Читать книгу Bis ihr sie findet - Gytha Lodge - Страница 10
7.
ОглавлениеEs war ein eigenartiges Gefühl, sich auf der Grundlage von Ermittlungsunterlagen Notizen zu einem Fall zu machen, mit dessen Details man vertraut war. Auch die Menschen, über die er Informationen zusammentrug, kannte Jonah, aber nicht gut genug, als dass es ihm helfen würde.
Die Stelle, an der die Gruppe und auch andere schon öfter gezeltet hatten, war kein offizieller Campingplatz und nur über einen gewundenen, undeutlich markierten Pfad durch den Wald erreichbar.
Er musste die Beschreibungen der Örtlichkeiten nicht lesen. Er hatte sie nicht einmal wiedersehen müssen. Er erinnerte sich an die immer gleichen Wege, die er beschritten hatte, während der Umkreis der Suche nur langsam ausgedehnt wurde. Er dachte daran, wie eigenartig zuversichtlich er gewesen war, eine Stelle zu finden, die vor ihm niemand entdeckt hatte. Es war zu einer Art verzweifelten Entschlossenheit geworden, die ihn getrieben hatte, die Suche bis lange nach Feierabend und an freien Tagen fortzusetzen.
Die Zusammenfassung der Ereignisse war einfach, doch sie blieben rätselhaft.
Sieben Jugendliche waren kurz nach Beginn der Sommerferien zelten gewesen. Drei von ihnen waren fünfzehn, zwei sechzehn, einer achtzehn und eine – Aurora – vierzehn Jahre alt gewesen. Keiner hatte sich vor Mitternacht schlafen gelegt, Aurora war die Erste gewesen. Sie hatte ihre Isomatte ein Stück von dem Lager weggetragen, um nicht von den anderen gestört zu werden, die getrunken, laut geredet und gelacht hatten. Außerhalb des Lichtscheins, den das Feuer geworfen hatte, war sie für die anderen unsichtbar gewesen.
Die waren nach und nach ebenfalls schlafen gegangen. Sie glaubten, Aurora in ihrem Schlafsack gesehen zu haben, doch keiner von ihnen war sich völlig sicher. Sie hatten nichts gehört, was auf eine Gewalttat hingedeutet hätte.
Am nächsten Morgen war der fünfzehnjährige Connor Dooley früh durstig aufgewacht und hatte Wasser gesucht. Dabei hatte er Auroras leeren Schlafsack gesehen und angenommen, dass sie ein stilles Örtchen gesucht hatte, um sich zu erleichtern. Als sie nach einer Weile immer noch nicht zurück war, begann er, sich Sorgen zu machen, inspizierte den Schlafsack und stellte fest, dass er von innen kalt und taufeucht war.
Connor weckte die Schwester des vermissten Mädchens, die fünfzehnjährige Topaz Jackson. Es folgte eine Suche, an der sich irgendwann alle sechs verbliebenen Jugendlichen beteiligten. Nach einer halben Stunde erklärte der sechzehnjährige Daniel Benham, dass er mit dem Rad nach Lyndhurst fahren würde, um Alarm zu schlagen. Der Einzige der Gruppe, der einen Führerschein besaß, der achtzehnjährige Brett Parker, war noch fahruntüchtig. Während Daniel nach Lyndhurst radelte, suchte Brett Parker mit den anderen weiter.
Bei der örtlichen Polizei war um 7:09 Uhr ein Anruf von Daniel Benham eingegangen, nachdem dieser festgestellt hatte, dass die Polizeiwache in Lyndhurst geschlossen war, und an die Tür eines benachbarten Hauses geklopft hatte, um von dort zu telefonieren. Der erste Streifenwagen war um 7:48 Uhr eingetroffen. Um 9:17 Uhr war eine komplette Suchmannschaft vor Ort, kurz darauf wurde die Nachbargemeinde alarmiert. Die aktive Suche dauerte fast zwei Wochen, in denen der Fall landesweit immer größere Aufmerksamkeit erregte.
Wie so viele Geschichten von verschwundenen schönen Mädchen wurde er zur Sensation und zum Gegenstand ungeheurer Spekulationen. Unendlich viele Bögen von Papier und ungezählte Sendestunden im Fernsehen wurden der Geschichte gewidmet.
