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Kapitel 4: Ein Minimum an Mitgefühl.
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Deutschland, Schlosshotel der Burg Rheinfels bei St. Goar. Sonntag, 12. Oktober 2014, 8:50 Uhr. Ein Minimum an Mitgefühl.
Das beinahe grimmige Schnurren des auf Vibrationsalarm gestellten IPhones weckte Sax um kurz vor neun Uhr am Morgen. Er stellte sogleich fest, dass der Platz im Bett neben ihm leer und Silke Wedding verschwunden war, und überlegte einen Moment, ob ihr Besuch vielleicht nur ein feuchter Traum gewesen sein könnte. Allerdings hing immer noch ihr angenehm verschwitzter Heugeruch in den Bettlaken, die sie in den frühen Morgenstunden zerwühlt hatten. Irgendwann war er befriedigt eingeschlafen und hatte nicht gemerkt, wann sie ihn wieder verlassen hatte. Das Essen, der Alkohol, die Tänze und der nächtliche Verkehr hatten ihn schließlich in den ungewöhnlich tiefen, wenn auch kurzen Schlaf fallen lassen, zu dem er nur fähig war, wenn er absolut entspannt sein konnte.
Freysing angelte nach dem Quälgeist auf einem kleinen Zimmertisch und war nicht überrascht, auf dem Display die Anzeige „Musikschule“ zu lesen: Wer sonst sollte ihn an einem Sonntagmorgen wecken, wenn nicht seine Dienststelle?! - Er nahm das Gespräch an und meldete sich, fast etwas genervt, nach einem tiefen Durchatmen.
„Saxophon!“
„Guten Morgen, Freysing!“, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung, die er trotz der elektronischen Verzerrung des Zerhackersystems unschwer als jene von Generalmajor Stoessner identifizierte, der seit einiger Zeit die militärische Abteilung TE (Terrorismus und internationale organisierte Kriminalität) beim Bundesnachrichtendienst leitete. Sein Vorgesetzter in Berlin klang bereits in diesen ersten Worten trotz Wochenende und früher Tageszeit hellwach und munter, gleichzeitig aber sehr besorgt.
„Ist etwas passiert?“, fragte Sax sogleich, noch gereizt über die Störung. Nach der „Stahlmann“-Affaire hatte er im Sommer nur einen kurzen Urlaub genommen und mit Cathleen „Katie“ Conquête, seiner neuen Freundin, in Frankreich verbracht, um dann bald wieder auf geheime Missionen geschickt zu werden. Er fand, er habe sich durchaus noch, oder wieder, etwas Auszeit verdient. Wenn man ihn allerdings zum heiligen Sonntag weckte, bedeutete das sicher nicht, dass er in seinem Büro in München-Pullach die Sachen packen sollte, um nach Berlin-Mitte umzuziehen, wo sich das neue BND-Hauptquartier befand. Stoessner schien den Unterton zu bemerken.
„Es ist!“, sagte dieser nämlich ungewöhnlich scharf. „Haben sie einen Fernseher in der Nähe?“
Freysing bejahte, schlug die Bettdecke zur Seite, stand auf, ging nackt wie er war durch das Zimmer und schaltete das kleine Gerät ein, das sich ein Stück weit schräg gegenüber des Bettes in einer Wandhalterung befand. Intuitiv suchte er mit der danebenliegenden Fernbedienung einen Kanal, der ganztägig Nachrichten und Reportagen brachte und sah dann mit einer Mischung aus Verwunderung und Fassungslosigkeit die ersten Bilder des Anschlagsortes in Bonn, allerdings nur mit herunter geregelter Lautstärke. Dann trat er zurück und setzte sich auf die Bettkante.
„Heute Morgen wurde in Bonn ein Sprengstoffanschlag auf den Nachtexpress Zürich-Amsterdam verübt“, vernahm er nun Stoessners Stimme weiter, während die Bilder im Hintergrund beinahe ohne Ton liefen. „Nach bisherigen Einschätzungen gab es dabei über vierhundert Tote und noch zweimal so viel Verletzte.“
„Gute Güte!“, brachte Freysing, jetzt ebenfalls hellwach, schluckend hervor. „Gibt es schon etwas Konkretes?“
„Die Spezialisten sind vor Ort. Man ist dabei, die Feuer zu löschen und die ersten Spuren zu sichern. Sicher ist nur, dass es kein Unfall war. Es gab eine gewaltige Explosion, der weitere Verlauf und die Umgebungsschäden weisen auf eine kleine Bombe mit enorm großer Sprengkraft im Zug hin.“
„Nuklear?“, fragte Sax alarmiert.
„Nein, glücklicherweise nicht.“, beruhigte sein Chef. „Aber es reicht auch so!“
Aus dem Fernsehen und Stoessners weiterem Erzählen entnahm Freysing nun, das anschließend noch der Kesselwagenzug in die Stelle hineingefahren war, was das Ausmaß der Schäden multipliziert hatte. Er erkannte die qualmenden Überreste des ehemaligen Vorstadtbahnhofs „Bonn-Mehlem“ und bemühte sich, seine aufkommende Wut abzuschütteln. Wäre der Nachtexpress pünktlich gewesen, dann hätte dieses Schicksal gar den Bonner Hauptbahnhof ereilt!
