Читать книгу Bis ihr sie findet - Gytha Lodge - Страница 14

11.

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Es war schon dunkel, als sie sich von dem Navigationsgerät von Bishop’s Waltham zu Jojos kleinem, farbenfrohem Haus außerhalb von Fritham lotsen ließen. Jonah erinnerte sich an eine sehr viel jüngere Version von Jojo Magos und an eine neunzehnjährige Version seiner selbst in Uniform.

Er erinnerte sich an zwei Gestalten, die vom Scheinwerferlicht des Streifenwagens erfasst worden waren. An das nur halb fertig gesprayte Hammer-und-Sichel-Graffiti und den fetten Schriftzug an der Seitenmauer der Co-op. Daran, wie die beiden sich umgedreht hatten, zwei kurze Haarschöpfe im Scheinwerferlicht, eine schützend vors Gesicht gehaltene Hand.

Sein Sergeant hatte scharf gebremst. Als Jonah aus dem Wagen sprang, hatte er noch gesehen, wie die beiden alles fallen ließen und losrannten.

»Ich nehm den Größeren!«, hatte sein Sergeant gerufen. Jonah war einverstanden. Er genoss die Herausforderung, die flinkere der beiden Gestalten einzufangen.

Als er die Verfolgung aufnahm, wäre er beinahe über einen fallengelassenen Pullover gestolpert. Er zögerte, als er die schwarze Che-Guevara-Silhouette auf weißem Grund erkannte. Der Sergeant war schon vor ihm, als er sich bückte, um ihn aufzuheben. Er fixierte die kleinere Gestalt und rannte ihr über die Hauptstraße hinterher.

»Polizei!«, rief der Sergeant. Woodman? Hatte er so geheißen? Jonah war sich nicht mehr sicher. »Stehen bleiben!«

Aber keine der beiden Gestalten blieb stehen. Die größere bog in die Romsey Road. Der Sergeant war kein von Natur aus agiler Mensch und wäre fast dran vorbei gestürmt. Jonah lief geradeaus weiter und verfolgte die andere Gestalt.

Gleich biegt sie ab, dachte er und lächelte, als er sah, wie sie die nächste Straße auf der rechten Seite nahm, weil er wusste, dass es eine Sackgasse war.

Jonah bog keine zehn Meter hinter ihr um die Ecke. Er war nicht so naiv zu glauben, sie in die Enge getrieben zu haben, und sie enttäuschte ihn nicht. Sie sprang an dem Gartenzaun am Ende der Straße hoch, fand mit beiden Händen Halt, stemmte sich mit den Füßen nach oben und schwang sich hinüber.

Jonah war widerwillig beeindruckt von der Behändigkeit und Geschwindigkeit, mit der sie verschwunden war. Obwohl sie schneller war als er, setzte er ebenfalls zum Sprung an. Für solche Verfolgungen hatte er hart trainiert und bekam nur selten Gelegenheit, seine Fertigkeiten anzuwenden. Er musste lächeln, während er sich den Pullover um die Schultern schlang und sich hochhangelte. Er schwang einen Fuß über den Zaun und ließ sich in den belaubten Garten auf der anderen Seite hinab.

Er hörte die leiser werdenden Schritte vor dem Haus und folgte ihnen im Sprint durch einen engen Gang. Als er den Vorgarten erreichte, sprang ein Bewegungsmelder an.

Die Gestalt war zu einer Seitenstraße weitergelaufen, die er vage wiedererkannte. Nicht vom Namen her, doch er war sich ziemlich sicher, dass sie ein Stück weiter in eine andere Straße mündete. Er nahm die Verfolgung der fliehenden Gestalt wieder auf, die inzwischen einen kleinen Vorsprung hatte.

Sie blieben nicht lange auf der Straße. Nach hundert Metern sprang die fliehende Gestalt mühelos über ein Tor und fand eine Lücke neben einem weiteren Haus. Irgendwann wusste Jonah nicht mehr, über wie viele Zäune sie gesprungen und durch wie viele Gärten sie gerannt waren. Er wusste auch nicht mehr genau, wo sie waren. Er vermutete, dass sie irgendwann in einem Bogen wieder zurück in die Richtung gelaufen waren, aus der sie gekommen waren.

