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Kapitel 7: North by Northwest
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Deutschland, Montag, 13. Oktober 2014, Nachmittag. North by Northwest.
Freysing stellte den BMW auf dem Park-and-Ride-Parkplatz am Koblenzer Bahnhof ab und suchte dann die Taxireihe am Platz vor dem Gebäude auf. Schnell fand er heraus, welcher Fahrer am Sonntagmorgen den Mann befördert hatte, der unter den Sax bisher unbekannten Namen Till Amerland und Teun Andergast gereist war.
Der Taxifahrer entpuppte sich als ein pfälzisches Urgestein von ungefähr fünfzig Jahren, welcher bereits wieder für eine nicht ganz legale Doppelschicht bereit stand. Beim Anblick von Freysings eindrucksvollem Ausweis erschrak er zunächst, wurde dann aber schnell redselig, nachdem er gewiss sein konnte, seine Personenbeförderungslizenz nicht wegen Überschreitung der Fahrzeiten zu verlieren. Der vom BND gesuchte Mann war ihm tatsächlich aufgefallen, weil er vom Nachtzug kam, aber keinerlei Gepäck bei sich trug. Abgesehen davon, handelte es sich der Sprache nach um einen Niederländer, und er war nicht in einem Hotel untergebracht. Zudem geizte er sehr mit Trinkgeld! Einen Namen hatte er allerdings dem Taxifahrer nicht genannt. Sax stieg daraufhin in das Taxi ein und ließ sich in einer guten Viertelstunde dorthin fahren, wo der gesuchte Terrorist ausgestiegen war. Im Gegensatz zu Amostar gab er gutes Trinkgeld und bedankte sich damit sogleich bei dem Fahrer für dessen Unterstützung.
Natürlich hatte Amostar alle Vorsicht walten lassen, und war sicher die letzten paar hundert Meter zu seinem Ziel zu Fuß gegangen. Drei weiße, verwinkelte Hochhäuser mit flachem Dach und zahlreichen Balkonen ringsum im Stadtteil Metternich kamen vorrangig als Aufenthaltsort des Bombenlegers in Frage. Irgendwo hier musste sich eine Fluchtunterkunft befinden, so Freysings Annahme. Das Areal war wie dafür geschaffen: Groß, anonym, ein Ort, an dem sich jeder gewöhnlich nur um seine eigenen Angelegenheiten und nicht um die Nachbarn kümmerte.
Sax verbrachte die nächsten eineinhalb Stunden damit, die Häuser aufzusuchen, bei den Mietern der Wohnungen zu klingeln, um diesen dann, wenn sie öffneten, immer dieselbe kurze Lügengeschichte abzuspulen und auf dem IPhone das Foto des Mannes zu zeigen, der in Koblenz aus dem Zug gestiegen war. Er erntete lange Zeit nur Kopfschütteln, begleitet von mal freundlicheren und mal unfreundlicheren Worten. Genervt von der notwendigen Routinearbeit klingelte er bei der gefühlt einhundertsten Wohnung im fünften Stock des Hauses der Wohnanlage und vernahm einen Moment später kurzes Hundegebell und Schritte im Flur hinter der Tür. Der Nachname „Kiebitz“ stand auf einem einfachen Pappschildchen neben der Klingel.
Es öffnete ihm eine abgezehrte kleine dunkelhaarige Frau von Anfang dreißig in Jeans und Pulli, die etwas zu stark nach einem herben Parfum roch und leidlich erschrocken darüber erschien, das ihr unerwarteter Besucher bereits oben vor der Tür stand. Ihre Stimme klang zwar angenehm, aber dennoch ein wenig ungehalten.
„Ja, Bitte?” - Sie schien ihn für einen Handelsvertreter zu halten.
„Mein Name ist Freysing!“, sagte er. „Entschuldigen Sie bitte die Störung, ich möchte Sie nur kurz etwas fragen.“ - Das IPhone hatte er bereits in der Hand. „Haben Sie diesen Mann hier schon einmal gesehen?“. Er zeigte ihr den Bildschirm. Sie besah sich das Hybridbild von Tarek in seiner letzten bekannten Aufmachung aufmerksam und wandte dann den Blick wieder Freysing zu.
„Warum wollen Sie das wissen?“
„Ich bin privater Ermittler.“, log er. „Soll im Auftrag seiner Frau feststellen, ob er was mit einer anderen hat. Und die denkt, er hat hier irgendwo in der Anlage so etwas wie eine sturmfreie Bude eingerichtet.“
Sie grinste und schien nicht mehr ganz so misstrauisch zu sein. „Na, sowas hätte ich mir ja schon fast denken können.“, gab sie beinahe verschwörerische Auskunft.
„Sie kennen ihn?“
„Kennen ist zu viel gesagt. Kam Sonntagmorgen hier in aller Frühe an, als ich gerade mit Sheybal Gassi gehen wollte.“
´Sheybal´ war ein kleiner, noch nicht ganz ausgewachsener Spitz, der gerade, seine eigene Angst überwindend, neugierig durch den Wohnungsflur herangetrottet war und nun seine Schnauze an den Beinen der Frau vorbeiquetschte, um Freysing beäugen zu können. Das Tierchen hatte den Kopf etwas schief gelegt und schien keine aggressiven Absichten zu hegen. Die Geräusche, die er von sich gab, waren eher jaulend als kläffend.
„Und?“, hakte Freysing nach. Eigentlich mochte er keine Hunde.
„Nichts, und. Er ging zu der letzten Wohnung dort hinten auf der rechten Seite. Gehört einer jungen Frau, die aber sehr selten hier ist.“ - Sie wies kurz in die entsprechende Richtung. „War recht wortkarg, der Typ! Kam mir seltsam vor, so noch halb in der Nacht am Sonntagmorgen. Als ich dann mit meinem Hündchen zurückkam, schien Licht unter der Tür durch und es waren verdächtige Geräusche zu hören, wenn Sie verstehen, was ich meine - aber ich habe ihn nicht nochmal gesehen.“
„Wissen Sie, ob er jetzt da ist?“
„Kann ich ihnen nicht sagen.“, antwortete Sie sofort.
„Trotzdem, vielen Dank! Dann werde ich jetzt einfach mal dort klingeln. Gehen sie am besten wieder rein. Man weiß ja nie, wie so einer reagiert.“
„Da haben sie wohl recht! – Komm Sheybal!“ - Sie zog sich schnell zurück und schloss die Tür. Der Hund bellte jetzt einmal kurz, doch dann herrschte Ruhe. Freysing folgte dem Gang hindurch bis zu dem Wohnungseingang, den ihm die Frau beschrieben hatte, und warf einen Blick auf das einfach geprägte Klingelschild.
