutmaßlichen Opfers zu ermitteln. Aber in ganz Großbritannien gab es keine Zoe Swardedeen, und eine Vermisstenmeldung lag auch nicht vor. Der Constable hatte vorgeschlagen, den Fall zu schließen.

Jonah seufzte unzufrieden und fragte sich, wieso der Constable es nicht mit anderen Schreibweisen des Namens versucht hatte. Warum beschäftigte ihn dieser Anruf bloß so?

Bitte helfen Sie ihr. Vielleicht lebt sie noch …

Er stellte sich den verzweifelten Klang der Stimme vor und entschied, sich die Originalaufnahme anzuhören. Sie war nur eine Minute lang. Die Stimme der Beamtin in der Zentrale dröhnte so laut, dass Jonah die Lautstärke hastig leiser drehte, um sie ebenso rasch wieder lauter zu stellen, als der Anrufer zu sprechen begann. Er flüsterte kaum hörbar.

Jonah spürte, wie er beim Zuhören eine Gänsehaut am Hals und an den Armen bekam. Er hatte schon öfter Anrufe dieser Art gehört, meistens als Beweismittel vor Gericht. Die ängstlich gesenkte, angespannte Stimme ließ ihn an Opfer häuslicher Gewalt denken, die sich vor ihrem Partner versteckten.

Die Stimme ging ihm unter die Haut, vor allem weil der Anrufer den Zwischenfall offenbar nur über eine Webcam verfolgt hatte.

»Wir waren zusammen online. Ich konnte nicht sehen, was passiert ist, aber ich habe es gehört. Jemand hat ihre Wohnung betreten …«

Als der Anrufer kurz darauf nach seinem Namen gefragt wurde, beendete er das Gespräch. Jonah lauschte den gedämpften Geräuschen, bevor die Verbindung unterbrochen wurde, und starrte dann auf den Bildschirm.

So saß er noch da, als ein fröhliches Zwitschern des Computers vermeldete, dass der Akte eine neue Datei hinzugefügt worden war. Es handelte sich um ein Verbrechen, das am Vormittag über die Homepage gemeldet worden war und nach Ansicht der Zentrale mit diesem Fall zu tun haben könnte.

Jonah öffnete sie eilig und las eine praktisch gleichlautende Schilderung. Diesmal wurde der Name des Mädchens Zoe Swardadine geschrieben.

Er gab die neue Schreibweise in die Suchmaschine ein und fand das Bild einer jungen Frau mit dunkelbrauner Haut und dunklen Locken. Als er es anklickte, landete er auf ihrer Website, eine schlichte WordPress-Seite über eine in Southampton lebende Künstlerin, die stilisierte Figuren auf bedrohlich dunklen Hintergründen malte. Ganz unten auf der Seite war eine Telefonnummer angegeben, was ihm ein wenig vertrauensselig vorkam. Aber vielleicht stolperten nicht allzu viele Menschen über Zoes Seite.

Er rief die Festnetznummer an. Es klingelte achtmal, bevor der Anrufbeantworter ihn informierte, dass der Teilnehmer nicht erreichbar war, und ihn aufforderte, eine Nachricht zu hinterlassen.

Er gab seine Nummer auf dem Kommissariat und seine Handynummer an und bat um Rückruf. Dann legte er mit einem Gefühl zunehmender Dringlichkeit auf. Zoes Vater im Netz zu finden war nicht schwer. Martin Swardadine war Investmentbanker bei einem Unternehmen namens Knight and Maynooth. Oben auf der Seite prangte ein einschüchterndes Schwarz-Weiß-Porträt, das aus einem Winkel aufgenommen war, der Martins kantiges Kinn betonte. Darunter fand sich eine Biographie des Mannes. Im letzten Absatz erfuhr Jonah, dass Martin mit einer Ärztin verheiratet war und seine Tochter angehende Künstlerin war.

Martin nahm seinen Anruf mit einem forschen Gruß entgegen, der signalisierte, dass das Telefonat ihm Zeit für sehr wichtige andere Angelegenheiten raubte, wichtige und vergnügliche Angelegenheiten, die eine Menge reicher Leute noch reicher machen würden.

»Hier ist DCI Jonah Sheens von der Hampshire Constabulary. Wir möchten uns vergewissern, dass es Ihrer Tochter gut geht. Ein Freund von ihr hat sich Sorgen gemacht.«

»Vergewissern, dass mit … Zoe alles in Ordnung ist?« Sein selbstbewusster Ton wurde ein wenig brüchig.