Er wurde langsam müde, der Dauersprint und die Kletterei waren Mord für seine Lungen, und in seiner unbequemen warmen Uniform schwitzte er heftig. Aber er war wie ein Hund, der eine Fährte aufgenommen hatte; er würde nicht aufgeben.

Am Ende beging die flüchtende Gestalt einen Fehler; sie bog neben dem renovierten Stag Hotel rechts ab und stand dann vor einer glatten Backsteinmauer, die den Durchgang versperrte. Jonah musste abrupt abbremsen, um sie nicht umzurennen.

Eigentlich hatte er ihr Gesicht gar nicht sehen müssen, als sie sich rebellisch und vor Schweiß glänzend zu ihm umdrehte. Dass sie es war, hatte er sofort gewusst, als er den Aufdruck auf dem liegengelassenen Pullover gesehen hatte. Und ihre flinken Bewegungen hatten es wieder und wieder bestätigt.

»Du hättest es mir ein bisschen leichter machen können«, sagte er, nahm den Pullover von seinen Schultern und warf ihn ihr zu.

Sie stand nur da und starrte ihn wütend an. Dann blickte sie auf den Pullover zu ihren Füßen und wieder auf, argwöhnisch, auf dem Sprung. Er nickte ihr kurz zu und trat immer noch schwer atmend den Rückzug an. »Danke für das Training, Jojo«, sagte er. »Wir sehen uns.«

Erst als er sich umgedreht hatte und wieder losgetrabt war, rief sie ihm spöttisch nach: »Für einen Bullen bist du gar nicht mal so langsam, Sheens!«

Sein Sergeant wartete allein und ungeduldig bei dem Streifenwagen.

»Ich hab ihn verloren«, sagte er, als Jonah austrabte. »Er ist in einem der Sozialhäuser verschwunden, und ich habe nicht gesehen, in welchem.«

Jonah schüttelte den Kopf. »Bei mir das Gleiche. Das war ein verdammter Irrer. Ist über die Hälfte aller Zäune im Dorf und dann verschwunden.«

Sein Sergeant öffnete die Fahrertür. »Wenigstens müssen wir keinen Bericht über eine Festnahme schreiben.«

»Ja«, sagte Jonah und blickte zu dem roten Slogan an der Mauer.

Freiheit kennt weder Reichtum noch

Wahrscheinlich fehlte das Wort »Klasse«, und es war beinahe schade, den Satz nicht zu vollenden, aber in ein paar Tagen würde er ohnehin verschwunden sein. Übermalt.

Jonah war eingedöst, eingelullt von Hansons ruhiger Fahrweise und der Dunkelheit. Er wachte orientierungslos mit trockenem Mund auf, als seine DC sagte: »Sir?«

»Sorry.« Ihm fiel wieder ein, wo sie waren. Unterwegs zu Jojo Magos’ hellblauem Haus. Sie fuhren über eine nicht zu erkennende gewundene Straße. Er griff nach hinten, wühlte in seiner Sporttasche, bis er die Wasserflasche gefunden hatte, und trank einen großen Schluck. »Ich hab doch nicht geschnarcht, oder?«

»Nein, alles in Ordnung«, sagte Hanson mit einem Lächeln. »Und wenn Sie gesabbert haben sollten, dann nur aus dem anderen Mundwinkel.«

Jonah schüttelte den Kopf, rieb sich aber zur Sicherheit trotzdem über die Lippen.

»Also, Jojo Magos«, sagte Hanson, und einen beunruhigenden Moment lang dachte Jonah, sie wüsste von dem Abend in Lyndhurst, der Verfolgungsjagd und dem Pullover. Aber natürlich wollte sie bloß Informationen, weil sie die Befragung übernehmen sollte.

