Читать книгу Bis ihr sie findet - Gytha Lodge - Страница 6
3.
ОглавлениеJonah nahm Hanson mit zum Haus der Jacksons außerhalb von Lyndhurst. Er hätte es auch ein paar Sozialarbeitern der Gemeinde überlassen können, die nächsten Verwandten zu informieren, doch es war ihm ein Bedürfnis, selbst dorthin zu fahren. Vielleicht um zu trösten; vielleicht weil er dreißig Jahre auf einen Abschluss gewartet hatte.
Die Jacksons waren nie aus New Forest weggezogen. Das war bei Vermisstenfällen der üblichere Ausgang. Während ein Mord eine Familie häufig forttrieb, band ein ungelöster Vermisstenfall sie an den Ort, wo der oder die Vermisste gelebt hatte. Denn es gab immer die vage Hoffnung, dass sie eines Tages nach Hause kommen würden.
Die siebenhundert Meter lange Zufahrt war mittlerweile fast unpassierbar. Der Belag aus Sand und Schotter war zu einem Minenfeld aus Schlaglöchern verkommen. Hanson fluchte, als der linke Vorderreifen durch ein tiefes Loch holperte und der Unterboden des Wagens über getrockneten Schlamm schrammte. Sie riss das Lenkrad heftig herum, um einem weiteren Schlagloch auszuweichen; Jonah musste sich am Armaturenbrett abstützen.
»Sorgt die Gemeinde nicht für neuen Straßenbelag?«, fragte sie.
»Privatweg«, antwortete Jonah. »Die Jacksons waren noch nie große Fans von Asphalt. Sie sind ein bisschen alternativ. Obwohl ich ehrlich gesagt nicht weiß, ob es Liebe zur Natur oder bloß Faulheit ist.«
»Ich habe nichts gegen die Natur, wenn sie die Finger von meinem Wagen lässt«, murmelte Hanson.
Sie hielt auf einer dürftig gerodeten Fläche vor einem einstöckigen Haus. Jonah öffnete die Wagentür über einem ausgetrockneten Schlammkrater, trat hinein und spürte, wie spitze Steine sich durch die Sohle seines Schuhs in seinen Fuß bohrten.
Er war erst halb ausgestiegen, als die ramponierte Haustür geöffnet wurde. Eine rundliche, unsicher wirkende Gestalt in einer dicken Strickjacke und einem selbstgefärbten Kleid stand in der Tür und blinzelte in die Sonne.
»Guten Morgen, Mrs Jackson. Entschuldigen Sie die Störung, aber dürfen wir reinkommen?«, fragte er möglichst neutral.
»Ich … Ja. Ja, ich denke schon.« Sie trat etwas weiter aus dem Schatten einer verdorrten Glyzinie. »Es ist doch nicht wegen Topaz, oder?«
Jonah schüttelte den Kopf, Hanson antwortete für ihn.
»Mit Ihrer Tochter ist alles in bester Ordnung, Mrs Jackson«, sagte sie mit einem warmen Lächeln, und Jonah war froh, dass er sie mitgenommen hatte.
»Wir wollten mit Ihnen bloß über eine neue Entwicklung im Fall von Auroras Verschwinden sprechen«, fügte er hinzu.
Joy Jackson drehte sich kurz zum Haus um und steckte die Hände in die Taschen ihrer Strickjacke.
»Ja, ja, natürlich. Warum kommen Sie nicht …«
Sie trat nervös von einem Fuß auf den anderen, während Jonah und Hanson vorsichtig über den überwucherten Pfad mit seinen teilweise lockeren Pflastersteinen balancierten.
Von nahem war Joy rosiger und faltiger, als Jonah sie in Erinnerung hatte. Runde Wangen mit einem Netz von roten Äderchen; Augen, die unablässig in runzeligen Höhlen hin und her zuckten.
Als sie sich umdrehte, verströmten ihre Kleider Lavendelduft. »Kommen Sie rein. Ich hol Tom. Tom!«, rief sie mit schriller Stimme, als sie in den dunklen Flur trat. »Tom!«
Der Flur war wegen der Mäntel, Schuhe, diverser Outdoor-Klamotten und Kisten beinahe unbegehbar, aber Joy war offen bar schon lange daran gewöhnt und fand einen Weg, ohne hinzusehen.
»Kommen Sie in die Küche. Ich setze Teewasser auf. Tom!«
Die Küche war genauso unordentlich. Ein Ende des riesigen Eichentischs war frei geblieben, der Rest mit Zeitungen, Briefen und Münzen bedeckt.