»Ja«, bestätigte Jonah. »Haben Sie zum Beispiel heute schon mit ihr gesprochen oder von ihr gehört?«

»Ich … Nein, heute noch nicht«, sagte ihr Vater. »Aber ich habe mit ihr zu Mittag gegessen am … Anfang der Woche. Wahrscheinlich hat sie mir inzwischen eine SMS geschickt. Warten Sie.«

In der Leitung war ein Rascheln und Kratzen zu hören, während Martin vermutlich seine Nachrichten abrief.

»Sie hat mir gestern Abend eine SMS geschickt.«

»Danke«, sagte Jonah. »Um wie viel Uhr war das?«

»20:12 Uhr, steht hier.« Es entstand eine kurze Pause, und als er weitersprach, klang seine Stimme verändert.

»Gibt es Anlass, sich Sorgen zu machen?«

»Ein Freund hat vergeblich versucht, sie zu erreichen«, erklärte Jonah. »Es könnte sich auch als gegenstandslos erweisen. Das ist häufig so. Aber könnten Sie vielleicht bei Zoes Freundinnen nachfragen? Oder bei ihrer Mutter?«

»Okay. Ich … höre mich um.«

Jonah gab ihm die Nummer der Zentrale und legte auf. Er las die zweite Meldung noch einmal sorgfältig durch. Der Absender hatte keine Kontaktdaten angegeben. Die E-Mail-Adresse lautete »zswardadine@soton.ac.uk«, was beunruhigend war. Als Adresse des Tatorts wurde lediglich Southampton genannt.

Sieben Minuten später rief Martin Swardadine zurück, um mitzuteilen, dass seit gestern Abend niemand von Zoe gehört hatte. Weitere zehn Minuten später hatte Jonah das Kommissariat verlassen und raste zu Zoes Wohnung.

Angeline konnte nicht aufhören zu zittern. Das hatte mit dem Polizeiauto angefangen. Bis dahin hatte sie sich eigentlich keine Sorgen gemacht. Das Ganze schien ihr vor allem lästig, aufs Rad zu steigen und im kalten Gegenwind dorthin zu radeln, während sie eigentlich müde und mit ihren Abgabeterminen im Verzug war. Außerdem hatte sie kein geladenes Fahrradlicht gefunden, und es war um halb drei schon so trüb, dass es früh dämmern würde.

Aber der Streifenwagen hatte das irgendwie geändert. Sie hatte sich den Detective, mit dem sie gesprochen hatte, als normale Person vorgestellt, nicht als jemanden in Uniform. Er hatte so gelassen geklungen. Er hatte sie gebeten, einigen Polizisten Zoes Wohnung aufzuschließen. Er würde selbst in Kürze eintreffen und sich vergewissern, dass alles in Ordnung war.

Er hatte so ruhig geklungen, dass sie sich gar nichts dabei gedacht hatte. Aber als sie sich jetzt einem Streifenwagen und einem Polizisten und einer Polizistin in Uniform gegenübersah, wurde ihr fast übel vor Angst.

Sie nickte ihnen zu, lehnte ihr Fahrrad an die Mauer neben der Haustür. Sie brauchte drei Anläufe, um es abzuschließen, so heftig zitterten ihre Hände.

»Sind Sie Angeline?«, frage der große stämmige Polizist. Die schwarze Uniform stand ihm nicht, dachte sie. Die gefütterte Weste mit den vorstehenden Taschen ließ ihn noch fülliger wirken, als er ohnehin war.

»Ja«, antwortete sie und fragte dann ängstlich: »Sie waren doch nicht schon drinnen, oder?«

»Nein, wir haben geklingelt, aber niemand hat aufgemacht. Wir warten nur auf Sie und den Schlüssel«, sagte er mit einem angedeuteten Lächeln. »Wenn Sie uns hereinlassen, sehen wir nach Zoe.«

Angeline nickte mit einem Schauder und kramte den schweren Schlüsselbund aus ihrem Beutel. Nach einer Weile gelang es ihr, den kleinen Ring mit dem klobigen Sicherheitsschlüssel und dem kleineren für die Wohnung zu lösen, den Zoe ihr gegeben hatte.

Sie schloss auf und ließ die Beamten in den Hausflur, der gut zwei Jahre nach dem Erstbezug immer noch nach neuen Teppichen roch. Dabei hätte sie die Tür beinahe versehentlich zufallen lassen, bevor der Polizist eingetreten war. Sie entschuldigte sich, doch er wirkte unbekümmert.

»Ganz nette Adresse für eine Studentenbude«, sagte er locker. Sie merkte, dass er versuchte, sie zu beruhigen.