»Sie gehörte zum Kern der Gruppe, im Gegensatz zu Brett Parker«, sagte er. »War damals ein ziemlicher Wildfang. Ist sie eigentlich immer noch, soweit ich weiß. Arbeitet als Landschaftsgärtnerin. Haben Sie ihre Daten aufgerufen?«

»Wissen wir, was sie an jenem Abend gemacht hat?«, fragte Hanson. »Ich meine, wir müssen noch die Ergebnisse der Durchsicht von O’Malley und Lightman abwarten, aber …«

»In der Zusammenfassung wurde sie nur knapp erwähnt. Sie ist wie die anderen um kurz vor eins ins Bett gegangen. Das heißt, eigentlich hat sie sich so mehr oder weniger in einen Schlafsack gewickelt und auf dem Boden ausgestreckt. Sie hat ausgesagt, dass Connor sie am nächsten Morgen irgendwann kurz nach fünf wachgerüttelt und gebeten habe, ihm bei der Suche nach Aurora zu helfen, was sie offenbar getan hat.«

Hanson nickte. Sie hatte den Wagen auf Schritttempo verlangsamt, entweder weil sie in Gedanken versunken oder weil sie noch ein paar Minuten haben wollte, um sich zu sortieren. Das Navi erklärte ihnen, dass sie ihr Ziel in anderthalb Kilometer erreicht haben würden.

»Gehörten Sie zu den Beamten, die damals ermittelt haben?«, fragte sie plötzlich.

»Nur ganz am Rande.« Er sah sie an. »Ich hatte kurz zuvor meine Ausbildung abgeschlossen und war uniformierter Police Constable. Wie die übrigen Mitglieder der lokalen Wache wurde ich losgeschickt, um an Türen zu klopfen. Und ich habe bei der Suche unzählige Stunden in dem Wald verbracht. Zwei Tage nach Auroras Verschwinden wurde die Fläche, die wir durchkämmt haben, auf fünfzig Quadratkilometer ausgedehnt. Es war eine außergewöhnlich umfangreiche und intensive Suche. So etwas habe ich danach nie wieder erlebt. Ich glaube, die meisten von uns haben in den ersten paar Wochen kaum geschlafen. Es ist unglaublich, dass wir die Leiche übersehen haben sollen.«

»Ich nehme an, damals hat man all das gemacht, was wir jetzt auch machen? Die Jugendlichen befragt?«

»Endlos«, bestätigte Jonah. »Monatelang. Ich hatte mich schon richtig daran gewöhnt, jede Woche mitzukriegen, wie der ein oder andere von ihnen zur Vernehmung reingebracht wurde. Vor allem Connor Dooley.«

»Wieso er?« Sie hielt an und blickte ihn aufmerksam an. In dem fahlen Licht sahen ihre Augen viel härter aus als sonst.

»Weil sie ihn für einen Assi hielten«, antwortete Jonah. »Und weil er irischer Abstammung ist. Das war während der Hochzeit des Nordirlandkonflikts. Außerdem war er von oben bis unten tätowiert und berüchtigt dafür, in Schlägereien zu geraten. Er war die naheliegende Wahl.«

»Aber man hat nichts gefunden?«

»Nein.« Er sah sich um. Hinter ihnen war ein Paar Scheinwerfer aufgetaucht. Hanson legte den ersten Gang ein und fuhr hastig los. »Nein, soweit ich weiß, nicht. Was natürlich nicht heißt, dass es nichts zu finden gab. Vielleicht hat man nur am falschen Ort gesucht.«

Jojos Haus tauchte vor ihnen auf. In der Dunkelheit sah es eher weiß als taubenblau aus, und die Kletterpflanzen in ihrem Vorgarten, die das halbe Haus überwucherten, wirkten nicht fröhlich, sondern trostlos.

Von der Straße aus kannte Jonah das Haus ziemlich gut. Ein alter Schulfreund hatte es ihm gezeigt, und wenn er seither hier vorbeifuhr, bremste er jedes Mal, um die Farben zu betrachten. Einmal hatte er Jojo sogar in einem ärmellosen T-Shirt im Vorgarten arbeiten sehen, das Gesicht mit Erde verschmiert und vor Schweiß glänzend. Sie hatte nicht aufgeblickt, und er war weitergefahren und hatte sich irgendwie wie ein Voyeur gefühlt.

»Und irgendwann wurden die Ermittlungen eingestellt?«, fragte Hanson, blinkte und bog langsam in die Auffahrt.