Sax hatte in seinem geheimen Leben schon viel Leid gesehen, natürlich auch zahlreiche Tote und Verletzte, jedoch war es ihm nie gelungen, gegenüber solchen Bildern eine kalte Gleichgültigkeit an den Tag zu legen. Hier waren Menschen gestorben, Menschen, die eben noch mitten im Leben standen, Pläne hatten oder Pläne schmiedeten, mit Verwandten, Freunden, Vertrauten, Angehörigen, die nun um sie trauern und sie vermissen würden. Der innere Bezug zu Opfern einer Tat hatte für ihn immer eine sehr motivierende Bedeutung gehabt. Die professionelle Kaltschnäuzigkeit, die anderen Vertretern seiner Berufsgattung zu Eigen war, konnte er notfalls abrufen wie eine zweite Haut, aber dann war das nicht mehr wirklich „er selbst“. Er hatte sich stets dieses Minimum an Mitgefühl bewahrt.
„Inwiefern kann - und soll - unser Dienst da was tun?“, fragte er sodann heiser.
„Das Kanzleramt steht unter Druck. Wenn, wie zu befürchten ist, das ein terroristischer Akt war, dann wird man uns natürlich fragen, ob und warum die Auslandsaufklärung keine Hinweise auf so etwas gebracht hat.“
„Und? Hatte sie?“
„Auch während ihres Urlaubes waren wir tätig, Sax!“, meinte Stoessner etwas knurrend, wurde aber sogleich wieder sachlich. „Es gab in der letzten Zeit dutzende von Hinweisen, die darauf hindeuteten, dass ein Anschlag innerhalb unseres Landes stattfinden sollte. Aber nichts wirklich Greifbares. Wir haben mit Berlin gerechnet, mit Frankfurt, München, oder Hamburg, und die Sicherheit möglicher sogenannt weicher Ziele wurde überall auf unseren Ratschlag hin erhöht. Mit einem Anschlag bei Bonn oder überhaupt auf einen Personenzug hat niemand mehr gerechnet, seitdem diese Möchtegern-Attentäter vom Bonner Bahnhof dingfest gemacht wurden, und sich die Al-Quaida-Drohungen gegen Schnellzüge 2013 als heiße Luft entpuppten.“
Zwei Jahre vorher hatte man versucht, auf dem Bonner Hauptbahnhof eine Bombe zur Explosion zu bringen, aber das war glücklicherweise an dem Unvermögen der Attentäter gescheitert. Und es hatte beständig Hetzschriften gegeben.
„Islamisten?“ Freysing war skeptisch. Allzu schnell schob man jedes Attentat weltweit seit 2001 irgendwelchen islamistischen Verschwörern in die Schuhe.
„Es gibt noch kein Bekennervideo.“ stellte Stoessner fest. „Die sind mit so etwas ja normalerweise recht fix. Auf Al Djasira herrscht Schweigen…“
„Wer käme noch in Frage?“
„Radikale deutsche oder europäische Gruppierungen, zum Beispiel. Aber zur Zeit sind das alles Spekulationen.“
„Und, mein Part?“
„Fahren sie erst mal nach Bonn. Beim AMK hat´s auch ein paar Scheiben weggeblasen.“, erklärte Stoessner.
Die als „AMK“ – Amt für Militärkunde – oberflächlich getarnte Einrichtung war zu dem Zeitpunkt noch die personalführende Dienststelle des BND in Bonn-Mehlem in der Straße „Am Nippenkreuz“, welche für die militärischen Angehörigen des Dienstes zuständig ist und somit auch für Günter Freysing. Sobald der BND vollständig von Pullach nach Berlin gewechselt war, sollte das Amt im Rahmen eines politischen Ausgleichs nach München umziehen. Der Komplex wurde gemeinhin, da in Rheinnähe liegend, mit „Chiemsee“ tituliert. Es ist kein wirklicher „Tarnname“, da er sogar im Internet steht, er ist jedoch zutreffend. Dieser Hintergründe bewusst, gab Freysing nur ein knappes „Hm!“ von sich, bevor sein Chef fortfuhr.
„Damit haben wir zumindest einen eigenen offiziellen Anwesenheitsgrund, sie wissen ja, die Befugnisse…! Am besten verschaffen sie sich selbst einen Eindruck vor Ort.“, wies Stoessner ihn an. Dann fügte er hinzu: „Wir sehen uns dann am Standort ´Chiemsee´, sagen wir um sechzehn Uhr. Bis dahin werden wohl auch erste Untersuchungsergebnisse der Kriminaltechnik vorliegen.“
Freysing bestätigte die Order und sie beendeten das Telefonat. Dann erhob er sich, absolvierte die Morgentoilette und kleidete sich neu ein: Weißes Hemd, grauer Straßenanzug, dunkle Halbschuhe. Nichts Auffälliges. Seine Waffe lag unten im BMW, ebenso wie seine Ausweise auf den Namen Freysing. Anschließend packte er seinen kleinen Reisekoffer, um ihn in Ruhe selbst zum Fahrzeug zu bringen und schließlich im Gemeinschaftsraum des Hotels ein kurzes Frühstück zu sich zu nehmen.
Von den Frischvermählten und von Silke Wedding war nichts zu sehen, es gab allerdings vereinzelte Hochzeitsgäste, die trotz der gestrigen Schlemmerei ebenfalls bereits vom reichhaltigen Buffet nahmen. Das Archäologenpaar war darunter, allerdings ohne den Sohn, und auch die Anwältin, die neben ihm an seinem Tisch gesessen hatten, außerdem Susannes Onkel Hermann und noch sechs oder sieben andere Personen beiderlei Geschlechts, die er vom Sehen von der Feier her kannte.