„Y. Schmidt - das ist ja sehr einfallsreich!“, murmelte Sax zu sich selbst und legte den Zeigefinger fest auf den Klingelknopf. Es ertönte ein kaum wahrnehmbares Surren, kein lauter Gong oder schriller Klingelton. Als nichts geschah, läutete er noch zwei weitere Male. Das Ergebnis war dasselbe: Keine Reaktion!
Irgendwo im Gang auf der anderen Seite wurde eine Tür geöffnet, und eine Mutter mit zwei etwa zehn bis zwölfjährigen Kindern trat heraus, um mit ihnen zum Fahrstuhl zu gehen. Der etwas ältere Junge stritt sich gerade mit dem kopfbetuchten Mädchen, während die Mutter versuchte, durch energische, türkisch klingende Worte zu schlichten und zur Eile antrieb. Freysing beachteten sie nicht weiter. Als sie im Aufzug verschwunden waren, wurde es wieder ruhig. Der Agent fasste in eine Innentasche seines Regenmantels und zog ein kleines Etui hervor, das diverse im freien Handel nicht unbedingt erhältliche Miniaturwerkzeuge beinhaltete. Er nahm zwei Sperrhaken heraus, klemmte das Etui unter eine Achsel und begann nach einem kurzen, sichernden Blick über den Gang damit, das Sicherheitsschloss zu bearbeiten. Nach wenigen Sekunden hörte er ein Klicken, und einen Moment später gelang es ihm, die Tür zu öffnen. Vorsichtig drückte er sie etwas nach innen auf. Das Licht des Treppenhauses fiel in den fensterlosen Eingangsbereich der Wohnung, und Freysing lauschte mit seinem empfindlichen Gehör aufmerksam hinein auf irgendwelche Geräusche. Doch alles blieb still.
Von jetzt an befand er sich auf sehr dünnem Eis. Weder besaß er irgendeine allgemeine amtliche Legitimation, in eine fremde Wohnung einzudringen, noch gar einen Durchsuchungsbeschluss. Er verscheuchte die typisch deutsche Denkweise und ließ die Sperrhaken schnell wieder im Etui verschwinden, steckte es weg und betrat den kurzen Flur hinter der Wohnungstür, in dem sich keine Möbel befanden. Es gab lediglich eine Wandgarderobe, an der jedoch keinerlei Kleidungsstücke hingen. Sax schaltete das Flurlicht ein und drückte die Wohnungstür hinter sich vorsichtig ins Schloss.
Drei weitere Türen gingen vom Flur aus ab. Eine von ihnen besaß eine große undurchsichtige Milchglasscheibe und führte scheinbar in ein Wohnzimmer, hinter den beiden anderen vermutete Freysing Schlafzimmer und Badezimmer oder Toilette. Er warf einen Blick in zwei der Räume und sah seine Vermutungen soweit bestätigt. Im Bad befanden sich lediglich einige benutzte größere Handtücher. Er roch an einem davon – der Duft eines würzigen, weiblichen Parfums, vermischt mit dem eines Duschgels, stieg ihm sofort in die empfindliche Nase.
Das Schlafzimmer war mit einem schmalen, hohen Schrank und einem recht bequemen, bezogenen und zerwühlt wirkenden großen Einzelbett ausgestattet. Ansonsten war es leer. Keine Koffer, keine Kleidungsstücke, keine typischen Accessoires. Im Wohnzimmer bot sich ihm ein ähnliches Bild: Nur spärliche Möbel, keinerlei persönliche Dinge. Auf dem Couchtisch standen ein einzelner benutzter, leerer Teller mit den Resten eines Mikrowellengerichts und dem darauf abgelegten Besteck, daneben zwei Gläser, in denen sich einmal Colagetränke befunden haben mochten. Eine entsprechende leere Literflasche stand auf dem Fußboden neben dem Sofa.
Sax sah sich weiter um. Er erblickte nirgendwo ein Telefon oder sonst irgendetwas, das darauf hinwies, die Wohnung sei dauerhaft bewohnt. Ein alter kleiner Röhrenfernseher stand auf einem Rundtischchen in einer Ecke. Er war völlig ausgeschaltet und kalt. An der Wand gab es lediglich zwei einfache gerahmte Farbdrucke mit fast surrealen Darstellungen des Deutschen Ecks im Sturm. Helle, jedoch leicht angegraute Feingarngardinen schirmten die Fenster ab, obwohl man aus weiter Ferne nur mit einem starken Fernglas hier hätte hereinblicken können. Diese Wohnung war nur für einen einzigen Zweck angemietet worden: Flüchtigen für einen sehr kurzen Zeitraum eine anonyme Unterkunft zu gewähren.
Zwei Türen führten vom Wohnzimmer aus zum Einen auf den Balkon und zum anderen in eine kleine Küche, jene dort bestand aus vertikal zusammengefalteten Weichholzlamellen und stand zu dreivierteln offen. Freysing trat durch die schmalere kurz auf den Balkon hinaus und blickte über die Dächer der Koblenzer Innenstadt. In der Ferne konnte er trotz des regenverhangenen Nachmittages Burg Ehrenbreitstein und die dort hinführende Kabinenseilbahn erkennen, welche die wenigen Herbstgäste über den Rhein auf den Felsen beförderte. Dann ging er gleich wieder hinein.
In der Küche fand er einen halbhohen Kühlschrank, der nur wenige Nahrungsmittel enthielt. Freysing begab sich zurück ins Wohnzimmer zum Sofa, auf dessen Rand einige ältere Zeitschriften lagen. Zwei Ausgaben eines Männermagazins, ein Spiegel, ein Kinoheft sowie ein etwas neuerer, aber benutzter GEO-Reiseprospekt über die Schweiz. Nichts von Belang. Dazu eine aktuelle deutschsprachige Boulevard-Tageszeitung vom Samstag, deren Schlagzeile lautete Kripo Voitsberg: Immer noch keine heiße Spur im Mordfall Kornbauer!. Er kam offenbar zu spät. Der Vogel schien bereits wieder ausgeflogen zu sein.
Gerade hatte er sich, reichlich enttäuscht, dazu entschlossen, die Wohnung wieder zu verlassen, als er vernahm, dass ein Schlüssel ins Türschloss gesteckt und aufgesperrt wurde. Freysing ging vorsichtig auf Zehenspitzen durch den kleinen Wohnraum und platzierte sich im toten Winkel hinter der Wohnzimmertür.
Die Gestalt, die den Flur betreten hatte, schien misstrauisch, da die Tür nicht mehr abgeschlossen gewesen war und hier Licht brannte, und hielt einen Moment inne.