»Das Leben ging weiter«, erwiderte Jonah. »Anfang vierundachtzig plante eine Gruppe IRA-Fanatiker, das Rathaus von Southampton in die Luft zu sprengen. Man war äußerst alarmiert darüber, wie nahe sie ihrem Ziel gekommen waren, und wir konzentrierten uns darauf, sie zu ergreifen, anstatt ein vermisstes Mädchen zu finden. Auroras Akte blieb jedoch offen, und gelegentlich flammte das Interesse wieder auf.«

Er fügte nicht hinzu, dass er sich jedes Mal freiwillig für die Sonderkommission gemeldet hatte, wenn die Ermittlungen wieder aufgenommen wurden. Dass er eigentlich nie aufgehört hatte, Aurora zu suchen.

Hanson schaltete mit nachdenklicher Miene den Motor ab. »Und nun liegt alles noch viel weiter zurück«, sagte sie. »Aber jetzt haben wir eine Leiche. Und eine klar umrissene Liste von Verdächtigen, nehme ich an.«

»Wir werden sehen, was uns das bringt«, sagte er und stieg aus.

Für einen Besuch war es spät. Nach zehn. Eine unhöfliche Zeit. Er hoffte, dass Jojo nicht schon zu Bett gegangen war. Sonst müssten sie unverrichteter Dinge wieder abziehen und es morgen noch einmal versuchen. Andererseits wäre er dann vielleicht nicht mehr so benommen und könnte besser unterscheiden zwischen dem Menschen, der er heute war, und dem, der er damals gewesen war.

Er drückte sich an dem ramponierten dunkelroten Jeep Wrangler mit dem heruntergeklappten Verdeck vorbei. Auf der Ladefläche standen Bambuspflanzen. Die Einfahrt war von fast wild wirkenden Pflanzen gesäumt, doch der Weg zur Haustür war makellos gepflastert – sauberer Mörtel zwischen cremefarbenen Fliesen.

Sie mussten sich unter einer Clematis ducken, die üppig an einem Spalier wucherte. Die Haustür war bereits einen Spaltbreit offen. Dahinter wartete eine schlanke gebräunte Gestalt in einer Pluderhose aus Baumwolle und einem ärmellosen T-Shirt.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Ihre ganze Erscheinung drückte Vorsicht aus. Jonah sah die angespannten Muskeln ihres Oberarms, die fest gegen die Tür gedrückten Finger, bereit, sie sofort zuzustoßen. Die Haltung erinnerte ihn so frappierend an die an jenem Abend in Totton in die Enge getriebene Gestalt, dass es verwirrend war.

»Wir sind von der Polizei Southampton«, sagte Hanson. »Ich bin DC Hanson, und das ist DCI Sheens. Dürfen wir reinkommen?«

Jonah war sich sicher, dass er sich ihre Reaktion bei der Erwähnung seines Namens nicht nur einbildete. Sie entspannte sich ein wenig und lächelte vorsichtig. Im Gegensatz zu ihren Freunden hatte Jojo ihn erkannt.

»Okay«, sagte sie und fügte dann ein wenig kokett hinzu: »Wenn Sie versprechen, dass ich keinen Ärger bekomme.«

Hanson lächelte, Jonah zuckte knapp die Schultern. Jojos Lächeln verblasste ein wenig, doch sie trat von der Tür zurück, um sie hereinzulassen.

Hanson machte Jonah ein Zeichen vorzugehen, und er folgte Jojo. Sie ging immer noch wie jemand, der die meiste Zeit in Bewegung war, mit lockeren, federnden, raumgreifenden Schritten.

Das Haus war ordentlicher und geräumiger, als er erwartet hatte. Von außen wirkte es wie ein Puppenhäuschen, doch der Flur öffnete sich zu einer großen Küche, die auf der einen Seite um einen Wintergarten, auf der anderen um ein Wohnzimmer erweitert worden war. Blau- und Gelbtöne sowie gebleichtes Holz dominierten, frische, fröhliche Küstenfarben. Auf einem kleinen Beistelltisch aus Eiche stand ein blauweißer Teebecher, daneben lag ein umgedrehtes aufgeschlagenes Buch. Keine Anzeichen dafür, dass außer ihr sonst noch jemand hier wohnte, was er auch nicht erwartet hatte. Soweit Jonah dank des örtlichen Klatschs im Bilde war, hatte Jojo seit Jahren keine Beziehung mehr gehabt. Nicht seit sie ihren Freund durch einen Kletterunfall verloren hatte.