Sax suchte zum Frühstück in seinen Hotels selten das Gespräch, sich jedoch abzusondern, hätte man hier vielleicht als unhöflich empfunden, und so setzte er sich, obwohl sehr in Gedanken, schräg gegenüber der Anwältin an einen sonst freien Vierertisch, nachdem er sich vom Buffet etwas Brot, Butter und leichte Wurst zusammengeklaubt hatte. Eine Hilfskraft fragte etwas zu hartnäckig, ob er ein Ei wünsche, was er jedoch etwas abwesend verneinte, bestellte allerdings gern einen Pfefferminztee.
Dann begann er mit Appetit zu essen. Der Sex mit Silke hatte auch ihn hungrig gemacht, unbeachtet des opulenten Mahles über den Samtsagnachmittag hinweg. Wenn er erst einmal im Einsatz war, stellte sich oft die Frage, wann das nächste Mal die Zeit für etwas Nahrungsaufnahme blieb. Er nutzte daher jede Gelegenheit, auch wenn es dann nur eine Kleinigkeit war.
Der zunächst geglaubte „Unfall“, der so weit entfernt ja nicht stattgefunden hatte, war bereits Gesprächsthema über die Tische hinweg. Natürlich kam dabei schnell die Gewissheit auf, dass es sich um einen Anschlag handeln müsse, was von den Medien auch zunehmend bestätigt wurde.
Die wildesten Vermutungen wurden angestellt, wer es denn auf die Deutsche Bahn abgesehen haben könnte. Die ganze Unterhaltung war geprägt von Halbwissen über die islamistische Szene und andere extremistische Gruppierungen, die in den letzten Jahren auf dem Kontinent gelegentlich von sich Reden gemacht hatten.
Irgendwann kam Daniel, der „Beckmesser“ – auch um diese frühe Stunde bereits wieder streitlustig - hinzu und gab seinen Senf bei, indem er beinahe prophezeiend anmerkte, dass die ganze Struktur des Landes sich inzwischen in einem Stadium der Auflösung befände und es nur eine Frage der Zeit sei, bis sich die mannigfachen sozialen Probleme in Deutschland gewaltsam entladen würden. Ein solches Attentat konnte da seiner Ansicht nach sehr wohl eine Art von Auftakt sein.
Natürlich bekam er sogleich wieder Contra von den Archäologen, welche die Auffassung vertraten, es würde in Deutschland einfach nur auf sehr hohem Niveau gejammert. Den Menschen in anderen Teilen der Welt erginge es sehr viel schlechter. Zum Beispiel auch in ihrem Heimatland Polen…! Fast war es eine Fortsetzung der Diskussion des Vortages mit aktueller Thematisierung.
Friedhelm von und zu Lauenberg erschien schließlich auch samt Gattin, sie nahmen an einem Zweiertisch am Fenster Platz und der Politiker mischte sich bald mit liberalen Parolen in die durch den Saal tragende Unterhaltung ein, als in dieser mehr Sicherheit, mehr Staat und mehr Kontrolle gefordert wurden.
Freysing beteiligte sich nicht vordergründig selbst, stand schließlich auf, nickte der Anwältin an seinem Tisch kurz zu, ging zur Rezeption, hinterließ dort eine Nachricht für Susanne und Max sowie eine weitere für Silke, jeweils mit dem Bemerken, dass er wegen eines überraschenden neuen „Engagements“ früh habe abreisen müssen. Bei Silke Wedding endete er mit einem „Dankeschön – für alles!“ und schloss, dabei selbst lächelnd, mit einem schrägstehenden „Grinsemännchen“, wie es in der SMS-Sprache geläufig ist. Das würde ihr wohl gefallen. Daneben schrieb er aus einer Laune heraus seine Handynummer.
Er verließ das Hotel, setzte sich in den Z1 und fuhr vom Burgparkplatz herunter ins Tal. Über die nur mäßig befahrene B9 gelangte er durch Koblenz schnell nach Norden und hörte sich unterwegs die fortlaufenden Nachrichten von dem Attentat und ersten Kommentierungen der Politik dazu im Autoradio an. Bei Bandorf gegenüber von Unkel gab es eine erste Straßensperre, die den Autoverkehr über die Höhenzüge westlich um Bonn herum umleitete. Auf seine glaubhafte Aussage hin, dienstlich nach Bad Godesberg fahren zu wollen, ließ man ihn jedoch passieren, ohne ihn weiter zu kontrollieren.
Als er durch Remagen hindurch kam, bemerkte er an diversen Masten, Zäunen, Laternen, Brückengeländern und Hausfassaden befestigte große, aus hellen Laken und anderen Stoffbahnen hergestellte Mahntransparente, die zum einen zu einem Neonazi-Aufmarsch gehörten, zum anderen zu einer Gegendemonstration der Antifa-Bewegung. Es waren Überbleibsel einer Veranstaltung vom Vorabend, bei der es um die Rheinwiesenlagerlüge gegangen war. Freysing dachte, mehr um sich vom aktuellen Geschehen abzulenken, darüber nach, was er zu dem Thema wusste.
Infolge des nazideutschen Angriffskrieges ab 1938 auf das benachbarte Europa, welcher zum zweiten Weltkrieg und schließlich zur Invasion durch die Alliierten führte, kam es bei Remagen zu schweren Kampfhandlungen. In deren Verlauf wurde die Ludendorff-Brücke, die heute als „Brücke von Remagen“ weltbekannt ist, zerstört, doch den Amerikanern gelang es, gemeinsam mit Verbänden aus Belgien und Großbritannien, einen wichtigen Brückenkopf auf der anderen Rheinseite einzurichten und so den Vormarsch ins zentrale Nazi-Deutschland zügig voranzutreiben. Die Folge war dessen bedingungslose Kapitulation am 8. Mai 1945, welcher sich die Besetzung Nachkriegs-Deutschlands anschloss, das dann erst 1991 schließlich seine volle staatliche Souveränität wiedererlangte.
