Читать книгу Bis ihr sie findet - Gytha Lodge - Страница 4

1.

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Jonah war auf halber Strecke den Blissford Hill hinauf, als das Telefon in der Reißverschlusstasche am Rücken seines Radlertrikots vibrierte. Er überlegte, nicht ranzugehen, doch dann hatte er das Bild seiner Mutter im Krankenhaus vor Augen; direkt gefolgt von dem leicht schwindelerregenden Gedanken, es könnte Michelle sein. Völlig irrational natürlich wie jedes Mal, wenn er das in den letzten acht Monaten gedacht hatte, aber er dachte es trotzdem.

Er unterbrach den zermürbenden Anstieg und bremste mit zusammengebissenen Zähnen. Beim Abspringen stieß er sich das Schienbein an der Pedale und war ziemlich ungehalten, als er das Telefon endlich aus der Tasche gezerrt und auf dem Display die Nummer von Detective Sergeant Lightman erkannt hatte.

»Ben?«, fragte er und hielt das Telefon dann ein Stück vom Mund weg, um sein Keuchen zu kaschieren.

»Tut mir leid, Chief.« In seiner Stimme lag kein Bedauern. In seiner Stimme lag eigentlich nie irgendwas. Michelle hatte ihn immer Barbie genannt. Außergewöhnlich hübsch und gefühllos. Allerdings war er deutlich intelligenter als Barbie. »Ein Anruf von Detective Chief Superintendent Wilkinson. Er möchte, dass Sie Ihren Urlaub verschieben, um einen potenziellen Mord zu untersuchen. »

Jonah ließ den DS warten. Er blickte zu der Hügelkuppe, die im Schatten von Bäumen lag. Der Anstieg wäre eine echte Schinderei, aber genau das wollte er. Seine Beine sehnten sich danach. Als er mit der freien Hand den Rennradlenker packte, spürte er den Schweiß auf der Handfläche. Er hatte das in letzter Zeit viel zu selten getan.

»Sir?«

»Wo?«, fragte er, ohne seine Verärgerung zu verbergen.

»Brinken Wood.«

Wieder entstand ein Schweigen, diesmal jedoch unabsichtlich. Jonah war für einen Moment wirklich sprachlos.

»Frische Überreste?«, fragte er schließlich, obwohl er die Antwort schon zu kennen glaubte.

»Laut dem DCS nicht«, erwiderte der Sergeant, der zu jung war, um es zu verstehen.

Sein Radausflug war beendet, aber Jonah fühlte sich mit einem Mal ohnehin zu alt dafür. Er konnte sich nicht erinnern, sich jemals alt gefühlt zu haben.

»Schicken Sie einen Wagen, der mich in Godshill abholt. Sie sollen die Sporttasche hinter meinem Schreibtisch mitbringen. Und finden Sie jemanden, der mir ein Deo leiht.«

»Ja, Sir«, antwortete Lightman so gemessen wie immer.

Jonah steckte das Telefon wieder in die Tasche seines Funktionsshirts. Der Schweiß auf seiner Haut kühlte schon ab und ließ ihn frösteln. Er sollte sich wieder auf den Weg machen. Bis nach Godshill waren es noch ein paar Kilometer.

Doch er blieb noch eine ganze Minute lang regungslos stehen, bevor er sich endlich in Bewegung setzte und das Fahrrad langsam den Hügel hinaufschob.

Hanson hatte es so eilig, aus dem Wagen zu steigen, dass sie mit dem Ärmel ihres teuren neuen Anzugs an der Tür hängen blieb und einen Faden zog. Ihr wurde leicht übel. Eigentlich hatte sie sich die Teile ohnehin nicht leisten können. Sie hatte sie zusammen mit drei anderen Anzügen in ihren ersten beiden Wochen als Detective Constable gekauft, weil sie vorher nur Jeans, Tanktops und Pullover sowie ein paar Kleider zum Ausgehen besessen hatte. Anzüge waren verdammt teuer. Und es tat ihr leid um das Geld, das sie stattdessen für ihr unzuverlässiges Auto hätte ausgeben können. Oder vielleicht sogar für ein Privatleben, das sie irgendwann offenbar komplett vergessen hatte.