»Dürfen wir uns setzen?«, fragte Hanson.

Jojo nickte, ließ sich auf einem Sessel gegenüber dem Sofa nieder und sah sie fragend an.

»Und? Was ist los?«

Diesmal war es an Hanson, die Tatsache in Worte zu fassen, dass ein lange vermisstes Mädchen tot aufgefunden worden war.

»In Brinken Wood wurden sterbliche Überreste gefunden. Sie gehören Aurora Jackson.«

Jojo blieb ganz still und nickte dann langsam. Mit leicht zitternder Hand griff sie nach ihrem Teebecher.

»Es war ja irgendwie klar, dass sie tot ist, oder?«, sagte sie und trank einen großen Schluck. »Trotzdem ist es nicht schön, es zu wissen. Was ist Ihrer Ansicht nach passiert? Wurde sie ermordet?«

»Wir versuchen herauszufinden, was geschehen ist«, erwiderte Hanson ausweichend mit dem Instinkt einer guten Polizistin. »Wir würden Sie gern fragen, ob Sie etwas über den Fundort wissen. Es war ein Hohlraum unter einem Baum.«

»Was?«

Ein Wort wie ein Peitschenknall. Beinahe wütend.

»Der Fundort der Leiche befindet sich am Ufer des Flusses, ein Hohlraum unter einer Buche. Wissen Sie etwas darüber?«

Jojo stieß ein eigentümlich harsches Lachen aus. »Natürlich weiß ich davon. Es war unser geheimes Versteck, unser Depot für eine solche Unmenge an Drogen, dass wir sie in unserem ganzen Leben nicht hätten aufbrauchen können.« Sie warf Jonah einen beinahe flehenden Blick zu. »Müssen Sie wissen, woher sie stammten?«

Jonah beugte sich vor, um Hanson zu signalisieren, dass er die Frage beantworten würde. »Wir haben diese Information bereits von einem anderen Zeugen bekommen, aber es wäre nützlich zu hören, was die anderen dazu zu sagen haben.«

»Das ist so … seltsam«, sagte Jojo, und ihre Blicke zuckten hin und her, als würde sie sich an etwas erinnern. Dann konzentrierte sie sich wieder auf Jonah. »Wurde sie dort abgelegt? War es vorsätzlich? Denn das würde bedeuten … es war einer von uns.«

Jonah hielt ihren Blick und registrierte, wie ihr Gesicht jede Farbe verlor. »Das ist durchaus möglich«, sagte er.

Es entstand eine Pause. Er hatte das Gefühl, dass Jojo ihn mit ihren Blicken durchbohrte.

»Wir wissen noch nicht, was passiert ist«, sagte Hanson schließlich über ihren Blickkontakt hinweg. »Deshalb müssen Sie uns alles erzählen, was vielleicht hilfreich sein könnte.«

Jojo rutschte auf ihrem Stuhl hin und her, blickte zu Hanson und nickte.

»Ich sehe dabei nicht gut aus. Ein Freund meines Bruders hatte ein Problem. Er hatte für irgendeinen reichen Wichser in Southampton einen Riesenvorrat an Dexedrin gekauft. Und dann wurde besagter Wichser kurz vor dem Kauf wegen des Besitzes von Kokain hochgenommen, und der Freund meines Bruders saß in der Scheiße. Ich habe es Benners erzählt und ihn gefragt, ob er das Zeug kaufen wollte. Ich habe ihm gesagt, dass er es für praktisch nichts kriegen könnte …« Jojo zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, ob das als Dealerei zählt oder so. Aber ich hab es eingefädelt. Ich habe den Kontakt hergestellt. Benners’ Eltern waren steinreich, und es schien eine großartige Gelegenheit zu sein. Wir dachten, wir würden einfach auf den Drogen hocken und sie nach und nach nehmen. Wir standen damals voll auf Dexedrin. Es war unser Wachmacher für Partynächte, und Benners hat es manchmal benutzt, um den Abgabetermin für eine Hausarbeit zu schaffen.«

»Wie viel war es?«, fragte Jonah und dachte daran, was Brett Parker gesagt hatte.