Und dann war die Story irgendwann alt und ausgelaugt. Dreißig Jahre vergingen, und Aurora wurde nie gefunden.
Um vier erhielt Jonah eine kurze E-Mail des DCS, der sich nach dem aktuellen Stand erkundigte. Er war erleichtert, denn er hatte damit gerechnet, dass der DCS sich persönlich vergewissern würde, dass die Ermittlungen liefen. Auch wenn die Zusammenarbeit mit Wilkinson durchaus angenehm war, war es ihm im Moment sehr viel lieber, ihm eine kurze Zusammenfassung seiner Pläne per Mail zu schicken, als alles mündlich durchzukauen.
Zehn Minuten später bekam er eine Antwort.
Alles klar. Machen Sie als Erstes die Pressemitteilung fertig, danach können wir uns unterhalten. Ich erwarte Sie morgen nicht beim Meeting der Polizeiführung.
Das war eine Nachricht nach Jonahs Geschmack und demonstrierte eine von Wilkinsons großen Qualitäten. Er war der Ansicht, dass seine besten Beamten direkt an ihren Fällen arbeiten sollten, und sorgte hinter den Kulissen dafür, dass sie von den endlosen Sitzungen befreit waren, an denen die meisten DCIs eigentlich teilnehmen mussten.
Kurz nach 18:30 Uhr verließ Jonah die Station, um etwas zu essen. Nachdem er sich einen Tag lang mit überzuckertem Fastfood von Hoch zu Hoch gehangelt hatte, war ihm ein wenig flau, und er brauchte dringend etwas herzhaft Nahrhaftes.
Er hatte Hanson eingeladen mitzukommen, doch sie hatte lächelnd abgelehnt. Wahrscheinlich zu gleichen Teilen, weil sie nicht mit dem Boss zu Abend essen und weil sie ihn mit ihrem Arbeitseifer beeindrucken wollte.
Bei seiner Rückkehr solle sie sich bereithalten, mit ihm die ersten Hausbesuche zu machen, hatte er ihr erklärt. Der Plan, den er dem Chief Superintendent präsentiert hatte, sah vor, dass sie möglichst viele derjenigen aufsuchten, die auf der Liste der Beteiligten verzeichnet waren, bevor die Geschichte durchsickerte und sie vorgewarnt waren. Überraschung war ein machtvoller Faktor, und er wollte sie alle gründlich durchrütteln.
In der Southern Road hing die Hitze noch schwer in der Luft. Die Kundenparkplätze der Geschäfte und Einkaufszentren leerten sich, der Verkehr stockte, und er konnte die Straße bequem überqueren. Er ging bis zu dem Durchgang neben dem Novotel und steuerte das TGI Friday’s an, wo man ihm einen fettigen Cheeseburger servieren würde, sein einziges regelmäßiges Laster. Er hätte auch in der Kantine ein Wrap oder einen Cottage Pie essen können, doch wenn er ein ordentliches Pensum Schreibtischarbeit erledigt hatte, belohnte er sich gerne.
Es hatte ihm nie gefallen, im Büro Notizen und Akten durchzuarbeiten. Stundenlang in geschlossenen Räumen eingesperrt, wurde er mürrisch und kriegte Beklemmungen. Vielleicht hatte er das von seinem Vater geerbt, einem Traveller, aber wer war andererseits schon wirklich gern an seinen Schreibtisch gefesselt?
Er bat den Kellner, die Bestellung möglichst schnell zu bearbeiten, setzte sich an einen Tisch und trank eine Diät-Cola. Beim Warten verlor er sich in Erinnerungen an die Zeit, als er mit neunzehn gerade die Ausbildung abgeschlossen hatte, doch der Lärm riss ihn immer wieder in die Gegenwart zurück.
Vor allem die Gruppe der sieben beschäftigte ihn. Jeder an der Schule hatte sie gekannt, und jeder hatte ein bisschen so sein wollen wie sie.