Bei Remagen entstanden im Frühjahr 1945 die sogenannten „Rheinwiesenlager“, in denen deutsche Kriegsgefangene übergangsweise untergebracht wurden. Die Lager existierten nur wenige Monate, aber während dieser Zeit kam ungefähr ein Prozent der durchgeschleusten Insassen infolge Krankheit, Verwundung und kriegsbedingter Unterversorgung ums Leben. Die heutige militant rechte Szene im europäisch eingegliederten Deutschland versucht, diese Tatsachen zu verdrehen und die Toten von Remagen, deren auf umliegenden Friedhöfen gedacht wird, zu Opfern „alliierter Konzentrationslager“ hochzustilisieren und damit dem von Hitler veranlassten Holocaust ein gleichartiges Verhalten der Gegeninvasionsmächte anzudichten, um das Leid auf beiden Seiten gegeneinander aufzurechnen. Im stetigen „Kampf gegen das Vergessen“ verklären sich infolge des allmählichen Ablebens der letzten Zeitzeugen zunehmend Dichtung und Wahrheit über die Rheinwiesenlager auf geradezu infame Weise.
Die Einsatzfahrzeuge der Polizeihundertschaft, welche die Konfliktgruppen in Remagen voneinander getrennt und so Körper- und Sachschäden in geringen Grenzen gehalten hatte, waren inzwischen ebenso verschwunden wie die Demonstranten selbst, die noch weit vor Mitternacht wieder abgereist waren. Kehrfahrzeuge verwischten gerade die letzten Spuren, während Kirchgänger auf dem Weg vom Gottesdienst zum Frühschoppen waren, oder auch direkt zu letzterem, nachdem sie ersteren ausgelassen hatten.
Auf eine zweite Absperrung stieß Freysing kurz hinter der Landesgrenze nach Nordrhein-Westfahlen am Ortseingang Bonn-Mehlem. Dort wurde genauer kontrolliert, und er musste seinen Dienstausweis vorzeigen, um weiterfahren zu dürfen. Dieser lautete ganz offiziell auf sein Amt, den Bundesnachrichtendienst, er führte ihn stets mit sich, wenn er innerhalb der Republik unterwegs war, auch wenn er Urlaub hatte. „Allzeit Bereit!“ - altes Pfadfindersprichwort.
Die innerste Abriegelung befand sich unmittelbar beim Anschlagsort im Umkreis einiger hundert Meter um den ausgebrannten Bahnhof, aus dessen näheren Bereich man die dort wohnhaften Menschen evakuiert hatte. Auch diese konnte er legitimiert passieren, während andere abgewiesen wurden. Der Ort selbst wirkte hier beinahe wie eine Geisterstadt, allerdings hatten sich doch inzwischen mehr ortsansässige Schaulustige eingefunden und wurden von Absperrgittern und Bereitschaftspolizei davon abgehalten, noch weiter vorzudringen.
Nördlich des großen Kreuzungsbereichs an der Remagener- und Mainzer Straße auf der Bundesstraße, sowie in Seitenstraßen zum Rhein hin, auf Wiesen und kleinen Plätzen, hatten sich inzwischen die Hilfs- und Aufräumkräfte eingerichtet und eine Operationsbasis aus größeren Zelten aufgebaut. Dort in der Nähe hielt Freysing an und legte eine Parkscheibe mit dem Bundesadler ins Armaturenbrett, die ihn neutral als Beauftragten der Bundesregierung auswies.
Das Chaos war allgegenwärtig. Er brauchte, ausgestiegen, eine Weile, sich einen ersten Überblick zu verschaffen, denn es herrschte eine hektische, jedoch sehr geordnete Betriebsamkeit, in der unterschiedlich Uniformierte in Schutzkleidung und teilweise auch noch mit Atemschutz hin und her liefen, Dinge wie klobiges Schweißgerät oder anderes größeres Werkzeug anschleppten oder kleinere Trümmer wegtrugen, die auf militärische und THW-LKW´s verladen wurden.
Auf den Parkplätzen zweier naher Supermärkte die Kreisstraße hinauf, deren Fensterscheiben ebenfalls zerstört und nun bereits durch große Holzplatten ersetzt waren, hatte man Notunterkünfte aus Acht-Mann-Zelten für die zahlreichen evakuierten kaum oder unverletzten Menschen der beschädigten Häuser geschaffen. Die Turnhallen eines Schulkomplexes waren zusätzlich requiriert worden, hier wie dort kümmerten sich die kirchlichen und zivilen Hilfsorganisationen mit Decken, Wasser, Nahrung und tröstenden Worten um die Betroffenen.
Freysing besorgte sich bei den Hilfskräften einen Mund- und Augenschutz und näherte sich dann der Gleisanlage. Der Anblick des ehemaligen Stadtteil-Bahnhofes, oder dem, was von ihm übrig war, wirkte erschütternd. Zwar waren die Feuer sämtlich gelöscht, die man in der Fernsehsondersendung noch hatte sehen können, und nur vereinzelt stiegen noch kleine Rauchsäulen auf – jedoch herrschte nach wie vor ein gewaltiges Durcheinander an Trümmern aus allen Materialien.
Die ausgebrannten verschmolzenen Skelette der scheibenlosen Personenwaggons und der zerborstenen Kesselwagen des Güterzuges lagen wild herum und erinnerten in der Tat an die Luftangriffe auf deutsche Großstädte und Versorgungszüge im zweiten Weltkrieg. Überall stank es recht ätzend nach verbrannten Kunststoffen, was Freysings empfindlichen Geruchssinn schmerzte. Weite Teile des Areals waren mit Löschschaum bedeckt, und nur vorsichtig arbeiteten sich die Hilfskräfte voran, um mit der Bergung der weitestgehend unkenntlichen Toten im Zentrum des Anschlages fortzufahren.