»Fünfzehn Kilo«, antwortete Jojo. Ihr Mund zuckte leicht. »Eine irre Menge. Damit wären wir jahrelang ausgekommen.«

Jonah zeigte keine Reaktion. Er erinnerte sich an den Haufen kleiner Päckchen. Es waren nicht annähernd fünfzehn Kilo gewesen. Nicht mal ein Kilo.

»Und wie lange vor jenem Abend fand der Kauf statt?«, fuhr Jonah fort. Er spürte, wie Hanson sich neben ihm anspannte. Anders als angekündigt, überließ er ihr nicht die Führung.

»Ein paar Wochen. Nicht besonders lang«, sagte Jojo. »Es war immer noch ein neuer, großer, aufregender Kick.«

»Also können bis dahin höchstens ein paar hundert Gramm verbraucht gewesen sein.«

»Wenn überhaupt«, sagte Jojo. »Wir waren eigentlich alle keine starken Konsumenten, keiner von uns.«

»Und nachdem Aurora verschwunden war, hat die Gruppe beschlossen, es dort liegen zu lassen?«, fragte Jonah.

Jojo lächelte leer und stellte den Becher hart auf den Tisch. »Wir mussten die Suche nach ihr lostreten, und wir wussten, dass es dort früher oder später vor Polizisten wimmeln würde. Wir hatten eine Scheißangst und haben beschlossen, das Zeug dazulassen. Dass Aurora einfach so verschwunden ist, hat einen … Schatten über alles geworfen, nehme ich an. Keiner von uns wollte noch was mit dem Zeug zu tun haben. Zumindest habe ich das gedacht, wenn ich überhaupt daran gedacht habe. Wir haben hinterher nicht mehr über die Drogen gesprochen.«

»Keiner von Ihnen hat sie mehr erwähnt?«, fragte Hanson neugierig. »Überhaupt nicht?«

Jojo zögerte.

»Nein, nicht … Ich glaube, Benners war ziemlich erpicht darauf, dass wir uns von dort fernhalten. Schließlich war er derjenige, der in der Scheiße gesteckt hätte, wenn es rausgekommen wäre.«

»Hat er Ihnen gesagt, dass Sie sich fernhalten sollen?«

»Nicht ausdrücklich.« Jojo zuckte mit den Achseln. »Er meinte bloß, eine Zeit lang müssten wir alle so tun, als würde der Ort gar nicht existieren.«

»Hat er gesagt, wie lange?«, bohrte Hanson nach. »Er hat nicht erwähnt, dass er später dorthin zurückkehren wollte?«

»Er hat wie gesagt überhaupt nicht viele Worte darüber verloren. Zumindest kann ich mich nicht daran erinnern. Ich bin davon ausgegangen, dass es allen anderen ging wie mir. Es war, als ob die Drogen beschmutzt worden wären.« Sie atmete nervös ein. »Mein Gott. Sie war die ganze Zeit dort und hat darauf gewartet, dass einer von uns dorthin zurückkehrt, aber keiner ist gekommen.«

Außer dass einer von euch vielleicht doch zurückgekommen ist, dachte Jonah.

Nach einem kurzen Schweigen fragte Hanson leise: »Wusste Aurora von den Drogen?«

»Oh ja, sie wusste davon«, antwortete Jojo. »Wir wussten es alle, sogar Brett. Topaz hat vor ihm damit angegeben, und weil sie es ihm zeigen wollte, musste Aurora es auch sehen.«

»Das heißt, Topaz war an Brett Parker interessiert?«

Jojo lachte leise. »Ja. Damals hatte Connor keine Chance. Der arme Connor. Er musste zugucken, wie sie die ganze Zeit um Brett herumscharwenzelt ist, der damals einfach nur total selbstgefällig war. Wahrscheinlich wird man so, wenn einen alle bewundern. Ich glaube, Auroras Verschwinden hat ihn ein wenig erwachsener werden lassen.«

»Und war Brett umgekehrt auch an Topaz interessiert?«

»Nein, eigentlich nicht. Das war wahrscheinlich frustrierend für sie. Es gab nicht viele, die sie abgewiesen haben.«

Während Hanson Jojo weiter befragte, stand Jonah auf. Er spürte Jojos Blick auf sich, als er durch das Zimmer wanderte und nach Spuren der letzten paar Jahrzehnte suchte.