„Teun?“, fragte eine helle weibliche Stimme laut. „Teun? Bist du doch noch hier?“ – Es war deutsch, dabei etwas kölnischer Unterton, aber auch mit einem leichten Fremdakzent, der auf diese Weise kaum zu identifizieren war.
Als keine Antwort kam, hörte Freysing deutlich mechanische Geräusche, wie sie nur von einer kleinkalibrigen Pistole stammen können, die erst entsichert und dann durchgeladen wird. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass sich seine eigene Waffe im Handschuhfach seines Wagens am Bahnhof befand. Er wurde nachlässig!
Sax hörte, dass die Frau wie er selbst zuvor zunächst einen Blick in Schlafzimmer und Bad warf, um sich schließlich dem Wohnzimmer zu widmen. Vielleicht war sie zu dem Schluss gelangt, dass jemand – Teun? – lediglich versehentlich das Licht im Flur hatte brennen lassen, jedenfalls öffnete sie nun die Wohnzimmertür und kam ziemlich ohne Argwohn herein. Allerdings hielt sie dabei die Waffe in der Hand des leicht geknickt herabhängenden rechten Arms.
Als sie den lauernden Freysing aus dem Augenwinkel heraus bemerkte, war es für ihre Reaktion zu spät, obwohl sie blitzschnell den Arm mit der Waffe in der Hand anhob. Der wohldosierte Handkantenschlag, den er ihr ohne Vorwarnung gegen den Hals versetzte, ließ sie augenblicklich zusammenklappen. Die Pistole entglitt sofort ihrer Hand und polterte über den Teppichboden. Sax bückte sich schnell, hob die Waffe auf und warf einen Blick auf die Frau, die nun bäuchlings ausgestreckt da lag, jedoch nicht völlig das Bewusstsein verloren hatte.
Sie wirkte jung, klein, schmal und zierlich, aber bei weitem nicht so verhärmt wie die Nachbarin. Bekleidet war sie mit einem langärmligen beigen Shirt, offenbar ohne irgendetwas darunter, einer glatten, langen und recht eng anliegenden Damenhose, ebenfalls beige, und leichten Halbschuhen in einem etwas dunkleren Ton. Das glänzend schwarze Haar trug sie sehr kurz in einer hinten ausrasierten, abgestuften modischen Form. Das Shirt war am Rücken beim Fallen etwas hochgerutscht und gab den Blick auf ein breitgezogenes geweihförmiges Manga über ihrem fast kindlichen Po frei. Schon von der Rückseite her wirkte sie sehr attraktiv. Unterbewusst fuhr ihre Hand, die zuvor die Pistole gehalten hatte, hinauf zu ihrem Genick.
„Au!“, stöhnte sie, etwas verspätet, als sie den einsetzenden Schmerz dort verspürte, wo Freysings Schlag sie getroffen hatte. Dann rollte sie sich, auf dem Boden liegend, vorsichtig herum.
Sax blickte in ein ungeschminktes hübsches, überwiegend asiatisch wirkendes Gesicht mit schmalen dunklen Augen, einer kleinen Stupsnase und einem ebenfalls kleinen, runden Mund mit zwei gefährlich hervorblitzenden oberen Schneidezähnen. Sie hingegen blickte in die dunkle Mündung ihrer eigenen entsicherten und durchgeladenen Pistole. Eine alte Beretta 418. Fast spielzeughaft, aber gepflegt, und trotz des geringen Kalibers recht wirkungsvoll.
„Verdammt! Wer zum Teufel sind Sie!“, fuhr sie ihn an, stützte sich sorglos auf die Hände und setzte sich dabei etwas auf. Angst schien sie keine zu haben.
„Dasselbe könnte ich Sie auch fragen!“, entgegnete er selbstbewusst trocken, die Waffe weiterhin auf sie gerichtet, damit sie nicht auf dumme Gedanken kam. Sie taxierte ihn und kam wohl zu dem Schluss, dass er kein Polizist war. In gewisser Weise hatte sie damit ja sogar auch recht.
„Ich bin Yasmine!“. Sie sagte es so, als müsse ihm das doch eigentlich völlig klar sein.
„Aha! - Und was tun sie hier, Yasmine?“
„Aufräumen, natürlich!“ - Aus ihrer Stimme sprach Empörung, keine Furcht.
„Und dazu braucht man dann sowas hier…?“. Er bewegte die Waffe leicht in der Hand auf und ab, so, als glaube er ihr nicht recht. Vielleicht war sie wirklich gekommen, um die konspirative Wohnung zu säubern. Vielleicht aber auch nicht. Sie zuckte, nun im Sitzen auf dem Boden, nur mit den Schultern, sagte aber nichts dazu.
„Na schön, Yasmine.“. Er sicherte die erbeutete Waffe und steckte sie ihn seine Manteltasche. Dann reichte er ihr eine Hand, damit sie sich daran hochziehen und aufstehen konnte. Einen Moment lang standen sie sich sehr nah einander gegenüber, und er konnte den leicht würzigen Duft ihrer Haut wahrnehmen. Ein Hauch von Moment de Bonheur von Yves Rocher. Dasselbe Parfum wie auf einem der Handtücher im Bad, erkannte er sogleich. Er besaß einen sehr guten Geruchssinn.
„Sie wollten mir sagen, was sie hier machen!“, forderte sie unverblümt. Er ließ ihre zierliche Hand los, die er einen Augenblick zu lang festgehalten haben mochte.
„Ich suche Tarek!“, sagte er wahrheitsgemäß und log dann weiter: „Ich sollte ihn hier treffen können, aber er scheint schon wieder weg zu sein.“
„Tarek?“, fragte sie. Ihre Augen waren dabei sehr schmale Schlitze. Er beschrieb ihr kurz den Niederländer, so wie er aus dem Zug in Koblenz gestiegen war, ohne ihr das Bild auf seinem IPhone zu zeigen.
„Ach, sie meinen Teun!“, sagte sie, kurz und beinahe kindlich abwinkend, bereits nach wenigen seiner Worte. „Ja, natürlich, der war hier.“ stellte sie dann fest.
„Teun?“
„Teun Andergast. Ist sicher ein falscher Name.“ - Sie kicherte. „Aber ich bin überrascht, dass er hier mit ihnen verabredet gewesen sein soll.“
„Ja? – Wieso erstaunt sie das?“
„Diejenigen, die hier gelegentlich übernachten, sind normalerweise sehr vorsichtig, und lassen sich nicht gleich auf neue Verabredungen ein, sondern tauchen erst einmal unter. Und ich kenne Sie auch nicht, Herr…?“ - Sie wandte sich dabei arglos ab, ging ein paar kurze Schritte durch den Raum und ließ sich in das Sofa fallen, die Beine nahm sie geschickt mit hoch, sodass sie fast im Schneidersitz angelehnt auf dem Polster saß.