»Machen Sie sich keine Umstände, wenn Sie selbst keinen Tee wollen«, sagte Jonah, während Joy drei Schränke öffnete, bis sie eine Teedose fand. Sie drehte sich damit um und hielt unschlüssig inne.
Jonah drückte sich an der Tischkante entlang und sah sich um. Die Arbeitsflächen waren von einem Schmierfilm überzogen; darauf war wie ein Ornament schmutziges Besteck ausgebreitet, hin und wieder unterbrochen von einem größeren Objekt. Ein altes Stück Rohr. Ein Tennisschläger. Ein Hammer.
Die gebeugte Gestalt, die in der Tür auftauchte, ließ Jonah stutzen. Ohne die ungepflegten grauen Haare und den Vollbart hätte er sie nie als Tom Jackson erkannt, den er als arroganten, wohlerzogenen und eindeutig autistischen Sonderling in Erinnerung hatte. Kaum noch eine Spur von dem streitlustigen Mann, der in seinem verbeulten Volvo in Lyndhurst aufgekreuzt war und sich in regelmäßige Fehden mit der Gemeindeverwaltung oder dem Postamt verstrickt hatte. Er war nur noch ein Schatten seiner selbst.
»Polizei, stimmt’s?«
Die Stimme war ebenfalls leblos. Jonah erinnerte sich an die Wut des Mannes nach Auroras Verschwinden. Wie er mit dem Finger in die Luft gestochen und ihnen erklärt hatte, was sie falsch machten und warum sie Aurora nicht finden konnten. Vielleicht brannten dreißig Jahre Wut einen Menschen aus.
»Ja, Tom.« Joy hatte sich wieder in Bewegung gesetzt und füllte einen uralten Kessel mit Wasser. »Möchtest du …? Ich mach eine Kanne.«
Tom zog sich einen Holzstuhl heran, nahm schwerfällig darauf Platz und sah Hanson und Jonah nacheinander an. Offenbar verlor er schnell das Interesse an beiden, denn sein Blick wanderte zu einem blassen Gemälde an der Wand.
Die nur vom Rauschen des Kessels untermalte Stille dehnte sich bis zur Unbehaglichkeit. Jonahs Geduld war aufgebraucht, bevor das Wasser kochte.
»Wir wollten als Erstes mit Ihnen sprechen. Es hat heute Morgen eine neue Entwicklung gegeben.«
Joy brach in hektische Aktivität aus, schob Tassen über den Tisch, steckte die Hände suchend in beide Taschen und zog sie leer wieder heraus.
»Sie haben Neuigkeiten zu Aurora, Tom«, sagte sie.
»Ja. Das dachte ich mir.«
Jonah fing einen Blick Toms auf, aus dem eine so tiefe Gleichgültigkeit sprach, dass er unwillkürlich wegguckte.
»Eine offizielle Identifizierung muss noch erfolgen«, sagte Jonah, »aber wir haben in der Nähe des Zeltplatzes, wo Aurora verschwunden ist, sterbliche Überreste gefunden. Geschlecht und Alter stimmen überein, und die Überreste sind dem Anschein nach etwa dreißig Jahre alt.« Er wartete auf eine Reaktion. Tom schnippte sich eine Strähne aus den Augen, während Joy den Blick aus irgendeinem Grund fest auf Hanson gerichtet hielt.
»Wir glauben, es ist Ihre Tochter«, schloss Jonah so sanft wie möglich.
Joy starrte mit schlaffem Kinn ins Leere, bevor sie unbeholfen eine Tasse auf den Tisch stellte.
»Sie … Oh, Tom.« Sie atmete geräuschvoll ein, schluchzte und wandte sich ab, um ihr Gesicht zu verbergen. »Tom. Oh, Tom. Sie ist …«
Hanson legte tröstend den Arm um ihre Schultern. Tom Jackson zeigte keine Regung, sah seine Frau nur mit leerem Blick an.
»Nun, war doch klar, dass sie nicht mehr lebt, oder?«, sagte er schroff. »Dreißig Jahre und kein verdammtes Wort. Natürlich ist sie tot.«
Zwanzig vor neun an einem Sonntag. Connor Dooley hätte ein freies Wochenende haben sollen, doch er musste trotzdem früh ins Büro, um Arbeiten zu korrigieren und die Institutsratssitzung vorzubereiten. Das kam zunehmend häufiger vor: Ferien und Wochenenden wurden allmählich von Sitzungen, Papierkram und Mediationen vereinnahmt. Genau wie seine Räume. Die schlichten Mahagoniplatten waren von Aktenordnern und Briefumschlägen bedeckt, die wenigen freien Flächen matt und verstaubt.