»Wie nahe stehen Sie sechs sich heute?«, fragte Hanson.

»Ziemlich nah. Es hat sich so ergeben, dass wir uns damals alle ziemlich oft gegenseitig stützen mussten. Brett ist als Erster weggezogen, weil er in der Jahrgangsstufe über uns war und nach Loughborough gegangen ist, aber sobald er das Geld hatte, hat er sich hier ein Haus gekauft, das allmählich zum Mittelpunkt von allem geworden ist.«

»Haben Sie über Aurora gesprochen?«

»Ja, natürlich. Aber wir haben auch über viele andere Dinge gesprochen. Wir waren Freunde.«

Jonah war zu einem Regal geschlendert, das an der Stelle stand, wo der Raum auf den angebauten Wintergarten stieß. Darin standen sechs gerahmte Fotos. Er erkannte Jojos jüngeren Bruder Kenny, der immer noch in Lyndhurst lebte und dort im Outdoor-Shop arbeitete.

»Und heute?«, fragte Hanson.

»Wir haben uns ein bisschen aus den Augen verloren, als Topaz und Connor weggezogen sind«, antwortete Jojo. »Ich meine, Daniel und Brett treffe ich nach wie vor unabhängig von den anderen. Coralie lebt mittlerweile in London und hat sich nicht übermäßig bemüht, Kontakt zu halten. Dieses mangelnde Interesse beruht durchaus auf Gegenseitigkeit.«

Jonah speicherte diese Informationen, während er weiter die Fotos betrachtete. Auf zwei Bildern waren Kinder zu sehen: Nichten und Neffen, die Kinder von Jojos älterem Bruder, vermutete er. Ein Foto zeigte Jojos Vater als jüngeren Mann, mit olivfarbener Haut, grinsend in einem Overall bei der Reparatur eines Daches.

Eins der beiden anderen Fotos nahm Jonah aus dem Regal. Eine Aufnahme von einer etwas jüngeren Jojo, um die dreißig, pitschnass an einem verregneten Tag, das Gesicht eng an das eines Mannes geschmiegt. Im Hintergrund sah man ein stürmisches Panorama von Meer und Klippen, im Vordergrund grinsten die beiden trotz des scheußlichen Wetters in die Kamera.

Er hörte, wie Jojo aufstand, sich recht nah neben ihn stellte und aufgewühlt von einem Fuß auf den anderen trat.

»Das ist Aleksy«, sagte sie. »Er war mein Freund.«

Jonah nickte. Er hatte Aleksy Nowak, berühmter Freeclimber und adoptierter Sohn des Städtchens New Forest, von dem Foto aus der Zeitung wiedererkannt. Jojo hatte einen Nachruf geschrieben.

»Ich habe von seinem Tod gehört. Es tut mir leid.«

Jojo schüttelte den Kopf und rieb sich den Unterarm. »Er kannte Aurora nicht. Ich habe ihn erst viel später kennengelernt.«

»Entschuldigung«, sagte Jonah leise und stellte das Foto wieder weg. »Ich sollte nicht … ich bin nicht hier, um in deinem Leben rumzuschnüffeln.«

»Schon gut. Das ist okay.«

Hanson stand auf, bevor sie sich wieder setzen konnten. »Ich denke, das ist für heute Abend alles«, sagte sie und sah Jonah fragend an.

Er nickte und erklärte Jojo: »Wir sehen dich dann morgen. Um elf.«

»Okay. Eigentlich wollte ich klettern, aber es sieht ohnehin so aus, als würde es stürmisch werden.«

Jonah sah sie neugierig an. »Du kletterst noch?«

Jojo nickte und zuckte ein wenig defensiv die Schultern. »Sonst hätte ich noch etwas verloren, das ich liebe.«

Sie begleitete sie bis zur Tür und sah ihnen nach, während sie zum Wagen gingen. Erst als sie eingestiegen waren, schloss Jojo die Haustür.