„Es gibt etwas, etwas sehr wichtiges, das ich mit ihm besprechen muss, und meine Informationen lauten, dass er für zwei oder drei Tage hier sein soll.“, sagte er, ohne auf ihre Frage nach seinem eigenen Namen einzugehen.
„Dann hat er seinen Plan wohl kurzfristig geändert. Gesagt hat er nichts. Ich habe vorhin die Nachricht bekommen, das ich die Wohnung cleanen soll.“
„Wissen Sie vielleicht, wo er hin wollte?“
Sie zuckte abermals die Schultern und schüttelte dabei leicht den Kopf. Kaum Vorstellbar, dass sich hinter dieser hübschen Fassade die Sympathisantin, wenn nicht Komplizin einer terroristischen Vereinigung verbarg. Er verstand aber durchaus, dass sie gewiss nicht in alle Details eingeweiht war. Amostar war, dem Dossier zufolge, keineswegs leichtsinnig!
„Zu dumm!“, sagte er daher mit gespielter Niedergeschlagenheit. „Ich muss ihn unbedingt treffen!“. Sie schien einen Augenblick lang scharf zu überlegen, inwiefern sie Sax trauen mochte.
„Da sind sie zu spät.“, sagte sie dann. „Ich weiß ja nicht, was genau er dieses Mal gemacht hat, aber es schien etwas Größeres gewesen zu sein, und ich kann mir vorstellen, dass er erstmal ganz von der Bildfläche verschwinden will.“
„Sie wissen nicht, was er gemacht hat? Sie schauen wohl keine Nachrichten?“ Freysing unterdrückte seinen Zorn. Entweder die junge Frau war sehr naiv oder eine sehr gute Schauspielerin. Yasmine versuchte so etwas wie ein Stirnrunzeln hinzubekommen, das ihr bei ihrer glatten Haut freilich völlig misslang, dann lag so etwas wie gespieltes Entsetzen in ihrem Gesicht, und für einen Moment weitete sich ihr kleiner Mund.
„Sie meinen… der Zug? Der Zug in Bonn? Das war Teun?“
Sie wirkte keineswegs schockiert, sondern eher seltsam aufgeregt und bewundernd, und Freysing nickte tonlos. Seine Lippen waren dabei schmale Striche.
„Was denken sie denn, wozu er sonst eine Wohnung hier brauchte?“
„Ich kümmere mich nicht um Details.“, sagte sie bestimmt, offenbar ohne weiter in irgendeiner Weise über Teuns Opfer nachdenken zu wollen. „Ich sorge dafür, dass hier frische Handtücher, Wäsche zum Tauschen und etwas Verpflegung ständig bereit liegen. Wenn jemand hier ist, habe ich Anweisung, möglichst fernzubleiben.“ Sie hielt einen Moment inne, dann ergänzte sie kichernd: „Allerdings, bei Teun habe ich gern eine Ausnahme gemacht – er ist so… männlich! Na, Sie waren ja sicher auch schon im Schlafzimmer…“.
Sax hatte es bereits geahnt. Verdächtige Geräusche, der Geruch am Handtuch. Tarek hatte sich hier entspannt… „Die Schöne und das Biest…“, murmelte er, schüttelte aber nur kurz den Kopf, als sie ihn fragend anblickte. Sie plapperte ungehemmt weiter: „Ansonsten sehe ich einmal in der Woche nach dem Rechten, lüfte und lasse es halbwegs bewohnt aussehen. Wenn die Wohnung benutzt wurde, räume ich auf und beseitige alle Spuren. Das ist alles.“
Er fragte: „Und wer gibt die Anweisungen?“
„Warum wollen Sie das wissen? Sind Sie vielleicht doch ein Bulle?“ - Sie schien plötzlich erbost.
„Ihre Auftraggeber sind warscheinlich auch Tareks… - Teuns Auftraggeber, und wie gesagt, mir ist sehr daran gelegen, ihn persönlich zu sprechen.“, wich er aus.
„Das ist ihr Problem. Nicht meins. Und alle Anweisungen bekomme ich sowieso nur telefonisch. Man hatte mir gesagt, dass „Teun“ kommt – mehr nicht. Dann sollte ich ihm etwas bringen, und dabei hat sich was zwischen uns ergeben…“, zuckte sie die Schultern.
„Was sollten Sie ihm denn bringen?“
„Ein Auto und die Schlüssel dazu, für seine Weiterfahrt.“
„Ein Leihwagen?“
Yasmine blickte auf: „Sie stellen ja viele Fragen! Was interessiert Sie das? Vielleicht geklaut? Ich habe ihn im Gewerbegebiet abgeholt und kenne die Leute nicht, die ihn besorgt haben.“
„Und wenn etwas außergewöhnliches ist?“, fragte er weiter, um nicht weiter auf Tareks Flucht einzugehen und damit Verdacht zu erregen.
„Für den Notfall habe ich eine Telefonnummer.“
„Hier in Koblenz?“
„Ist ein Handyanschluss. Wird sicher anonym weitergeleitet.“, gab sie zurück. „Die großen Lauscher sind doch heutzutage überall.“
„Rufen sie dort an!“, befahl er.
„Was soll ich denn für einen Notfall melden?“ - Es klang schnippisch, so als nähme sie ihn nicht richtig ernst.
„Sagen sie die Wahrheit! Sagen Sie einfach, sie hätten in der Wohnung einen Mann angetroffen, der sie jetzt mit einer Waffe bedroht!“
„Na schön. Was springt für mich dabei heraus?“. Er konnte förmlich sehen, wie sich die Eurozeichen hinter ihren schmalen Augen drehten.
„Sie bleiben möglicherweise am Leben!“, sagte er jedoch kalt und tätschelte dabei die Manteltasche mit der Pistole. Ihrem Gesicht entwich das asiatische Dauerlächeln.
„Ist ein Argument!“, bestätigte sie, schien sich aber dennoch sicher zu sein, dass er sie nicht umbringen würde. Aber er konnte vielleicht wesentlich Schlimmeres mit ihr anstellen. Wenngleich… - sie musste schmunzeln bei dem Gedanken daran, was sie mit ihm oder er mit ihr so anstellen konnte. Die Gefahr löste bei ihr wie eh und je ein besonderes Prickeln aus. Sie liebte fast krankhaft die Gefahr!