Im Nachtzug selbst hatte es nur wenige Überlebende gegeben, die meisten weiteren Toten und Schwerverletzten kamen aus der Schicht der kleinen Fabrik, oder waren Bewohner der nah an der Bahnlinie stehenden Häuser und Fahrzeuginsassen von der parallel verlaufenden Bundesstraße gewesen. Sorgfältig mit den Händen arbeitend, um nicht vielleicht doch irgendwo ein noch lebendes Opfer zu übersehen, beschäftigten junge Soldaten mit bleichen Gesichtern und in Grünzeug sich damit, den Schutt des zusammengebrochenen Bahnhofsgebäudes abzutragen.
Freysing hatte den Dienstausweis so in die Brusttasche seiner Anzugjacke gesteckt, das die amtliche Seite nach außen wies. Es wirkte eindrucksvoll, im Inland waren seine Befugnisse allerdings eher eingeschränkt bis nicht vorhanden. Den so angebrachten Ausweis betrachtete sich nun eine der höherrangigen Einsatzkoordinatorinnen bei dem ehemaligen beschrankten Bahnübergang im Zentrum des Anschlages misstrauisch. Das Autowrack dort, der VW-Beetle, war nebst seines verbrannten Insassen bereits entfernt worden.
„Bundesnachrichtendienst!”, stellte sie fest und hob die Augenbrauen. Sie war eine Frau Ende dreißig mit stämmigem Auftreten und wettergegerbten schönem Gesicht, wie man es oft bei Menschen antrifft, die bei jeder Temperatur viel in der freien Natur unterwegs sind. Ihre Haare konnte man landläufig als „straßenköterblond“ bezeichnen, sie waren vorn einigermaßen kurz gehalten und hinten, soweit man es erkennen konnte, zusammengebunden. Der Feuerwehrschutzanzug ließ ihre weiblichen Rundungen kaum zur Geltung kommen, und hinter dem Mundschutz konnte Sax ihren spöttischen Gesichtsausdruck gerade einmal erahnen. Dafür blickte er durch die Schutzbrille auf ihrer breiten, sommersprossigen Nase in zwei große, weite stahlgraue Augen, die wie seine eigenen schon viel gesehen haben mochten.
„So steht es auf dem Ausweis!“, entgegnete Sax lächelnd im Versuch, sie etwas aufheitern zu wollen. „Mein Name ist Günter Freysing. Günter ohne H. Freysing mit Ypsilon. Meine Freunde nennen mich Gunny!“. Er sprach es englisch aus, wie die Abkürzung von „Gunnery Sergeant“. Ein Relikt seiner Zeit in den USA.
„Benzing. Eva-Maria. Mit Bindestrich. Meine Freunde nennen mich übrigens Oberbrandmeisterin Benzing.”, sagte sie ernst, auf seinen Flachs dann aber nicht weiter eingehend. Der Nachname stand auch zusammen mit der Abkürzung ihres Titels auf einem schmalen Schild ihres leuchtend orange-roten Anzuges.
„Davon bin ich überzeugt! – Angenehm, Frau Oberbrandmeisterin.“
Bevor er jedoch weitersprechen konnte, hielt sie ihn mit einer fast unwirschen Handbewegung davon ab und rief, indem sie den Mundschutz kurz lupfte, laut ein paar Anweisungen in Richtung zweier untergebener Kollegen, die gerade mit einem der vierundzwanzig entgleisten, geborstenen und nun sehr verkohlten Tankwagen beschäftigt waren, welche sich in der Umgebung des Bahnhofes bis in eine schmale Industriestraße hinein verteilt hatten; dort weitere Schäden verursachend. Schließlich wandte sie sich wieder ihm zu.
„Na schön, Herr Freysing mit Ypsilon vom BND. Sicher ist es wichtig, dass sie hier sind, aber wie sie sehen können, ich habe alle Hände voll zu tun – also fassen sie sich bitte kurz!“
„Ich bin hier, um mir einen Überblick zu verschaffen.“, sagte er ernst, wohl inzwischen ahnend, dass er mit Höflichkeiten bei ihr weit weniger weit kommen würde als mit Professionalität. Daher schaltete er um. „Aus Sicht der Feuerwehr, wie ist es dazu gekommen?“ - Er ließ seiner Frage eine ausladende Armbewegung über das Chaos ringsherum folgen.
„Was denken Sie?“, fragte sie jedoch, fast schon etwas ungehalten, zurück. Er schrieb es ihrer Anspannung angesichts der Katastrophe zu.
„Eine herkömmliche Bombe kann so etwas doch nicht anrichten!“
„Hier sind zwei Züge hochgegangen!“, stellte sie beinahe lakonisch fest. „Der eine ein Nachtzug, vierzehn Waggons mit vielen wohl noch schlafenden Fahrgästen, die jetzt fast ausnahmslos tot sind, der andere ein Güterzug mit vierundzwanzig mittleren Kesselwagen, voll mit Cyclohexan-Aceton.“
Freysing überlegte, was er über den Stoff wusste. Chemie war nicht unbedingt seine starke Seite. Aceton aber, in seinem Gemisch mit Cyclohexan, ist reizend und leicht entzündlich bei einem Siedepunkt von kaum mehr als 50 Grad Celsius. Es wird in der kunststoffverarbeitenden Industrie verwendet. Soweit war er auf dem Laufenden und wusste immerhin damit, dass es nicht gesund ist, wenn das Zeug mit Feuer in Verbindung gelangt.