Eigentlich hätte Jonah sein Fahrrad in Godshill abholen und die zwanzig Kilometer nach Hause radeln sollen. Er hasste es, sein Rad irgendwo angeschlossen, aber außer Sichtweite stehen zu lassen, selbst in Godshill mit seiner niedrigen Kriminalitätsrate. Aber mittlerweile war es fast elf, und er musste vor der morgigen Pressekonferenz noch einmal die Zusammenfassung durchlesen.

»Setzen Sie mich zu Hause ab«, erklärte er Hanson. »Mein Fahrrad hol ich morgen.«

»Klar«, sagte sie und nach einer Pause: »Wo ist zu Hause?«

Er seufzte. »Sorry. Ich lebe in Ashurst.«

»Können Sie? …« Sie zeigte auf das Navi, und er gab Straße und Postleitzahl ein.

»Also diese Drogen …«, begann Hanson, als sie auf der Straße waren.

»Sind ein interessanter Aspekt«, stimmte Jonah ihr zu.

»Wie viel haben wir dort gefunden?«

»Einen Bruchteil der Menge«, antwortete er.

»Daniel Benham ist offensichtlich dorthin zurückgekehrt«, sagte Hanson. »Und wenn er die Leiche gesehen und es nicht gemeldet hat, ist er höchstwahrscheinlich auch der Mörder.«

»Irgendjemand hat irgendwann eine große Menge von Dexedrin aus der Umgebung von Aurora Jacksons Leiche entfernt«, korrigierte Jonah sie, »und er hat es danach nicht gemeldet. Wir wissen nicht, ob es einer von ihnen war, und wir können uns schon gar nicht sicher sein, dass es Daniel Benham war.«

»Aber es wäre doch naheliegend, oder?«, beharrte Hanson.

»Naheliegend reicht nicht«, sagte er.

Hanson atmete vernehmlich aus, erwiderte jedoch nichts. In dem Schweigen, das sich zwischen ihnen ausbreitete, ging Jonah im Kopf noch einmal die Befragung von Jojo durch. Seine Gedanken kreisten unwillkürlich um das Gespräch über das Foto und das, was Jojo über ihren Freund gesagt hatte. Erst nach einer Weile bemerkte er, dass Hanson ihn ansah, wann immer sich die Gelegenheit bot.

»Sie waren mit ihr befreundet, oder?«, sagte sie. »Mit Jojo. Deshalb sollte ich die Befragung übernehmen.«

»Nur sehr lose«, antwortete er. »Eigentlich war ich mit ihrem älteren Bruder befreundet. Manchmal war ich bei ihnen oder hab mit den beiden im Park rumgelungert. Das hab ich in meiner Kindheit oft gemacht.«

»Sie machen sich also keine Sorgen wegen eines möglichen Interessenkonflikts? Sie stehen sich nicht nahe?«

»Nein, besonders eng waren wir nie«, sagte Jonah und fühlte sich wieder in der Defensive. Er begriff allmählich, dass Hanson nicht gern locker ließ. »Wahrscheinlich sind wir uns danach noch vier, fünf Mal begegnet, haben Hallo gesagt, mehr nicht. Und auch das ist schon lange her. Nach Beginn meiner Polizeiausbildung habe ich auch ihren Bruder nicht mehr getroffen. Es war eine bewusste Entscheidung. Er hatte so viele kleinkriminelle Freunde, und ich wusste, dass er selbst es auch nicht so mit dem Gesetz hatte. Obwohl ich glaube, dass er inzwischen sauber ist.«

Hanson nickte nachdenklich und sagte dann: »Zu ein paar von der Sorte hab ich auch alle Bindungen gekappt.«

Er war überrascht. Er hatte ihren Lebenslauf gelesen und sie für eher brav und puritanisch gehalten, aus ganz anderen Verhältnissen stammend als er selbst. Dabei wusste er nur zu gut, dass ein Lebenslauf nicht alles erzählte.

»Nun, das ist gut«, fügte sie lächelnd hinzu. »Mit entfernten Bekannten sollte es keine Komplikationen geben.«

»Nein«, stimmte Jonah ihr zu. »Wird es nicht.«

Und er versuchte, nicht an all die Dinge zu denken, die er ihr verschwieg.

Bis ihr sie findet

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