Yasmine angelte, sich sitzend im Unterleib fast anstößig ein wenig hochreckend, mit den Fingern in ihre enge, schmale Hosentasche und zog ein winziges, etwas älteres und an den Außenschalen schon deutlich angekratztes weinrotes Nokia-Handy heraus. Es taugte nicht zu viel mehr als zum Telefonieren. Prepaid, aus irgendeinem Handyladen, zum baldigen wegwerfen. Die Nummer, die sie eintippte, war nicht eingespeichert, sie befand sich nur in ihrem Kopf.
„Stellen Sie es laut!“, befahl er, bevor der Anruf zustande kam. Sie gehorchte.
Es klingelte viermal, dann meldete sich eine männliche Stimme.
„Yeah?“
„Yasmine´s calling.“
„Why?“
„A Problem!“
„Kind of…?”
„Teun isn´t here anymore.”
„Of course, not! Knowing this! Not a Problem…!“
Freysing glaubte bereits aus den wenigen Worten des Mannes eine Art Hiberno-Dialekt, also „irisches Englisch“, heraushören zu können, während Yasmines Ausdrucksweise eher dem Deutsch-englischen Kauderwelsch entsprach, was man bei ausgewanderten Asiaten oder Mischlingskindern häufig vorfand. Beide Gesprächspartner verstanden einander recht gut, aber trotzdem schaltete Sie bald ins rein Deutsche um, das auch er, wenn auch weniger als sie, beherrschte.
„Dafür ist jemand anderes hier.“, sagte sie, einen Blick auf Sax werfend.
„Wer?“, ging ihr Gesprächspartner vorsichtig darauf ein.
„Ein Mann. Er hat eine Waffe.“ - ´Meine Waffe´ wäre richtiger gewesen.
Einen Moment lang herrschte Schweigen am anderen Ende.
„Gib ihn mir!“, sagte die Stimme dann.
Sie beugte sich etwas vor und reichte Freysing, der einen Schritt auf sie zugetreten war, das Handy, ohne selbst auch nur an einen Angriff zu denken. Der kurze Blick in den leichten Ausschnitt ihres Shirts konnte Männerphantasien wecken, aber er verscheuchte den frivolen Gedanken und widmete seine ganze Aufmerksamkeit dem weiteren Telefonat.
„Hallo!“, sagte er langsam in das Gerät, behielt Yasmine aber dennoch im Auge.
„Wer sind Sie?“, wurde er mit Akzent gefragt.
„Nicht wichtig – im Moment, und für Sie! Aber ich muss mit Teun sprechen.“
„Das will so mancher.“, lachte der Mann auf der Gegenseite kurz.
„Es ist wichtig!“, beharrte Freysing.
„Es ist immer wichtig. Aber im Moment ist es nicht möglich.“
„Wie kann ich ihn erreichen?“, gab er nicht auf.
„Sagen Sie mir, wer sie sind und warum sie ihn sprechen wollen?“
Freysing überlegte und machte eindringlich klar: „Keine Namen am Telefon. Eine neue Sache! Nächste Woche bereits!“, sponn Freysing weiter. ´Nötigenfalls improvisieren´, hatte Stoessner gesagt, und das erschien realistisch, um ein zeitnahes Treffen zu verlangen.
„Welche Fraktion?“
´Mist!´, dachte Sax. Was sollte er darauf entgegnen?
Dem Gesprächspartner schien die Antwort zu lange zu dauern. Er wiederholte seine Frage schärfer: „Welche Fraktion?“
„Rotfrontaktivisten!“, sagte Freysing intuitiv und nannte damit eher willkürlich eine der extremistischen Organisationen, über die ihn Generalmajor Stoessner noch einmal genauer informiert hatte. Einige Sekunden lang herrschte Schweigen, sodass er fast schon befürchtete, man hätte auf der anderen Seite das Gespräch beendet.
„Nehmen Sie jemand anderen.“, kam dann jedoch wieder eine Antwort.
„Wir wollen aber Teun!“, beharrte Sax.
„Warum?“
Freysing überlegte nur kurz. „Er hat das Material, und Erfahrung damit!“. Er dachte dabei an das 711-Foxite.
Am anderen Ende der Verbindung wurde offenbar länger nachgedacht. Dann kam die Anweisung: „Groningen. Heute Nacht. Im Casino. Spielen sie am Tisch zwei beim American Roulette um ziemlich genau 23 Uhr fünfhundert Euro auf die ersten sechs. Dann sehen wir weiter.“ – Die Stimme unterbrach sich einen Moment und fügte dann noch hinzu: „Lassen Sie Yasmine ihre Arbeit tun, und bringen Sie sie mit!“
Vom anderen Ende her wurde die Verbindung unterbrochen.
„Zufrieden?“, fragte sie, als er ihr das Handy zurückgab. Die Nummer, die sie getippt und die im Display gestanden hatte, war in sein Gedächtnis gebrannt, und dort blieb sie es auch, wenn sie die Verbindungsdaten längst aus dem Wahlwiederholungs-speicher der Anrufliste gelöscht oder das Handy weggeworfen haben mochte.
„Sie haben es mitbekommen?“, fragte er sie. Die Unterhaltung war dann schnell.
„Ich soll sie nach Holland begleiten.“ - Sie schien nicht sonderlich begeistert.
„Richtig!“
„Dann brauche ich ein paar Sachen aus meiner Wohnung.“
„Vorher sollen sie aber noch hier aufräumen. Ich schlage vor, ich hole sie um sechs Uhr zuhause ab. Wo ist das?“
Sie nannte ihm eine Adresse in der Nähe. „Wissen Sie, wo das ist?“. Er nickte. Sein Navi würde es jedenfalls finden.
„Sie haben ein Auto dabei?“, fragte sie dann.
„So ist es. Steht im Moment aber nicht vor der Tür.“
„Was ist mit meiner Pistole?“, fragte sie und streckte offen eine Hand aus.
„Ich glaube, es ist besser, wenn ich die noch eine Weile behalte.“
„Sie trauen mir nicht?“. Es klang etwas schnippisch. Dabei rieb sie sich den Hals an der Stelle, an der sein Schlag sie getroffen hatte. Es würde einen hübschen blauen Fleck geben und mindestens eine halbe Woche lang schön schmerzen. Aber der Schmerz schien ihr nicht unbedingt ein negatives Gefühl zu bereiten.
„Ich traue niemandem!“, stellte er klar. „Man sieht sich!“. Er tippte sich mit zwei Fingern der Hand zum Abschied an die Schläfe und verließ die Wohnung, während sie mit den Aufräumarbeiten begann.