Zentrum der Clique war Daniel Benham gewesen – damals von allen Benners genannt –, der große Philosoph, die Sorte freidenkender und diskussionsfreudiger Schüler, die von Lehrern entweder geliebt oder gehasst wurde, je nachdem wie bedroht diese sich fühlten. Außerdem war er temperamentvoll, attraktiv, sehr wohlhabend und obendrein ein talentierter Gitarrist und Sänger. Er musste sich nicht anstrengen, um beliebt zu sein.
Topaz und Benners waren auf der weiterführenden Schule schnell ein Paar geworden, zueinander hingezogen vermutlich durch ihre Attraktivität und ihre Lust, Regeln zu brechen. Die Romanze war ebenso schnell wieder im Sande verlaufen, doch sie waren gute Freunde geblieben. Und Coralie, Topaz’ hübsche, aber ein wenig farblose Freundin, wurde eine willige und treue Mitläuferin all ihrer Aktivitäten.
Kurz darauf waren, wenig überraschend, Connor und Jojo zu der Clique gestoßen. Connor war mindestens so intelligent wie Benners und noch entschiedener unangepasst. Und auch Jojo hatte ihren eigenen Kopf, eine ebenso rasche Auffassungsgabe wie die beiden und war wahrscheinlich noch ein ganzes Stück wilder.
Daraus hatte sich eine Fünfergruppe gebildet, die permanent Aufmerksamkeit erregte. Häufig waren sie in Konflikte mit den Autoritäten der Schule verwickelt, gleichzeitig jedoch bei Debattier-, Musik-, Kunst- und Naturwissenschaftswettbewerben die Stars der Schule. Sie pflegten den Nimbus echter Coolness, nicht zuletzt durch legendäre Partys, die nicht unwesentlich von Benners’ und Coralies Eltern finanziert wurden.
Und dann war da noch ihr Sexleben. Noch bevor Benners fünfzehn wurde, war er mit den attraktivsten Mädchen aus der sechsten Klasse ausgegangen und hatte mit einigen bekanntermaßen eine Nacht verbracht. Jojo hatte mit den Freunden ihres älteren Bruders rumgemacht, und Topaz und Coralie hatten ohnehin in ihrer eigenen Liga gespielt.
Die beiden waren heiße Ware gewesen, sobald sie die Schule mit hochgerollten schwingenden Röcken durch den Haupteingang betreten hatten. Perfekt verpackt und sich ihrer Macht vollkommen bewusst. Angeblich hatten sie mit ein paar sehr glücklichen Jungen ein paar sehr schmutzige Dinge gemacht.
Nach dem Verschwinden von Aurora Jackson waren die fünf noch faszinierender geworden. Sie hatten ihren Kreis um Brett erweitert, der mit seinem athletischen Körper und seinem attraktiven Gesicht gut zu ihnen passte. Doch er blieb der einzige Außenstehende, der je akzeptiert wurde. Nach Auroras Verschwinden kapselten sie sich völlig ab. Sie feierten keine Partys mehr und wechselten kaum ein Wort mit jemandem an der Schule. Hatten sie die Aufmerksamkeit zuvor genossen, so mieden sie sie jetzt. Jonah erinnerte sich, sie danach nur noch von weitem gesehen zu haben, die Köpfe zu einer privaten Unterhaltung zusammengesteckt, ihre Körpersprache abweisend.
Er seufzte. Wenn er Antworten bekommen wollte, würde er sie auseinanderdividieren müssen. Und er hatte den starken Verdacht, dass sie auch dreißig Jahre später noch eine geschlossene Front bilden würden.
Bei seiner Rückkehr saßen O’Malley und Lightman immer noch an ihren Schreibtischen; Lightmans Akten waren in ordentlichen geraden Stapeln aufgetürmt, während O’Malleys eher aussahen wie abgelehnte Romane, etwa ein Dutzend aufgeschlagen und zur Seite gelegt. Der irische Sergeant hockte, den langsam grau werdenden Kopf gesenkt, mit verlorenem Gesichtsausdruck in der Mitte.
