Читать книгу Bis ihr sie findet - Gytha Lodge - Страница 3
Prolog
ОглавлениеSie schlidderte und rutschte die Böschung hinunter, landete mit ihren Sportschuhen hart auf dem ebenen Boden des Flussufers und schwankte kurz, hielt aber das Gleichgewicht.
»Jessie!«
Als sie ihren Namen hörte, spürte sie ein Kribbeln der Aufregung. Sie zögerte kurz und ging dann weiter. Bloß ihr Bruder, nicht Dad. Oben auf dem Hang. Ihr Bruder würde sie nicht anbrüllen, weil sie allein losgelaufen war.
Es war still. Viel stiller als um den Campingkocher, wo unablässig Dads Befehle ertönten. Ihre Ohren waren voll vom Rauschen der Blätter und lebhaftem Vogelgezwitscher.
Sie trat aus dem Schatten der Bäume, die Sonne brannte Muster auf ihre vom Klettern schon heiße Haut. Sie schirmte die Augen gegen das grelle, vom Wasser reflektierte Licht ab. Sie hätte ihre Sonnenbrille mitnehmen sollen und überlegte, ob sie umkehren und sie holen sollte. Aber sie wollte auf keinen Fall gesehen werden. Denn dann würde man sie auf Schmutz inspizieren und anweisen, sich zu waschen, den Tisch zu decken und aufzuräumen.
Geblendet trat sie in den Schatten der Uferböschung. Wohin sie auch blickte, sah sie blaue Muster. Über ihr breitete eine Buche ihre Äste aus, und Wurzeln wölbten sich aus dem Boden wie platt gedrückte Krocket-Tore. In einem blieb sie mit dem Fuß hängen und stolperte. Kurz glaubte sie, ins Wasser zu fallen, und ihr Herz setzte für einen Schlag aus. Im Schatten unter dem Baum sah der Fluss dunkel und unheimlich aus. Aber sie war eigentlich nicht nah genug, um hineinzufallen, und sie fing sich schnell wieder.
Die Erde vor ihr war ausgehöhlt. Wie eine Hängematte, in die sie sich kuscheln wollte.
»Jessie!«
Na super. Diesmal war es ihr Dad und viel näher. In dem Ton, der eine Antwort verlangte. Aber vor ihr lagen die kühle Erde und ein Versteck. Sie streckte erst einen, dann den anderen Fuß in den Hohlraum. Sofort wurde ihr kühler, und sie setzte sich auf den leicht bröckeligen Boden. Sie stellte sich vor, sie sei eine Dörflerin aus dem frühen Mittelalter, die sich im Wald versteckte, während die Wikinger ihr Haus plünderten.
Aber der Boden war nicht so weich wie erhofft. Wurzeln drückten gegen ihr Becken und ihren Rücken. Sie rutschte hin und her, um eine bequeme Position zu finden. Dabei verhakten sich ihre Shorts an irgendwas, das sie am Bein piekte.
Sie streckte die Hand aus, löste den Stoff und spürte, wie die Wurzel in ihrer Hand zerbröselte. Als sie sie hochhob, blickte sie nicht auf altes Holz, sondern auf braune Flocken und die bleichen weißen Umrisse eines frisch freigelegten Knochens.
Auch ohne ihren Vater, der Arzt war, wusste sie, dass sie einen menschlichen Finger in der Hand hielt.