„Von alleine sind die Züge ja wohl nicht entgleist.“ stellte er fest. „Also Bomben, wie man allgemein vermutet.“
„Da müssen sie ihre Kollegen vom BKA oder LKA oder vom Bundesamt fragen, die kümmern sich um die Details. Aber wenn sie mich fragen, war´s definitiv nur eine Bombe… - sehen Sie da vorne den Krater im Boden, wo die Schienen weg sind? Das kann so nur ein einzelner, konzentrierter Sprengsatz anrichten. Der allerdings hatte es in sich, glauben sie mir!“
In der Tat gab es ein Stück weit hinter der Verwüstung beim ehemaligen Bahnhof in südlicher Richtung eine vollständige Zerstörung des Gleisbettes und der direkten Umgebung - mit einem tiefen Kraterloch beinahe wie von einer Fliegerbombe, in das ein Waggon des Personenzuges halb auf der Seite liegend hinein gerutscht und dort schließlich im weiteren Verlauf des Anschlages ausgebrannt war. Freysing machte dort ein paar Fotos mit dem IPhone, während die Oberbrandmeisterin bereits wieder mit der Koordination ihrer Kollegen beschäftig war.
´Frauen sind Katastrophen… gewachsen!´, dachte er laut, dann ging er langsam durch das Szenario, weiter fotografierend, wobei er darauf achtete, mit seinen Straßenschuhen einen Bogen um die Stellen mit dem Löschschaum und die schmierigen geschmolzenen Trümmer zu machen. Das war gar nicht so einfach, denn beides verteilte sich in großer Eintracht bizarr über das Gelände.
Vergeblich versuchte er, einen leitenden Beamten des BKA ausfindig zu machen, irgendwann teilte man ihm mit, dass dieser wohl mit einigen Trümmerstücken weggefahren sei, um sie zum Labor ins rechtsrheinische Bonn-Beuel zu bringen, wo unter anderem eine Außenstelle des Grenzschutzes und die Kriminalpolizei ansässig sind. Innerhalb dieses Geländes befindet sich auch ein ausgezeichnetes kriminaltechnisches Labor. Dort wollte man sich nähere Informationen über den verwendeten Sprengstoff beschaffen. Er überlegte, ob er dorthin fahren sollte, entschied sich aber anders, da die ersten Ergebnisse sicher noch eine Weile Zeit brauchten. Danebenstehen und zuschauen bei der Analyse brachte da nichts.
Schließlich traf er beim Herumgehen auf einen Mann um die Fünfzig mit lockigen weit gefächerten braunen Haaren vom Eisenbahnbundesamt in Köln, der wie sein ihn begleitender hagerer junger Assistent nicht begeistert über den Sonntagseinsatz war - und die dann ähnlich wie die Oberbrandmeisterin, wenn auch aus anderen Gründen, nur knappe Antworten auf die Fragen gaben, die Freysing ihnen stellte. Sie teilten die Ansicht der Feuerwehreinsatzleiterin, dass es sich um sehr gut geplanten, sehr präzise koordinierten Sprengstoffanschlag handeln müsse.
Die Aufräumarbeiten schritten ganz langsam voran. Freysing konnte hier nichts weiter tun, alles lag in fachmännischen Händen. Er sah auf die Uhr und überlegte, dass er sich aber eigentlich noch Zeit lassen konnte, zum AMK zu fahren. Er besah sich daher die weitere Umgebung auch jenseits der Gleisanlagen. Zur Rheinseite hinunter war die Beschädigung weniger dramatisch als in den oberen Ortsteilbereich hinein, die Druckwelle hatte sich ihren Weg gesucht.
Den in der Umgebung befindlichen Medienvertretern ging Sax geflissentlich aus dem Wege. Wenn diese spitz bekamen, dass der BND an der Sache dran war, witterten sie wahrscheinlich sogleich eine große Hintergrundstory. Sein IPhone brummte, während er sich weiter umsah. Sax blickte auf die Anzeige und sah, dass Susanne versuchte, ihn anzurufen. Er nahm das Gespräch nicht an. Sicher hatte auch sie die Nachrichten gesehen. Was sollte er ihr sagen? Sie wusste ja nicht, was er in Wirklichkeit beruflich tat, und er würde es ihr auch nicht sagen können. Es war nicht die Zeit für Plaudereien.
Beim nächsten Brummen kurz danach war es eine SMS von Silke. Sie schrieb, da sie ihn offenbar aufgrund seiner Nachricht auf „beruflicher“ Reise wähnte, dass im Moment im Rheinland gerade die Welt unterginge. „Vermisse dich sehr und hoffe auf ein baldiges Wiedersehen!“, lautete der letzte Satz des Textes.
´Was geschehen soll, wird geschehen…´, dachte er.
Als er gegen 15:30 Uhr mit dem Z1 am Standort „Chiemsee“ eintraf, fand er dort nicht nur einen Polizei-Streifenwagen auf dem Besucherparkplatz außerhalb des Geländes vor, sondern auch etliche Bedienstete in Zivil, die am Morgen geweckt und aus der Wochenendfreizeit geholt worden waren, um die Aufräumarbeiten in Angriff zu nehmen. Schließlich waren in dem Amt auch Geheimdokumente gelagert, die nicht in fremde Hände geraten sollten, aber diesbezüglich bestand wohl keine konkrete Gefahr.