Sie strich den Ärmel glatt und fragte sich, ob ihre Mum sich die Stelle vielleicht ansehen könnte, vorausgesetzt, sie würde es in nächster Zeit schaffen, ihre Mutter zu besuchen. Bei Verdacht auf Mord musste sie vielleicht das ganze Wochenende durcharbeiten. Nächtelang nur von Koffein leben, bis sie den Mörder gefunden hatten. Der Gedanke ließ sie lächeln.

Sie betrat das Criminal Investigation Department und sah Lightmans Kopf vor seinem Bildschirm. Sie fragte sich, wie lange er schon da war und ob er in seinem Leben noch irgendetwas anderes machte. Ob es eine Lightman-Frau oder Lightman-Kinder gab, die einfach noch nie zur Sprache gekommen waren. Irgendwie sah er aus wie ein untreuer Ehemann. Zu hübsch und zu verschlossen. Vielleicht waren es aber auch ihre eigenen jüngsten Erfahrungen, die ihre Sichtweise verzerrten.

Lightman bemerkte sie und lächelte knapp. »Ich hab den Chef erreicht. Jemand muss ihn abholen und zum Tatort fahren.«

»Wird gemacht«, antwortete Hanson sofort. »Wo ist er?«

»Godshill«, sagte Lightman. »Er ist mit dem Rad unterwegs.«

Hanson nickte und tat so, als wüsste sie genau, wo Godshill lag, dabei würde sie es gleich in ihr Navi eingeben. Nach zwei Wochen in dem Job kannte sie im Prinzip nur die Strecke von zu Hause zum Kommissariat und zum Supermarkt und von dort zum Hafen, wo sie in einem potenziellen Betrugsfall ermittelt hatte. Sie vermisste die Sicherheit, mit der sie sich durch Birmingham bewegt hatte, die Stadt, in der sie aufgewachsen war und wo sie für zwei Jahre als Constable gearbeitet hatte. Obwohl sie zugeben musste, dass New Forest viel hübscher war.

»Das wirst du brauchen«, sagte Lightman und reichte ihr eine dunkelgraue Sporttasche. »Und ich würde ihm trotz der knappen Zeit einen Kaffee mitbringen. Er wird nicht glücklich darüber sein, dass er an seinem freien Tag gestört wurde.«

»Okay. Einfach … Filterkaffee? Keinen Latte oder irgendwas?«

Lightman lachte. »Gott bewahre. Hast du noch nie eine von seinen Tiraden über Kaffeevariationen abbekommen?«

»Nein, aber die sind bestimmt toll.« Sie hängte sich die Sporttasche über die Schulter. »Okay. Sonst noch was? Weißt du schon, um was es sich handelt?«

Lightman schüttelte den Kopf. »Der zuständige Sergeant wird den Fall am Fundort dem Chief übergeben. Er wird euch berichten, was man bis jetzt weiß, aber wenn die Tat schon länger zurückliegt, wird es noch nicht viel sein.«

Hanson nickte und unterdrückte ein Lächeln. Über die Nachricht von einem Mord sollte man nicht lächeln, selbst wenn er schon Urzeiten her war. Aber in Wahrheit freute sie sich darüber.

Hanson war so aufgedreht, als sollte sie gleich ihre Prüfungsergebnisse erfahren. Sie plapperte auf Jonah ein, über die Sporttasche und den Kaffee, um dann, ohne Luft zu holen, nach den Überresten zu fragen. Jonah fand das irgendwas zwischen rührend und nervig.

»Ben hat gesagt, es wäre vielleicht ein älterer Fall.«

»Ich würde warten, bis die Forensiker eine Meinung äußern«, erwiderte er und trank einen großen Schluck Kaffee. »Die meisten Leute – mich eingeschlossen – haben keinen Schimmer, wie alt Knochen sind.«

Nachdem er eben noch geschwitzt hatte, fröstelte ihn jetzt selbst in dem Anzug, den er sich in einer öffentlichen Toilette in Godshill angezogen hatte. Er starrte aus dem Fenster und hing seinen Gedanken von vor dreißig Jahren nach. Er unterbrach Hansons Redefluss und bat sie, die Heizung hochzudrehen. Als sie an dem Regler drehte, geriet der Fiat kurz ins Schlingern, stabilisierte sich aber rasch wieder.