Viel hatte sie nicht zu tun, aber sie arbeitete sehr sorgfältig. In einer guten Stunde hatte sie sämtliche Spuren von „Teuns“ Aufenthalt dort beseitigt und alles für einen neuen möglichen Gast hergerichtet. Haltbare Speisen, Handtücher und einiges mehr hatte sie in einer großen Tasche mitgebracht gehabt, die nun im Flur stand und in der alles Gebrauchte und Benutzte verschwunden war. Sax war beim hinausgehen beinahe darüber gestolpert. Auch hier schien alles sorgfältig geplant, wie bereits beim Anschlag selbst.
Freysing war gleich nach dem Verlassen der Wohnung mit einem telefonisch herbeigerufenen Taxi zurück zum Bahnhof gefahren. Dort kontaktierte er seine Dienststelle in Berlin aus dem BMW heraus per Mail und ließ von ihr feststellen, wo sich der andere Teilnehmer des geführten Telefonates aufgehalten haben mochte. Dank moderner Technik und Vorratsdatenspeicherung war das kein sehr großes Kunststück, auch wenn der Teilnehmer am anderen Ende alle Vorsicht walten ließ.
Während er in einer bahnhofsnahen Cafeteria auf die Antwort wartete, bemühte er sein IPad. Er stellte eine verschlüsselte Verbindung zum BND-Zentralrechner her und ließ sich Details über die Rotfrontaktivisten geben, deren Wirken im Dossier in der Cloud nur zusammengefasst war. Danach die bekannten Mitglieder. Nach einer halben Stunde etwa fand er, was er suchte.
Der Mann auf dem Computerbild sah Freysing leidlich ähnlich, trug dabei jedoch im Gegensatz zu ihm hellbraune Haare, die bis über die Ohren reichten, einen Bart rings um den Mund und am Kinn, besaß eine leicht zur Seite gekrümmte Nase und eine etwas faltige Stirn. Seine Größe wurde mit nur 1,76 Metern angegeben, also fünfzehn Zentimeter kleiner als Sax. Er war dem Geburtsdatum nach 39 Jahre alt und saß gegenwärtig noch für ein paar Monate in Hamburg-Fuhlsbüttel ein. Sein Name lautete Pascal Bendler, das Vorstrafenregister war mäßig, aber man hielt ihn für einen Rotfrontaktivisten auf der mittleren Ebene, ohne ihm diesbezüglich etwas nachweisen zu können. Seine Strafe bezog sich auf schwere Körperverletzung in Zusammenhang mit einer radikalisierten Antifa-Demonstration vor zwei Jahren. Das sollte reichen für eine oberflächliche Tarnung. Freysing prägte sich die Vita ein.
Dann organisierte er telefonisch eine Unterkunft in Groningen, wobei er aber den Namen „Freysing“ angab, und schickte einen Statusbericht an Stoessner. Es dauerte überraschend lange, bis die Antwort auf seine Anfrage bezüglich des Telefonats von Yasmine kam, und er saß bereits magazinlesend nach einem kleinen Spätnachmittagssnack bei einem zweiten wärmenden Pfefferminztee.
„Prepaid, ohne Kennung. Aus Südengland, über mehrere geschickte Umleitungen.“, lautete sie. „Etwas zu kurz für Details. Keine Namensregistrierung.“
Das mit Südengland war unerwartet. Er hatte mit dem Norden Hollands gerechnet. Wollte man ihn einfach zum Spaß nach Groningen hetzen? Er überlegte, ob er die Nummer, die er sich gemerkt hatte, anrufen sollte, um sicherzugehen, ließ es dann aber bleiben.
Der frühe Abend mit seiner Herbstdämmerung war inzwischen hereingebrochen. Er holte den Wagen vom Park-and-Ride-Parkplatz und fuhr bei Scheinwerferlicht und wiedereinsetzendem Nieselregen im Berufsverkehr los. Der Wetterumschwung gegenüber noch dem Sonntag war deutlich zu spüren.
Punkt achtzehn Uhr stand Sax mit dem BMW vor Yasmines Behausung in einem der besseren Studentenwohnviertel. Er stieg aus und ging zur Haustür des Sechs-familienhauses hinüber. Sie hatte ihm ihren Nachnamen nicht explizit genannt, und gerade, als er im Begriff war, sich für eine Klingel zu entscheiden, auf deren Schild einmal mehr „Schmidt“ stand, wurde von innen geöffnet und sie trat hinaus.
„Bin schon da!“, gab Yasmine munter und offenbar vor kurzem frischgeduscht zu Sax hin von sich. Vielleicht hatte sie ihn kommen sehen. Mit einem skeptischen Blick gen Himmel blieb sie unter dem kurzen Vordach auf dem Absatz stehen und hielt die weit geöffnete Handfläche hinaus, als wolle sie das prüfen, was offensichtlich war: Es regnete!
Diesmal trug sie einen für die Jahreszeit fast zu kurzen dunklen Rock, eine helle, kontrastierende Bluse, ein offenes Herbstjäckchen das dazu passte, und etwas billigen, jedoch hübschen Schmuck. Sie hatte zudem ein unaufdringliches Makeup aufgelegt, das ihre fernöstliche Schönheit unterstrich. Hochhackige geschlossene helle Schuhe mit langem Schaft und drei schmalen Vertikal-Schnallen auf jeder Seite ließen sie etwas größer erscheinen, als sie es in Wirklichkeit war. Über ihrer rechten Schulter hing der lange Riemen einer schwarzen wappenförmigen Handtasche mit goldfarbenem Clipverschluss, womöglich mit einer neuen Pistole darin, in der Hand auf der anderen Seite trug sie ein älteres Samsonite-Köfferchen mit zahlreichen Aufklebern europäischer und südostasiatischer Großstädte.
„Sie hatten mir ihren richtigen Nachnamen gar nicht verraten“, stellte er fest.
„Stimmt! Sie mir ihren aber auch nicht! – Der da?“. Sie blickte angetan in Richtung der BMW-Limousine. Sax nickte knapp. Er nahm ihr das Köfferchen ab, während sie die Handtasche unbedingt bei sich behalten wollte, was seinen Verdacht bestätigte. Dann ging er schnell vor ihr her zum am Straßenrand geparkten Wagen und verstaute es im Kofferraum neben seinem eigenen Gepäck. Zuletzt hielt er ihr die Beifahrertür auf, damit sie einsteigen konnte, bevor sie allzu nass wurde.
„Füße weg!“, verlangte Sax, bevor er die Wagentür sanft zuschlug und um das Fahrzeug herum ging, um dort, auf den mäßig vorbeifließenden Verkehr achtend, selbst ebenfalls einzusteigen. Er strich sich durch sein leicht durchfeuchtetes Haar und kämmte es etwas zurecht. Dann startete er den Wagen mit dem Daumenscanner, der ihn als berechtigten Fahrzeugführer erkannte, und ordnete sich in den fließenden Verkehr ein, während das Navigationssystem den schnellsten Weg zu ihrem Ziel berechnete. „Groningen“ hatte er bereits vor seiner Ankunft hier als nächste Station eingegeben.