Freysing erblickte bereits im Vorbeifahren das hinter einer hohen Mauer und Hecke liegende Gebäudeareal, in dessen beiden Stockwerken oberhalb der Mauerkrone zur Explosionsseite hin ein paar Fenster zerborsten waren oder deren Scheiben zumindest kleine Risse zeigten. Die Tore im Stahlzaun, welche den Zufahrtsbereich markierten, waren geöffnet, es gab allerdings eine heruntergelassene schmale Halbschranke sowie einen Unteroffizier mit Kordel und einen Mannschaftsdienstgrad, jeweils mit Maschinenpistolen bewaffnet, daneben.
Mit seinem Dienstausweis hatte Sax keine Probleme, den sehr beflissenen Wachtposten zu passieren und in den Sicherheitsbereich einzufahren; außerdem lag immer noch das Schild mit dem Bundesadler deutlich sichtbar hinter der Windschutzscheibe. Er stellte den Z1 auf dem Parkplatz des Amtes ab, stieg aus und ging zum Hauptgebäude hinüber. Videokameras blickten allenthalben von den Doppelmasten auf die Flächen zwischen den Gebäuden herunter, es gab wohl keinen Zentimeter, der hier nicht überwacht wurde. Generalmajor Stoessner war, wie er schnell in Erfahrung brachte, noch nicht eingetroffen – schlechtes Wetter in Berlin hatte den Abflug des Hubschraubers verzögert. Daher ging er zunächst auf einen Orangensaft in die Kantine, die zur Verpflegung der Helfer außerplanmäßig geöffnet hatte und gratis belegte Brötchen sowie Getränke feilbot. Die Stimmung dort war bedrückt bis erschüttert.
Die Beschädigung der Gebäude sah allerdings außen schlimmer aus, als sie es innen tatsächlich war. Es galt zumeist lediglich Glasscherben zu beseitigen und alsbald neue Scheiben einzusetzen; herumfliegende Splitter hatten hier und da die Raufasertapete in Mitleidenschaft gezogen und in einem der Büros, das Freysing auf seinem Weg zur Kantine gesehen hatte, Material vom Schreibtisch gefegt. Ein Pirelli-Kalender an einem dünnen Nagel war halb zerrissen und zeigte einen derart aufgeschlitzten, dabei hübschen und neckisch lachenden weiblichen Nackedei. Es wirkte sehr grotesk.
Im Großen und Ganzen waren die Innenräume nicht betroffen, erst recht nicht, je tiefer sie lagen und je weiter sie von der Richtung der hier schon sehr gemäßigten äußeren Druckwelle entfernt gelegen waren. Ein eher bunkerähnliches, flaches Gebäude des Areals mit kleineren und sehr dicken Fenstern war völlig verschont geblieben. Zumindest gab es hier im Amt keine Verletzten oder gar Toten zu beklagen, sondern lediglich ein leidlich erschrecktes Dreimannteam der obligatorischen Bundeswehr-Nachtwache.
„Sind wir hier in Kundus“, soll einer von ihnen kurz nach der Explosion geäußert gehabt haben. Ein anderer, der wirklich dort war, konnte ihn aber beruhigen.
Der Hubschrauber, der den uniformierten Generalmajor aus der Bundeshauptstadt an den Rhein brachte, landete, als draußen bereits die Sonne langsam hinter dem Hügelland verschwand, auf der Bonner Hardthöhe, von wo aus Stoessner unverzüglich mit einem Dienstwagen zum Geheimdienststandort gefahren wurde. Sogar an jenen Absperrungen, an denen Polizisten und nicht Soldaten den Dienst versahen, wurde knapp salutiert, als die Mercedes-Limousine sie passierte und sie erkannten, dass ein hochrangiger Offizier im Fond saß.
Gegen 17:15 Uhr trafen sich Freysing und Stoessner in einem kleinen, unbeschädigten Konferenzraum des AMK zur weiteren Besprechung. Zunächst gab der Generalmajor seinem Agenten eine Übersicht über die gesamte terroristische Sachlage, obwohl Sax aufgrund seiner regelmäßigen speziellen Tätigkeit für die Abteilung TE sicher kein Grundlagenseminar benötigte.
Schließlich telefonierte Stoessner mit der Kripo-Dienststelle im Ortsteil Ramersdorf und ließ sich dort mit dem BKA-Beamten verbinden, der die weiteren Untersuchungen leitete. Begleitet von einigen „Aha´s!“ und „Ach-so´s“ des Generalmajors sprachen sie fast eine Viertelstunde miteinander, während derer Freysing erwartungsvoll mithörte. Obgleich der Lautsprecher angeschaltet war, verstand Sax nur jedes zweite Wort, weil Stoessner dem Beamten immer wieder ins Wort fiel, während letzterer selbst sich lediglich recht leise und zaghaft ausdrückte. Der BKA-Mann schien wohl auch nicht begeistert von der „Einmischung“ des BND.
„Bei dem Sprengstoff handelt es sich um etwas relativ Neues auf der Basis von Diaminodinitroethylen!“, sagte der Generalmajor schließlich mit bedeutsamem Gesichtsausdruck zu seinem Agenten, nachdem das Gespräch beendet war. Er sprach den chemischen Begriff dabei glatt und flüssig aus.
„Dia – was?“, stutzte Sax und dachte dabei: Das ging ja schnell!
„Di-amino-di-nitro-ethylen. FOX-7, wenn ihnen das besser gefällt. Oder eine Weiterentwicklung davon. Ein experimenteller Sprengstoff. Die Schweden haben es ursprünglich erfunden, wenn ich richtig informiert bin, aber die weltweite Produktion hält sich in Grenzen, da die Kosten relativ hoch sind. Zumindest die Schweizer haben damit gute Erfahrungen im Bergbau und beim Geröll-Lawinen-Engeneering gemacht.