»Tut mir leid«, sagte sie.

»Ich bin dankbar, dass Sie fahren«, sagte er und lächelte dünn. »Und der Kaffee war auch eine kluge Idee. Damit haben Sie meine Laune zumindest für ein paar Stunden erträglich gemacht.«

»Hm. Ein paar Stunden. Dann muss ich vorher entweder einen Starbucks finden oder in Deckung gehen?«

»So ungefähr«, sagte Jonah.

Dann waren sie plötzlich in Brinken Wood. Auf einem gekiesten Parkplatz standen etliche Streifenwagen und uniformierte Beamte. Zwangsläufig erinnerte Jonah sich daran, wie es damals hier ausgesehen hatte. Der Parkplatz war noch nicht mit Kies, sondern mit Schlamm und Rindenmulch bedeckt gewesen, aber genauso überlaufen von Polizisten. Die Frisuren waren anders, die Gesichter irgendwie gleich.

Als sie angehalten hatten, stieg Jonah mit dem Kaffeebecher in der Hand aus dem Wagen. Er hatte das Gefühl, in der Zeit zurückzureisen. So viele Monate hatten sie hier mit der endlosen Suche verbracht.

Er ging auf den Sergeant zu. »DCI Sheens. Das ist DC Hanson.«

Vor zwei Wochen hatte Hanson noch denselben Dienstgrad gehabt wie der Sergeant, aber wenn man sich zum Detective ausbilden ließ, musste man de facto eine Degradierung hinnehmen und wieder Detective Constable werden. Jonah erinnerte sich, dass er seinerzeit in der gleichen Lage nie gewusst hatte, wer mehr zu sagen hatte, und er fragte sich, ob es Hanson ähnlich ging.

Am Haaransatz des Sergeants hatten sich Schweißtropfen gebildet. Seine Augen waren geweitet, sein Lächeln war knapp und nervös. Sein Police Constable, ein untersetzter Mann Mitte zwanzig, wirkte deutlich ruhiger.

Jonah richtete seine Frage an die Lücke zwischen den beiden: »Wer hat die Überreste gefunden?«

Der Sergeant antwortete. »Ein Arzt auf Zelturlaub mit seiner Familie. Genau genommen seine Tochter, aber er hat angeru fen.«

»Wie alt ist die Tochter?«

»Neun«, sagte der Constable. »Scheint ihr aber gut zu gehen. Den Vater hat es härter getroffen.«

»Sind sie noch hier?«

»Wir haben sie gebeten, an ihrem Zeltplatz zu warten. Er ist nicht in Sichtweite des Fundorts.«

Jonah nickte und ließ den Sergeant vorgehen, obwohl er den Weg kannte. Es war der Platz, wo sich vor dreißig Jahren sieben Jugendliche zum Schlafen hingelegt hatten, aber nur sechs am nächsten Morgen aufgestanden waren.

Dr. Martin Miller saß ein Stück abseits seiner Familie. Die Frau des Arztes sah dem Jungen zu, der auf einem iPad spielte. Das Mädchen wirbelte am Rand des Zeltlagers Staub mit den Füßen auf.

Jonah sprach die Mutter an.

»DCI Sheens.« Er lächelte. Er hatte lernen müssen zu lächeln, während sein Verstand von komplizierten und dunklen Gedanken beherrscht wurde, die sich wie eine gesprungene Scheibe zwischen ihn und die Welt schoben. »Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich kurz mit Ihrer Tochter spreche?«

»Jessie!«, rief ihr Vater schrill und gereizt. »Hör auf, Staub aufzuwirbeln. Du machst alles dreckig.«

Das Mädchen wirkte halb erschrocken und halb aufmüpfig. Sie schlurfte zu ihrer Mutter, setzte sich hastig und blickte zu Jonah auf, die Knie knapp unter dem Kinn.

Ihre Mutter legte einen Arm um sie und drückte sie kurz. »Du hast doch nichts dagegen, mit der Polizei zu sprechen, oder Jessie?«, fragte sie ihre Tochter.

Jessie schüttelte den Kopf.

»Wir haben auch nur wenige Fragen«, sagte Jonah mit fester Stimme. »Nur ein paar Details zu dem, was du gefunden hast.«

»Klar.«

»Sie weiß gar nichts«, unterbrach ihr nicht viel älterer Bruder sie. Die Verachtung großer Geschwister war Jonah immer außergewöhnlich heftig vorgekommen.