Yasmine schien von der sehr guten Ausstattung der Limousine mädchenhaft beeindruckt, sagte aber nichts weiter dazu. Schweigsam nebeneinander sitzend fuhren sie bis zur Anschlussstelle Metternich und dort auf die A61. Er schaltete das Autoradio ein und fand mit dem Suchlauf einen Sender, der aktuelle leichte Popmusik brachte, die fortan im Hintergrund lief.
„Was bringt eine junge Frau wie Sie eigentlich dazu, für Freiheitskämpfer zu arbeiten?“, versuchte er schließlich, so etwas wie eine halbwegs sinnvolle Konversation zu beginnen. Sax vermied absichtlich das Wort „Terroristen“. Er bewegte sich grundsätzlich lieber allein, aber wenn man ihm schon eine Aufpasserin aufnötigte, dann konnte sie auch zur Unterhaltung während der Fahrt beitragen. Vielleicht konnte er dabei von ihr mehr erfahren, als bisher. Und er wollte so etwas wie Vertrauen zu der Studentin aufbauen.
Sie sah ihn jedoch nur, scheinbar etwas entgeistert, von der Seite her an. „Was denken Sie? …Geld natürlich!“
„Wer alles nur für Geld macht, tut für Geld bald alles", stellte er abfällig fest. „Sie haben wohl keine politische Überzeugung?“
„Quatsch! - Natürlich habe ich die…!“, meinte sie empört. „In meinem Heimatland wird die Bevölkerung unterdrückt! Meine Großeltern wurden vor meiner Geburt bei Chumphon von der Polizei ermordet! Deshalb hat sich meine Mutter einen glatzköpfigen, einigermaßen gutsituierten deutschen Beamten mit sexuellem Minderwertigkeitskomplex geangelt und ist hierhergekommen.“
„Und Sie sind das Ergebnis.“
„Ja!“ - Sie musste kurz lachen.
„Ihre Eltern leben in Deutschland?“, sammelte er weiter Informationen.
„In Köln“, stellte sie fest. „Ich gehe in Koblenz auf die Uni. Wenn ich mit dem Studium fertig bin und etwas gearbeitet habe, werde ich nach Thailand zurückgehen und mit dem verdienten Geld dort den Untergrund unterstützen!“, betonte sie heiter. Ihr war es dabei absolut ernst. Sax waren die Unruhen dort präsent. Alles sah in Bangkok und Umgebung gegenwärtig nach einem langanhaltenden Bürgerkrieg aus. Sie unterhielten sich eine Weile über die weitreichenden politischen Probleme in ihrer Heimat, wobei Freysing sich bemühte, im Slang der Rotfrontaktivisten auf ihre Sicht der Dinge einzugehen.
Obwohl Sax keineswegs riskant fuhr, kamen sie zügig voran, sie nutzen fast beständig bei eingeschaltetem Licht die äußerste linke Spur. Er bremste die Limousine stets rechtzeitig ab, wenn das Navigationssystem vor einer sogenannten Gefahrenstelle warnte. Je weiter sie nach Norden vorstießen, desto verregneter wurde der Abend. In der Ferne zuckten vereinzelt Blitze, ohne dass ein Donnerhall bis zu ihnen drang. Bei Venlo passierten sie irgendwann die offene Grenze – trotz der Terrorsituation in Deutschland gab es keine besonderen Ausreisekontrollen, nur ein vereinzelter Streifenwagen der Autobahnpolizei stand kurz vor der Stelle, die den Übergang markierte. Er steuerte nun auf der niederländischen A73 Nijmegen mit zulässigem Höchsttempo entgegen. Wenn Amostar tatsächlich nach Holland weitergereist war, hatte er dabei keine Probleme gehabt. Manchmal wünschte man sich die Zeit vor Schengen zurück.
Der automatische Sendersuchlauf fand einen anderen Kanal und brachte jetzt niederländische Kurznachrichten. Freysing verstand genug von der Sprache, dass es im Wesentlichen um den verheerenden Anschlag auf den Nachtzug Zürich-Amsterdam in Deutschland und die Fortschritte bei der Bergung der Opfer ging. Die melodischen holländischen Klänge der Sprecherin schienen das Ereignis beinahe etwas zu verharmlosen. Dann wurde wieder Musik gespielt. Diesmal ältere Songs, unter anderem gab die Sängerin Caro Emerald „A Night like this“ zum Besten.
Bald durchquerten sie bei inzwischen heftigen Regenfällen das Gelderland. Sax reduzierte etwas die Geschwindigkeit, aber das Navigationssystem teilte ihm sogleich mit, dass sie trotzdem noch frühzeitig genug in Groningen ankommen würden, um pünktlich im Casino zu sein. Vorher würden sie noch im nahen Hampshire City Hotel einchecken, in dem Freysing von der Caféteria in Koblenz aus zwei nebeneinander liegende Einzelzimmer telefonisch vorbestellt hatte - für sich und seine mehr oder minder unfreiwillige Begleitung.
Es war kurz nach zweiundzwanzig Uhr, als sie beim Hotel vorfuhren und schnell ihre Zimmer bezogen. Ihre Sachen mussten sie selbst nach oben in den zweiten Stock bringen, um diese Uhrzeit gab es, falls überhaupt, keinen Gepäckservice. Die Zimmer waren schlicht eingerichtet und ohne Verbindungstür, aber beide mit Doppelbetten ausgestattet. Bei der Eintragung für die getrennten Zimmer in die Meldeformulare war Yasmine möglicherweise ebenso enttäuscht wie der zuvor zeitunglesende und dann süffisant grinsende Empfangschef überrascht gewesen. Sax entging nicht, dass die junge Frau tatsächlich mit dem Nachnamen „Schmidt“ unterschrieb, aber als Wohnort „Köln“ und nicht „Koblenz“ angab. Auch Sie hatte allerdings Augen im Kopf und registrierte seine Angaben auf dem Meldezettel.
„Freysing?“, fragte sie, während sie die Treppe hinauf gingen und unter sich waren.
„Das ist natürlich nicht mein richtiger Name.“, gab er lakonisch zurück.
Solange Yasmine ihr eigenes Zimmer bezog, hatte Freysing in dem seinem nur kurz Gelegenheit, eine weitere Nachricht nach Berlin abzusetzen, um Informationen über eine „Yasmine Schmidt aus Köln“ zu ersuchen, obwohl er eigentlich nicht glaubte, dass dies ihr tatsächlicher Name war. Er musste den Kontakt mit der Zentrale beenden, als sie bereits wieder an seiner Tür klopfte, und konnte so die Antwort seiner Dienststelle nicht abwarten.