„Sie wollen mir jetzt nicht erzählen, die Schweizer hätten einen Attentat auf unseren Zug unternommen, oder, Herr Generalmajor?“
„Natürlich nicht. Ich sage nur, dass der Sprengstoff dort herkommen könnte.“
„Vermissen die denn welchen?“
„Das sollten wir herausfinden. Oder besser gesagt, Sie! Wenn das Zeugs nicht geklaut wurde, dann muss es jemand gekauft haben, und das war sicher nicht billig. Sowas lässt sich ja zurückverfolgen. Und der Zug kam aus der Schweiz!“
„Wallner?“, fragte Freysing nach kurzem Nachdenken vorsichtig. Stoessner wusste, was sein Agent meinte, und nickte.
„Der ist doch jetzt Leiter beim NDB, nachdem sie die Ressorts für Analyse und Prävention mit dem Strategischen Dienst zusammengefasst haben. Wenn einer was weiß, dann er.“
Der „Nachrichtendienst des Bundes“, kurz NDB, ist der Geheimdienst der Schweiz. Selbst personell nicht sehr groß, aber effektiv. Er arbeitet ganz offiziell weltweit mit über hundert ähnlichen Behörden anderer Staaten zusammen und besitzt daher Kontakte in verschiedenste Richtungen, die oft sehr nützlich sein können. Er ist dem eidgenössischen Departement für Verteidigung und Bevölkerungsschutz unterstellt. Der Chef und damit oberster Ansprechpartner für den BND dort war seit 2010 ein Walliser namens Konrad Wallner. Sax kannte ihn nicht persönlich, sondern nur dem Namen nach, aus irgendeinem Memo.
„Ich kümmere mich drum.“, meinte Freysing dann. „Werde ihn aber wohl erst morgen erreichen können. Auch bei den Eidgenossen ist jetzt Sonntagabend! - Gibt’s schon was in Hinblick darauf, wie die Bombe in den Zug gekommen ist?“
„Nach Angaben des BKA nicht. Es gibt kaum Überlebende aus dem Zug, viele Leichen sind bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, und es wird sehr schwer sein, herauszufinden, ob es vielleicht ein Selbstmord-Attentat war.“
„So bescheuert sind doch nur die Islamisten. Wenn es bisher kein Bekennervideo gab, steckt eher jemand anderes dahinter. Bezahlte Terroristen sprengen sich aber nicht selber in die Luft. Da ist jemand in den Zug gestiegen, hat die Bombe platziert, und ist rechtzeitig wieder raus.“
„Eine ziemliche organisatorische Meisterleistung, wenn man alles zusammennimmt.“
„Geraten Sie bloss nicht ins Schwärmen, Herr Generalmajor!“, meinte Sax, fast ärgerlich.
„Zeitzünder also.“, sinnierte Stoessner, dem der Unterton nicht entging, und der daher kurz den Mund spitzte. Zwischen ihm und seinem Agenten bestand eine gewisse Hass-Liebe, er achtete dessen Erfahrung und Kompetenz, hatte aber gelegentlich Probleme mit dessen „antiquierten“ Methoden, wie er es nannte.
„Wahrscheinlich. Funkfernzündung ist kritisch, die kann vorzeitig durch irgendein zufälliges Signal auf gleicher Frequenz ausgelöst werden. Und diese Konstruktionen über Telefon oder Internet sind auch nicht unbedingt sicher. Solche Signale lassen sich ja blockieren oder sogar fremdzünden. Das Ganze sieht allerdings, wie sie bereits sagten, sehr gut geplant und vorbereitet aus.“
„Blockieren… ja, wenn man sie rechtzeitig entdeckt.“, konterte Stoessner. „Aber dann könnte der Attentäter vorher in Frankfurt oder Koblenz ausgestiegen sein.“
„Das wäre naheliegend. Lässt sich überprüfen, oder?“
„Ich werde mit den Kollegen sprechen, da sollen sich die Landeskriminalämter in Rheinland-Pfalz und Hessen damit beschäftigen.“
„Und was sind ihre Pläne für mich?“, fragte Freysing. Stoessners Gesicht wurde ernst.
„Ich habe ihnen ein paar aktuelle Infos über Gruppierungen in die Cloud gelegt, die uns in der jüngeren Zeit aufgefallen sind. Die meisten davon werden sie kennen, aber einfach nochmal zur Auffrischung. Machen sie sich damit vertraut. Wir müssen herausfinden, was da gegebenenfalls schiefgelaufen ist mit unserer Auslandsaufklärung. Nach deren Informationen hatten wir mit einem Anschlag in einem der wirtschaftlichen Zentren zu rechnen, oder auch auf unseren Staatsbesuch von der Insel demnächst, aber gewiss nicht hier in Bonn. Das Kanzleramt sitzt mir im Nacken und es wird sicher keine drei Tage dauern, bis irgend so ein Armleuchter aus der politischen Szene sich profilieren will und einen Untersuchungsausschuss fordert. Dabei ist nicht einmal die Kanzlerin so blöd, mich ernsthaft zu fragen, was wir im Ausland eigentlich treiben.“
Unwillkürlich musste Freysing an Friedhelm von Lauenberg denken, verbiss sich aber einen entsprechenden Kommentar.
„Angenommen, die Ermittlungsergebnisse führen zu etwas, oder, besser noch, die Hinterleute lassen sich identifizieren. Was ist dann mein weiterer Auftrag?“
„Beseitigen Sie das Problem!“, sagte Stoessner kalt.
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