Das machte es nur noch schlimmer. Ihr war eiskalt, als sie vor den beiden Polizisten die Treppe hinaufging.

Im zweiten Stock führte sie sie durch die lackierte Feuerschutztür in den Flur. Die Tür war ihr sonst immer schwer vorgekommen, doch heute schien sie nichts zu wiegen. Diesmal dachte sie immerhin daran, die Tür hinter sich aufzuhalten.

Der Flur war leer. Zoes Tür war die in der Mitte mit der Nummer sechzehn in großen silbernen Ziffern. Angeline blieb davor stehen und betrachtete ihr Spiegelbild in der Sechs.

»Soll ich …?«, fragte sie und zeigte auf die Tür. Die Polizistin nickte, und sie klopfte. Ihre Knöchel erzeugten fast keinen Laut auf dem Holz. Der stämmige Beamte beugte sich vor und klopfte noch einmal lauter.

»Zoe?«, rief er und senkte den Kopf, als könnte er so besser hören. »Zoe, machen Sie bitte die Tür auf?«

Danach war es still bis auf einen sehr leisen Bass-Beat, der aus einem anderen Stockwerk zu ihnen drang.

»Okay«, sagte der Polizist. »Wenn Sie bitte aufschließen könnten …«

Angeline schaffte es irgendwie, den Schlüssel ins Schloss zu stecken und ihn umzudrehen. Sie trat einen Schritt zurück, sobald sich die Tür einen Spalt geöffnet hatte.

»Können Sie …?« Sie war unfähig, ihre schreckliche Furcht, die Wohnung zu betreten, in Worte zu fassen, aber die Beamten verstanden sie offenbar auch so.

»Wir sind gleich wieder da«, sagte der Polizist, sah seine Kollegin an, und sie betraten hintereinander die Wohnung.

Angeline schlang die Arme um den Körper, um das Zittern und das wilde Pochen ihres Herzens zu lindern. Noch nie hatte sie sich so sehr gefürchtet. Es fühlte sich an, als könnte sie vor Angst sterben, und je mehr sie daran dachte, desto benommener wurde sie. Als ob ihr Herz schon beschädigt sein könnte.

In der Wohnung blieb es lange still. Dann wurde klickend eine Tür geöffnet, eine Stimme sagte leise etwas, eine zweite antwortete.

Sie hörte leise Schritte, dann tauchte die Polizistin wieder an der Tür auf.

»Geht es ihr gut?«, fragte Angeline, bevor die Frau etwas sagen konnte.

»Es sieht so aus, als hätte sie einen Unfall gehabt«, antwortete die Polizistin sanft. Im Hintergrund hörte Angeline ihren stämmigen Kollegen reden. Wahrscheinlich sprach er in ein Telefon oder Funkgerät. »… Krankenwagen und Spurensicherung.«

Angeline spürte eine furchtbare Kälte im ganzen Körper. Sie sagte nichts, sondern stürzte nur vorwärts und drängte sich an der Polizistin vorbei, die sie scharf aufforderte, stehen zu bleiben. Beinahe wäre Angeline gegen ihren Kollegen geprallt, der der von Knistern und Knacken begleiteten Antwort aus seinem Walkie-Talkie lauschte. Seine stämmige Gestalt versperrte die Lücke zwischen Schreibtisch und Tür. Sie wollte an ihm vorbei, doch die Polizistin fasste unvermittelt ihren Oberarm.

»Es tut mir leid, aber das ist keine gute Idee«, sagte sie.

Angeline entwand sich dem Griff und rannte zum Schlafzimmer und der offenen Tür zum Bad, das direkt davon abging.

Dann wurde sie von zwei Händepaaren gepackt und entschlossen weggezerrt.

»Kommen Sie, Angeline«, sagte der stämmige Mann. »Sie können da nicht reingehen. Es tut mir leid.«

»Ich muss sie sehen! Bitte lassen sie mich zu ihr.«

Aber dann war ihre Widerstandskraft mit einem Schlag verpufft, und die Polizisten mussten sie stützen. Sie führten sie hinaus in den Flur und setzten sie auf die breite niedrige Fensterbank an dessen Ende.

»Wir besorgen Ihnen ein Glas Wasser«, sagte der stämmige Polizist sanft. »Oder einen Tee. Wie wär’s mit einer Tasse Tee?«

Sie nickte, obwohl sie ihm eigentlich ins Gesicht schreien wollte, dass Tee gar nichts besser machen würde.

»Zoe ist tot, oder?«, fragte sie. Keiner der beiden antwortete.

Wer auf dich wartet

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