Er blickte zu dem Jungen, der sie jetzt beide mürrisch beobachtete, und überlegte, ihn wegzuschicken, ließ es dann aber.

Er ging vor Jessie in die Hocke. »Also, ein paar Fragen an dich.«

Das Mädchen sah ihn erneut argwöhnisch an und ließ den Blick dann weiter schweifen. Sie nahm einen Kieselstein und warf ihn zur Seite, dicht gefolgt von einem zweiten.

»Jessie, Herrgott noch mal!« Wieder der Vater. Viel näher jetzt. »Hör auf, mit Sachen zu schmeißen, und guck den Polizisten an, wenn er mit dir redet. Das ist wichtig!«

Jonah lächelte dem Arzt angestrengt zu. »Das ist schon okay, machen Sie sich keine Sorgen.«

»Jessie!«

Es war, als hätte Jonah gar nichts gesagt.

Das Mädchen warf ihrem Vater einen aufsässigen Blick zu und schaute dann, so gut sie es zwischen den Fransen ihres geraden braunen Ponys hindurch konnte, zu Jonah auf. Der bemühte sich, ruhig zu bleiben, trotz der Unterbrechungen des Vaters, dem es keineswegs darum ging, der Polizei behilflich zu sein, sondern nur um Kontrolle.

»Sind Sie ein Inspektor?«, fragte Jessie leise.

Jonah lächelte. »Ja, sogar ein Detective Chief Inspector.«

Jessies Blick blieb ein wenig misstrauisch. »Heißt das, Sie sind für alles zuständig?«

»Ja.« Damit schien sie einigermaßen zufrieden, also sprach er weiter. »Kannst du mir sagen, was du gemacht hast, als du die Knochen gefunden hast?«

Jessie blickte zu ihrem Vater und sagte leise: »Ich hab mich versteckt.«

Jonah sah, wie ihre Mutter das Gesicht verzog, aber sie machte keinen Versuch, es zu leugnen.

»Verstecken macht Spaß«, sagte er. »Diese Höhle unter dem Baum. War die schon da? Oder hast du die gegraben?«

Jessie schüttelte den Kopf. »Ich bin einfach reingegangen und hab mich hingesetzt. Dann hat mich was gepiekt, und ich hab es aus dem Boden gezogen.«

Jonah nickte. »Klar. Und es ließ sich ganz leicht rausziehen?«

»Ja. Ich dachte – ich dachte, es wäre eine Wurzel oder vielleicht eine Pflanze. Aber dann hab ich gesehen, dass es ein Finger ist.«

»Das hast du gut gemacht«, sagte Jonah nickend. »Das hätte nicht jeder erkannt.«

Jessie nickte, lächelte schüchtern und stand auf. Ihre Mutter zog sie an sich und umarmte sie kurz.

»Ich möchte, dass sie für ein paar Tage nicht mit ihren Schulfreundinnen darüber spricht«, sagte Jonah zu Mrs Miller, nachdem sie ihre Tochter losgelassen hatte.

»Das ist kein Problem, in den nächsten paar Wochen trifft sie niemanden. Wir wollen unseren Urlaub fortsetzen, aber woanders.«

Privat unterrichtete Kinder, begriff er. Sie waren schon einen Monat vor dem Ferienbeginn der staatlichen Schulen im Urlaub.

»Gut. Es wäre besser, wenn zunächst noch nicht darüber geredet wird.«

»Selbstverständlich.«

Er hörte Dr. Miller näher kommen.

»Sind wir hier fertig? Es ist ein schöner Tag, und ich glaube nicht, dass wir noch viel hinzuzufügen haben.«

»Ja, wir sind fertig. Vielen Dank für Ihre Geduld.«

Als Jonah aufstand, erteilte der Arzt seinen Kindern bereits Befehle zu packen und scheuchte sie zum Zelt.

Jonah ertappte sich dabei, Mrs Miller zu beobachten, die ebenfalls aufstand und ein paar halb leere Tüten mit Rosinen und eine Tasse einsammelte.

»Tut mir leid, dass Ihr Urlaub unterbrochen wurde«, sagte er.