Die Zeit drängte jetzt ein wenig. Es war bald dreiundzwanzig Uhr. Die wenigen Meter zum Spielcasino absolvierten sie zu Fuß, wobei er nicht vergessen hatte, einen kleinen Schirm aus seinem Reisegepäck mitzunehmen. Sie hakte sich bei ihm unter und er war bemüht, den Regenschutz tief genug und seitlich zu halten, damit sie nicht nass wurde. Allerdings hatte sich zum Regen nun auch noch ein ordentlicher Wind gesellt, sodass er leichte Schwierigkeiten damit bekam, den Schirm überhaupt festzuhalten.
Kaum hatten Yasmine und Sax das Hotel wieder verlassen, wurde die Lobby von der Straße her von einem jungen Mann betreten, der es eilig hatte, die Halle zu durchqueren. Derjenige am Nachtempfang warf nur einen kurzen desinteressierten Blick auf ihn und widmete sich gleich wieder seiner Zeitung.
Der Besucher war groß gewachsen, die langen braunen in einer breiten Welle auf seine Schultern fallenden Haare wirkten gepflegt, eine modische Brille mit beinahe rechteckigen Gläsern verlieh ihm etwas interlektuelles. Er trug Markenjeans und ein hellblaues Hemd, darüber eine offene Jeansjacke desselben Herstellers wie jenem der Hose, sowie eigentlich gepflegte dunkelbraune Schuhe, sämtliche Kleidung nun allerdings mit deutlichen Regen- und Spritzwasserspuren versehen. Er ging eilig über die Treppe in jene Etage, in welcher Freysings und Yasmines Zimmer lagen und blieb vor der Nummer 208 stehen. Sax´ Unterkunft!
Sämtliche Hotelzimmer waren mit gleichartigen elektronischen Schlössern gesichert. Der junge Mann nahm ein kleines Gerät aus der Tasche seiner Jacke, dessen eines Ende über ein kurzes Breitbandkabel hinweg die Form einer Schlüsselkarte aufwies, und steckte sie in den vorgesehenen Schlitz des Kästchens unter der Türklinke.
Nachdem er einen der kleinen eckigen Knöpfe auf dem Gerät gedrückt hatte, dauerte es nur noch etwas mehr als eine Sekunde, bevor die Anzeige der Türsicherung von „rot“ auf „grün“ umsprang und ein deutliches Klacken signalisierte, dass diese nun nicht mehr verriegelt war. Das elektronische Einbruchswerkzeug verschwand sofort wieder in einer seiner Taschen. Die Klinke der Tür ließ sich nun herunterdrücken, um sie zu öffnen. Der junge Mann versicherte sich, dass kein neugieriges Zimmermädchen in der Nähe war, dann betrat er den kurzen Flur hinter der Tür, drückte sie sorgsam hinter sich ins Schloss und stand mit drei weiteren Schritten bereits mitten in dem Hotelzimmer.
Sax hatte seinen Reisekoffer ausgeräumt und die wenigen Kleidungsstücke ordentlich im Wandschrank untergebracht. Der Koffer selbst stand in einer Ecke neben dem Bett. Der Mann hob ihn auf ein kleines Tischchen, öffnete ihn, fand aber darin nichts vor. Das zweite Gepäckstück, ein sehr schmaler Aktenkoffer, beinhaltete neben einigen Büroutensilien und der Pistole, die Sax Yasmine abgenommen hatte, das IPad. Der junge Mann nahm es heraus, setzte sich in einen der beiden kleinen Sessel an der Wand und stellte es auf seinen Schoß. Er klappte es auf und wurde sogleich von der Aufforderung begrüßt, ein Passwort einzugeben.
„Okay!“, sagte er zu sich selbst und nahm einen Spray aus der anderen Tasche seiner Jacke, mit dem er die Tastatur einnebelte, bevor er auf die einsetzende Wirkung wartende. Auf beinahe allen Tasten waren nach kurzer Zeit deutliche Fingerabdrücke zu erkennen. Diese besah er sich nun mit einer kleinen kugelschreibergroßen Schwarzlichtlampe und einer Schieblupe, die er wie den „Türöffner“ und den Spray mitgebracht hatte. Es gab einige Überlagerungen, als seien bestimmte Tasten mit verschiedenen Fingern betätigt worden. Wenn man mit Zehnfingersystem Texte schreibt, werden dieselben Tasten normalerweise immer von denselben Fingern betätigt. Auf einer Taste, die üblicherweise von einem Ringfinger betätigt wird, hat folglich der Abdruck eines Zeigefingers nichts verloren. Auf diese Weise konnte er sorgfältig nach und nach sechs Tasten identifizieren, die wohl von falschen Fingern, wahrscheinlich einem Zeigefinger, gedrückt worden waren.
„3RNUJKP", murmelte er die identifizierten Tasten vor sich hin. Ein sinnvolles Wort ergab dies in keiner Kombination, zumindest nicht in einer Sprache, die er beherrschte. Alle Kombinationen manuell auszuprobieren, würde Jahre brauchen. „Wäre ja auch zu simpel gewesen“, ergänzte er leise auf Holländisch. Dann schloss er das Gerät, drehte es um und besah sich die kleinen versenkten Schrauben auf der Rückseite.
Warnung!, stand dort neben einem passenden Icon mehrsprachig geschrieben. Das öffnen des Gerätes führt zum Erlöschen der Garantie!
Es interessierte ihn sichtlich wenig, und mit einem nunmehr anstelle der wieder weggesteckten Lampe hervorgefischten Minitaturschraubenzieher löste er die Schräubchen, bis der den Boden des flachen Gerätes vom übrigen Gehäuse und dem Bildschirm trennen konnte.
In der nächsten Viertelstunde arbeitete er konzentriert unter Zuhilfenahme der Lupe, und zweier winziger Bauteile, die erneut aus seinen Taschen kamen und die er nun in dem Gerät unterbrachte, bevor er das Gerät wieder zusammenmontierte und sicherstellte, dass er keine mit bloßem Auge erkennbaren Spuren hinterlassen hatte.
Zufrieden steckte er den Schraubenzieher ein. Das Gerät verschwand wieder in dem Aktenkoffer, alles fand wieder seinen ursprünglichen Platz. Schließlich verließ er zuerst das Zimmer und dann das Hotel auf demselben Wege, auf welchem er gekommen war. Der Nachtportier sah nicht einmal mehr auf. Niemand war besonders auf den Besucher aufmerksam geworden.
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