»Schon irgendwas Bemerkenswertes?«
O’Malley blickte auf. »Nichts Spezielles«, sagte er. »Nur eine allgemeine Skepsis gegenüber den Aussagen der Jugendlichen. Keine Drogen, keine Sexgeschichten, praktisch kein Bier … da würde ich ja von einer religiösen Versammlung mehr erwarten.«
»Es ist nicht überzeugend?«
»Es waren Teenager, die eine Party gefeiert haben«, erwiderte O’Malley. »Was hätten Sie gesagt?«
Jonah nickte. Es gab viele Gründe dafür, etwas zu verbergen. Einer davon war, dass sie ganz einfach keinen Ärger bekommen wollten und außerdem ein schlechtes Gewissen hatten, weil sie sich amüsiert hatten, während Aurora verschwunden war. Aber vielleicht wussten sie auch ganz genau, was passiert war, und versuchten, es zu vertuschen.
»Schon irgendwelche Ideen, Ben?«, fragte er seinen anderen Sergeant.
»Ach, lassen Sie ihm noch ein bisschen Zeit. Der arme Junge muss erst seine Bleistifte ausrichten …«, sagte O’Malley grinsend. Lightman blickte auf, schüttelte mit gespieltem Bedauern den Kopf und setzte seine Lektüre dann fort.
Jonah grinste. Es stimmte, dass O’Malley schneller war, weil er auf jede Organisation verzichtete und sich stattdessen auf seinen Instinkt und die Gabe verließ, Zusammenhänge schnell zu erkennen. Man konnte sich nur schwer vorstellen, wie er in der Armee überlebt hatte, dieser respektlose, undisziplinierte, hochintelligente Mann, der permanent mit der Versuchung rang, sich mit einem Drink auszulöschen.
Hanson tauchte mit einem Pappbecher neben ihm auf.
»Bereit zum Aufbruch, Juliette?«, fragte er lächelnd.
Hanson nickte und zog ihre Handtasche von der Lehne ihres Stuhls.
»Haltet die Stellung«, verabschiedete er sich von seinen Sergeants.
»Zu Befehl.« O’Malley natürlich, voller Sarkasmus.
»Um zehn können Sie Schluss machen, wenn sich nicht irgendwas Bedeutendes ergibt.«
»Tom Jackson hat angerufen, während Sie essen waren«, berichtete Hanson ihm im Wagen. »Der Anruf wurde zu mir durchgestellt. Er wollte wissen, ob die Presse bald einbezogen wird. Ich habe gesagt, das müssten Sie beantworten.«
Jonah nickte. Sie verließen Southampton und fuhren nach Westen in den New Forest. Die Sonne schien ihnen direkt und unangenehm grell ins Gesicht.
»Außerdem wollte er uns mitteilen, dass seine ältere Tochter aus Edinburgh eingetroffen ist. Zusammen mit Connor Dooley. Sie hat ihn geheiratet, wussten Sie das?«
Jonah nickte. Er hatte es gewusst. Er hatte die Geschichten von ihnen allen mehr oder weniger verfolgt. Es war unmöglich gewesen, ihren Lebensweg nicht zu beobachten.
»Macht es uns ein wenig leichter, dass sie herkommen, oder?«
Jonah lächelte. »Ja, schon. Aber schade, dass wir um eine Dienstreise nach Edinburgh gebracht werden. Ich liebe die beschissenen Hotels, die sie immer für uns finden.«
Er hatte gehofft, der noch lebenden Tochter der Jacksons die Nachricht persönlich zu überbringen, doch das war von Anfang an optimistisch gewesen. Trotzdem würde er morgen nach der Pressekonferenz mit Topaz und Connor sprechen. Heute standen Brett Parker, Daniel Benham und Jojo Magos auf dem Plan. Coralie Ribbans war in London und würde ebenfalls warten müssen.
Er fragte sich, ob Topaz und Coralie sich immer noch verstanden. Er wusste, dass ihre Freundschaft sich im Laufe der Zeit verändert hatte. Das symbiotische, manipulative Gespann hatte darunter gelitten, dass Topaz und Connor ein Paar geworden waren.
Dass die beiden zusammengekommen waren, hatte auch Jonah überrascht. Fast während der gesamten Schulzeit war Connor ihr stiller, reizbarer Bewunderer gewesen. Und Topaz hatte es gewusst. Natürlich. Ein ums andere Mal war sie ein wenig darauf eingegangen und hatte sich dann wieder zurückgezogen. Seine hechelnde Gefolgschaft hatte ihr natürlich gefallen. Er machte, was sie wollte, und damit ihr Leben leichter.