»Das macht nichts«, sagte sie und winkte ab, bevor sie sich zu ihrem Mann umblickte. »Martin ist bloß … Für ihn ist es nicht so toll.« Sie senkte die Stimme. »Der Urlaub sollte ihn ablenken … Es geht ihm sehr schlecht. Sie sagen, die Chance, dass er bis Weihnachten überlebt, beträgt nur fünfzig Prozent.«

Jonah nickte und fragte sich, ob sie es gewohnt war, sich für ihren Mann zu entschuldigen. Er begriff, dass der Mann Krebs hatte und diese Knochen für ihn eine Begegnung mit der Sterblichkeit gewesen waren. Er empfand einen Hauch von Mitleid.

Die Ausgrabung dauerte schon anderthalb Stunden. Dutzende von Fotos wurden gemacht, ein Zelt wurde über dem Fundort errichtet, acht Tüten wurden mit sorgfältig etikettierten Knochenfragmenten gefüllt.

Allen war heiß, alle waren gereizt. Jonah hatte einen bitteren Geschmack im Mund, stundenalter Kaffee. Er konnte die Füße nicht still halten und verspürte einen kräftezehrenden Hunger, der es ihm schwer machte, sich zu konzentrieren.

»Schon irgendwelche Erkenntnisse?«, fragte Hanson, nachdem sie mehrmals zum Parkplatz und wieder zurück gelaufen war.

Die Aufregung war in Langeweile umgeschlagen, die einzige verlässliche Konstante im emotionalen Spektrum eines Detective.

»Ich denke, es wird noch eine Weile dauern«, sagte Jonah. »Es ist eine alte Leiche … das ist zeitaufwendig.«

»Können wir sonst irgendwas …?«

»Wir können hier sein, wenn sie uns sprechen wollen«, sagte er und deutete ein Lächeln an.

Gut zwanzig Minuten später stieg Linda McCullough behutsam aus der Bodensenke und kam auf ihn zu. Er war froh, dass McCullough die Spurensicherung leitete. An einem Tatort, der bestenfalls noch zarte Reste von Indizien aufwies, musste man geradezu zwanghaft vorsichtig sein.

»Wie läuft es, Linda?«

»Wir werden noch einige Zeit damit beschäftigt sein, alles einzusammeln.« Sie nahm ihre Maske vom Gesicht und schob sie über ihre weiße Kapuze. Ihr wettergegerbtes Gesicht war schweißnass, was wohl bei jedem, der bei dem Wetter einen Overall hätte tragen müssen, so gewesen wäre. Aber McCullough schien es gar nicht zu bemerken. »Um Ihnen wenigstens eine erste Rückmeldung zu geben: Es handelt sich um ein pubertierendes Mädchen im fortgeschrittenen Zustand der Verwesung.«

»Wie fortgeschritten?«

»Es ist nur eine grobe Schätzung, aber mehr als zehn Jahre. Und weniger als fünfzig.«

Dreißig Jahre, dachte er. Dreißig.

Einen Moment lang fand er es schwer zu glauben, dass so viel Zeit vergangen war. Ihn durchzuckte das Gefühl, den größten Teil seines Lebens verschlafen zu haben wie Rip van Winkle. Der hatte wahrscheinlich auch diese seltsame Mischung aus Wut und Schuld empfunden.

»Linda!«

McCullough drehte sich um und schirmte die Augen gegen die Sonne ab. Ein zweiter weißer Bioanzug beugte sich aus dem Zelt.

»Ich habe weitere Proben geborgen. Kannst du dir das mal ansehen?«

»Sicher.«

Sie setzte ihre Maske auf, kletterte vorsichtig zum Fundort hinunter und verschwand wieder in dem Zelt.

»Also wenn es ein Mord war, ist er lange her«, sagte Hanson, und Jonah wurde kurz von dem weißen Papier ihres Notizblocks geblendet, als sie eine Seite umschlug. Sie klang enttäuscht, nichts ahnend von den gewaltigen Implikationen, die sich hinter diesen Zahlen verbargen. »Und es ist ein Mädchen im Teenageralter.«

»Es ist dreißig Jahre her«, sagte er. »Und es ist Aurora Jackson.«

Bis ihr sie findet

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