Heute bereitete Connor sich auf einen Kampf vor. Es war ein frustrierender und unnötiger Kampf, ausgelöst durch den störrischen Geiz des Finanzverwalters. Vor einem Jahr war eine dringend notwendige neue Stelle eingerichtet worden. Die Geschichtsdozenten waren schon lange überlastet gewesen; das College nahm immer mehr Doktoranden und Masterstudenten an. Selbst mit der neu geschaffenen Stelle lagen sie acht Prozent unter dem Betreuungsschnitt. Aber er hatte geglaubt, diesen Kampf zumindest teilweise gewonnen zu haben – bis Lopez eine Professur an der Glasgow University angenommen und der Finanzverwalter verkündet hatte, dass er die Stelle nicht neu besetzen wolle. Er hatte Connor unverblümt erklärt, der zusätzliche Dozent sei ein Luxus gewesen, den man sich nicht länger leisten könne. Die drei aktuellen Dozenten könnten die zusätzliche Arbeit untereinander aufteilen.
Also saß Connor am Sonntagmorgen, noch bevor die Cafés auf der West Nicholson Street öffneten, in seinem Büro, um Tabellen und Diagramme zu den zeitlichen Verpflichtungen seines Lehrkörpers auszudrucken. Er würde den Finanzverwalter mit Fakten erschlagen. Und wenn diese Taktik scheiterte, könnte er den Mann vielleicht einfach zum Abendessen einladen. Manchmal war alles Kämpfen unnötig, wenn seine Frau im kleinen Schwarzen auf einen Kollegen zuging.
Das Summen seines Telefons war ihm halb willkommen, ein Vorwand, die Aufbereitung der Daten zu verschieben. Ein Grund, die Phantasie zu verdrängen, dass er den Finanzverwalter mit beiden Händen an seinem schwabbeligen Hals packen wollte.
Topaz. Rief sie an, um das Mittagessen abzusagen? Er erinnerte sich vage, dass sie sich in Sportkleidung mit zurückgekämmtem Haar in aller Herrgottsfrühe mit einem Kuss von ihm verabschiedet hatte.
Er wusste nicht mehr genau, was sie vorgehabt hatte. Früher als üblich trainieren offensichtlich. Danach würde sie irgendwo einen Kaffee trinken gehen. Eins dieser Treffen, die halb Geschäftstermin, halb privater Plausch waren.
»Hey, T«, sagte er. »Alles okay?«
»Sie haben sie gefunden.«
Es war ein eigenartiger Moment. Er hörte die Emotion in ihrer Stimme, konnte sie jedoch nicht genau einordnen. Er wusste, wen sie meinte, ohne dass sie es aussprechen musste. Die Vorstellung, Topaz könnte ihm berichten, sie habe all die Jahre gelebt und sich nur versteckt, ließ ihn kurz schwindeln.
»Ist sie …«
»Sie hat den Zeltplatz nie verlassen.« Jetzt hörte er die Schärfe in ihrer Stimme. »Man hat Überreste in der Nähe des Flusses gefunden. Sie ist es. Sie ist …«
Die folgende Pause war lang und schrecklich. Es war aussichtslos, seine Frau auf irgendeine sinnvolle Weise trösten zu wollen, doch er versuchte es trotzdem.
»Oh, Topaz«, sagte er. Und dann: »Ich komm dich abholen.«
Ein feuchter Atemzug.
»Sorry … ja. Bitte. Wir sollten runterfliegen. Es gibt bestimmt Flüge …«
Connor zögerte, dachte an den Finanzverwalter und den Kampf, den er unweigerlich verlieren würde, wenn er jetzt wegfuhr. Aber dieser Gedanke wurde von der Erinnerung an einen heißen, dunstigen Sommer und ein Mädchen mit einer Korona aus blondem Haar durchschnitten.
»Klar. Ich sag die Sitzungen morgen ab. Wir sollten hinfahren.«
Er legte auf und stand eine Weile reglos da.
Sie war also beim Fluss …
Er dachte darüber nach, was das bedeutete. Dann klappte er den Laptop zu und begann, seine Sachen wieder einzupacken.