Jonah hatte seine Mühe gehabt, die fünfzehnjährige Topaz sympathisch zu finden.
Aber in den Jahren nach Auroras Verschwinden war irgendwas anders geworden. Ein Verlust macht seltsame Dinge mit den Menschen, dachte er. Oder vielleicht war Topaz auch einfach erwachsen geworden.
»Sie waren also mit ihnen allen auf der Schule? Topaz Jackson, Daniel Benham …«
»Ja, war ich«, bestätigte Jonah.
»Waren Sie befreundet?«
Die Frage war Jonah instinktiv unangenehm. Er war nicht bereit, über seine eigenen Erfahrungen zu sprechen. Vor allem über eine bestimmte Erfahrung nicht.
Für Hanson würde sich die Wahrheit ohnehin merkwürdig anhören, denn er war fasziniert von der Gruppe gewesen. Von ihrer geheimnisvollen Aura, der Sinnlichkeit und den Geschichten über Topaz und Coralie.
Am anderen Ende des Spektrums weiblicher Teenager Jojo, der er im Park beim Skateboarden zugesehen hatte, in ihrem Tanktop ohne BH, bauchfrei, mit Boxershorts von Calvin Klein, die über den Bund ihrer tief hängenden Jeans ragten.
Und da war Aurora gewesen, die mit ihrem dreizehnten Geburtstag plötzlich von einem unbeholfenen Trampel zu einer engelhaften Schönheit herangewachsen war. Danach wusste niemand mehr so recht, wie er sich ihr nähern sollte.
Nichts von all dem war nützlich.
»Befreundet waren wir eigentlich nicht«, sagte er schließlich. »Ich bin ein paar Jahre älter als Topaz, Benners und Connor. Als Aurora auf die Schule kam, war ich in der zwölften Klasse, und als sie gestorben ist, schon Constable. Ich hatte ein paar Freunde, die sie besser kannten, weil sie Geschwister in Topaz’ oder Auroras Stufe hatten. Und alle waren scharf auf Topaz und fasziniert von Aurora.«
»Hatten Sie welche? Geschwister, meine ich?«, fragte Hanson.
»Nein.«
Jonah machte deutlich, dass er nicht vorhatte, über sich persönlich oder seine Familie zu sprechen. Er wollte weder Hansons Mitleid noch ihre morbide Neugier.
Sie verstand und schwieg, bis das Navi sie durch Lyndhurst und weiter nach Süden gelotst hatte. Eine Meile vor Brockenhurst bogen sie in einen Privatweg, für dessen Befahrung Jonah sich schon häufig einen Vorwand gewünscht hatte. Damit war er nicht allein. Die Presse kam auch gern her, ob zu einem Interview eingeladen oder nicht. Brett Parkers Anhängerschaft war fast ein Jahrzehnt lang beträchtlich gewesen.
Es gab natürlich ein Tor mit Häuschen, das aussah, als könnte es besetzt sein. Aber niemand kam heraus und kontrollierte sie. Ein graviertes Schild am Tor forderte sie auf, einen Knopf zu drücken, und Hanson manövrierte den Wagen so dicht wie möglich heran, kurbelte das Fenster herunter und klingelte.
Kurz darauf ertönte ein Knacken. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«
Eine Frauenstimme. Leicht gehetzt, fand Jonah.
»Ich bin Detective Constable Hanson. Ich bin in Begleitung meines DCI hier. Wir müssen mit Mr Parker sprechen.«
»Sie sind von … Oh.« Wieder entstand eine Pause. »Natürlich. Ich drücke Ihnen auf.«
Während sich das Tor quälend langsam öffnete, tippte Hanson mit ihren kurzen Fingernägeln auf das Lenkrad.
»Ein bisschen protzig, oder? Das Tor und die Gegensprechanlage.«
»Vermutlich sind sie es gewöhnt, unerwünschten Besuch zu bekommen.«
»Brett Parker … was war er noch mal? Ein Schriftsteller?«
»Ein Sportler«, erwiderte Jonah. Die Zeit verging. Er hatte gedacht, jeder im Land würde Bretts Namen kennen.
Hanson ließ den Motor im Leerlauf aufheulen, bevor das Tor sich ganz geöffnet hatte, und fuhr dann mit fünfzig Stundenkilometern an den Schildern vorbei, die zwanzig empfahlen. Zu beiden Seiten erhoben sich alte Bäume, und der Weg führte leicht bergauf, bis er nach knapp fünfhundert Metern die Kuppe des Hügels erreichte.
»Wow«, sagte Hanson, als das große, massive, aber unbestreitbar elegante Haus in Sicht kam. Der hungrige Blick, mit dem sie es betrachtete, ließ Jonah lächeln. Offenbar war es jetzt doch nicht mehr so protzig.
An der Haustür wurden sie von Brett Parker und nicht von der unbekannten Frau empfangen, mit der sie gesprochen hatten. Für Jonah war es eine seltsame Begegnung. Er hatte erwartet, dass Brett, der eher schlicht gestrickte Sportcrack, mit den Jahren selbstgefälliger geworden sein würde. Außerdem hatte er sich ihn als Sportler im Ruhestand dicklicher vorgestellt oder von irgendwelchen Ausschweifungen gezeichnet.
Stattdessen stand ihm ein schlanker, freundlicher und bescheidener Gastgeber in elegantem blauem Anzug und offenem Hemd gegenüber. Er war sonnengebräunt und sah fit und zehn Jahre jünger aus als Jonah.
»Kommen Sie rein, kommen Sie rein«, sagte er und gab die Tür frei. »Es ist zu heiß, um sich draußen aufzuhalten. Ich bin froh, dass Sie keine Uniform tragen müssen.« Begleitet von einem warmen Lächeln. »Wenn wir uns unterhalten wollen, gehen wir vielleicht am besten auf die Terrasse? Die liegt um diese Tageszeit im Schatten. Ich bitte Anna, uns etwas zu trinken zu bringen.«
»Vielen Dank«, sagte Jonah und erwiderte das Lächeln knapp. Er warf einen Blick auf Bretts elegant zerzaustes goldbraunes Haar, das offensichtlich gefärbt war, und fühlte sich ein wenig besser.
Die Terrasse war immer noch hell. Das Licht spiegelte sich in glitzernden Mustern auf der Oberfläche des rechteckigen Swimmingpools ein paar Stufen tiefer. Dahinter lag eine Wiese, die von einem Wasserlauf durchschnitten wurde. Es gab ordentlich gepflegte Pflanzen in Töpfen und zwei halbrunde Blumenbeete, auf denen kein gefallenes Blatt und keine welke Blüte den adretten Anblick störte.
Jonah fragte sich, ob der Garten Bretts Bereich oder der seiner Frau war. »Sehr hübsch«, sagte er. »Gartenarchitektonisch gestaltet?«
Brett schenkte ihm ein strahlendes blitzweißes Lächeln. »Leider ja. Aber von einer Freundin von mir. Ich kann Ihnen ihre Karte geben, wenn Sie möchten.«
Jonah lachte kurz und setzte sich. »Mein Garten ist leider ein kleiner Innenhof mit ein paar Blumentöpfen. Jede Beschäftigung damit wäre Zeitverschwendung.« Nicht ohne eine Spur von Neid blickte er auf den Pool. »Schwimmen Sie immer noch Triathlon-Distanzen?«
»Ja, aber nicht da drin.« Er lächelte trocken. »Zu klein. Ich kann es nicht leiden, pro Trainingseinheit fünfzig Wenden zu machen. Und für einen Triathlon trainiert man auch besser in der Natur, sonst ist es beim Wettkampf ein Schock, wenn man mit dem Kopf in die trübe Brühe taucht. Meistens schwimme ich ein paar Mal den Bach hoch und runter.« Er bedachte Jonah mit einem Blick, wie man ihm in einer Runde passionierter Sportler häufig begegnet. Einem Blick, der Physis und Fitness des anderen taxiert. »Betreiben Sie Wettkampfsport?«
Jonah schüttelte den Kopf. »Ich fahre gern Rad und laufe auch ganz gerne, aber wie viele Menschen war ich nie ein großer Schwimmer und habe auch keine Lust, einer zu werden. Wobei ich den Reiz des Triathlons schon verstehen kann. Ich mag Sportarten, die einen irgendwohin bringen.«
»Ich bin absolut Ihrer Meinung. Hallenmeisterschaften habe ich immer gehasst. Warum um alles in der Welt sollte man laufen ohne frische Luft um sich herum?«
Jonah merkte, dass Brett sich entspannte. Menschen konnten sich nur schwer vorstellen, dass sie in Schwierigkeiten waren, wenn man freundlich mit ihnen plauderte. Er war bereit, Brett gründlich aus der Fassung zu bringen, aber noch nicht sofort. »Wie läuft das Geschäft?«
»Sehr gut. Soweit ich weiß.« Er lächelte. »Anna ist die Geschäftsfrau. Ich erscheine bloß und halte nette Reden.«
Jonah nickte. Offensichtlich ein gut einstudierter Satz.
Als er das leise Klirren von Eis in einem Glas hörte, drehte er sich um und erblickte Anna. Sie hatte locker gebundenes blondes Haar und sehnige braune Beine und trug ein geblümtes Kleid, eine Perlenkette und weiße Sandalen mit Absatz.
»Danke, Liebling.« Brett erhob sich, um ihr beim Abladen des Tabletts zu helfen. »Das ist meine Frau Anna. Anna, das sind … Verzeihung, ich glaube, wir haben noch nicht …«
»DCI Sheens«, sagte Jonah und streckte die Hand aus. Ihre schlanken Finger waren vom Servieren der Gläser eiskalt und feucht, und sie wischte sie mit einem verlegenen Lächeln an ihrem Kleid ab. »Und DC Hanson.«
»Hat es etwas mit der Firma zu tun?«, fragte Anna. »Denn dann sollte ich besser dabei sein.«
Sie hatte etwas von einem widerspenstigen Schmetterling. Sie trat hinter ihren Mann, strich über seine Schultern und ging dann zu einem Stuhl, ohne sich zu setzen.
»Nein, nein, es hat nichts mit der Firma zu tun«, sagte Jonah lächelnd. »Aber bitte bleiben Sie. Es ist nichts Geheimes oder Peinliches.«
Anna lächelte, hockte sich auf die Stuhlkante und legte eine Hand auf das Bein ihres Mannes. Brett lehnte sich entspannt zurück.
»Heute Vormittag wurde in Brinken Wood eine Leiche gefunden«, sagte Jonah. »Wir haben Grund zu der Annahme, dass es sich um Aurora Jackson handelt.«
Er hielt den Blick auf Brett gerichtet. Am Rande seines Blickfelds bemerkte er, wie Annas Kopf herumschnellte, doch er konzentrierte sich auf den Mann, der Aurora zu dem Zeltplatz gefahren hatte.
Er sah, wie Brett die Gesichtszüge entglitten, bevor sich sein ganzer Körper anspannte. Jonah erkannte die Symptome eines Schocks. Mit dieser Nachricht hatte Brett nicht gerechnet, was immer er sonst denken mochte.
»Aurora? Wirklich? Ich habe immer …« Er brach ab und rieb sich mit dem Daumen die Stirn.
»Verzeihung?«
»Ich … ich dachte immer, sie würde irgendwo anders lebendig wieder auftauchen.« Er schüttelte nachdenklich den Kopf. »Mein Gott. Sie war in dem Wald? Wie konnten wir sie übersehen? Wir haben alles durchkämmt.«
»Sie lag unter der Erde«, sagte Jonah mit absolut ausdrucksloser Stimme. »Vergraben mit einem Vorrat von Dexedrin in einem Hohlraum unter einem Baum.«
Brett beugte sich vor, nicht, als wollte er sich aufrichten, es war eher ein Zusammensacken des Unterleibs. »Oh, Scheiße«, sagte er und hielt sich instinktiv einen Arm vor den Körper.
Jonah lächelte knapp. So sehr Brett von Auroras Entdeckung überrascht worden sein mochte, von den Drogen hatte er verdammt sicher gewusst.