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Kapitel 3: Nightfall und Blow Job
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St. Goar, Rheinland-Pfalz, Deutschland. Sonntag, 12. Oktober 2014. Nightfall und Blow Job.
Wenn es überhaupt so etwas wie vollkommene Stille gibt, dann herrschte sie in jener Nacht im Schloßhotel vis á vis Burg Rheinfels, obgleich hinter der einen oder anderen Tür der Unterkünfte eher intime, fleißige Tätigkeit stattfand. Später einmal würde Susanne engsten Freundinnen von einer phantastischen Hochzeitsnacht mit dem ihr frisch angetrauten Max Haff von Vogelsang-Warsin berichten können. Nur ein einsamer Uhu rief leise im schmalen nahen Waldstück, und gelegentlich vermeinte man, vom Rheintal her das durchbrausen langer Güterzüge vernehmen zu können. Doch lag das Hotel zu weit entfernt, als das dies einen der Gäste seines Schlafes hätte berauben können.
Das Geräusch, das Sax weckte, kam erst nach vier Uhr am Morgen, zu der Zeit, wenn der Mensch gemeinhin seine Tiefschlafphase erreicht oder kurz hinter sich gebracht hat. Allerdings besaß er wie fast immer einen leichten Schlaf, sodass ihn das sanfte Knarren der Tür, die zu seinem Schlafgemach führte, sofort reagieren ließ. Instinktiv langte er mit noch geschlossenen Augen unter das Kopfkissen seines Bettes, wo sich in Ermangelung einer hierfür geeigneten Nachtkonsole bei seinen Einsätzen seine Pistole Heckler und Koch, Typ P 30 V2, Kaliber 9mm, befinden sollte. Aber der Platz war leer.
Er öffnete schnell die Augen und wurde sich sogleich bewusst, dass er sich nicht im Einsatz befand. Bilder des letzten Tages und Abends tauchten vor ihm auf, kurze Schnappschüsse von Susannes Hochzeitsfeierlichkeiten. Dann blickte er hinüber zu der Tür, die sich nun ein ganzes Stück weit nach innen geöffnet hatte. Eine größere Gestalt huschte gerade flink und leise hinein und schloss sogleich die Tür wieder hinter sich. Im fahlen Wiederschein des Mondes konnte Sax die Schemen einer kurz verharrenden, hochgewachsenen Person erkennen, deren Augen sich erst an die deutlich geringere Beleuchtung als noch im Gang draußen gewöhnen mussten.
Freysing tastete nach hinten über seinen Kopf hinweg zu einem Kippschalter an der Wand, direkt über dem Kopfende des breiten Bettes, dessen Betätigung sofort die elektrischen Kerzen des vielarmigen Deckenleuchters aufflammen ließ. Das Licht der Energiesparlampen dort war zwar zunächst ebenfalls schummrig, gab ihm allerdings Gelegenheit, die Frau in ihrer ganzen Größe zu bewundern, die ihm hier überraschenderweise in der Nacht einen Besuch abstattete.
Silke Wedding stand bereits zwei Schritte tief im Raum, einen Zeigefinger über ihre vollen Lippen gelegt. Auch völlig abgeschminkt sah sie ausgezeichnet aus. „Psssst!“ machte sie, während Sax versuchte, sein angenehmes Erstaunen zu verbergen. Damit hatte er nicht, zumindest nicht mehr, gerechnet, und schon gar nicht mit einem solchen Aufzug.
Das am Rücken weit ausgeschnittene und hochgeschlitzte Kleid, welches sie zur Hochzeitsfeier getragen hatte, war einem dreiviertellangen Negligé aus hellblauer, fast durchsichtiger Seide gewichen, welches in Bauchhöhe von einem schmalen, gleichfarbigen Gürtel locker zusammengehalten wurde. Es stand an der Vorderseite oben ein wenig offen und gab den Blick auf zwei wohlgeformte große runde und feste Brustansätze frei. Augenblicklich verspürte Sax, der trotz der Jahreszeit und einer angenehmen Kühle in der Unterkunft wie fast immer nachts völlig nackt schlief, eine leichte Versteifung unter der dünnen Bettdecke.
„Noch eine Hochzeitsüberraschung?“, flüsterte Freysing anzüglich schmunzelnd, sich an den plötzlichen Musikwechsel während des ersten Tanzes des Brautpaares, und die „englische Bedeutung“ ihres Namens erinnernd. Offenbar hatte sie lange gezögert, sich dann aber ein Herz gefasst und schließlich nun das große Zimmer aufgesucht, das Susanne für ihn reserviert hatte. Ihm fiel aber auch ein, dass Silke ja die Hochzeitsvorbereitungen mit getätigt hatte und somit ganz genau wusste, wo sie ihn zu finden hatte. Er hatte den ganzen vergangenen Tag und Abend ein deutliches Knistern zwischen ihnen gespürt, aber dann überlegt, dass es vielleicht nicht fair sei, mit Susannes guter neuer Freundin hier sozusagen unter ihrem eigenen Dach etwas anzufangen. Sein nächtlicher Gast sah das erstens völlig anders, und vor allem zweitens überhaupt nicht ein.
„Noch een Wort, un´ ick hau dir uff'n kopp, dette durch de Rippen kiekst, wie´n Affe durch et Jitter!“, schnodderte sie leise; fast könnte man denken, sie meinte es ernst, denn sie hatte durchaus ansehnliche Bizeps vorzuweisen. Ihre Pranken waren ihm schon über die Feier hinweg aufgefallen. Wahrscheinlich besucht sie regelmäßig eines dieser Damen-Sportstudios, um sich fit und in Form zu halten, dachte Freysing.
Dann war sie auch schon ans Bett herangetreten. Bevor er es sich versah hatte sie ihre Slipper abgestreift, welche sie als einzige Kleidung außer dem Negligé trug, und es sich direkt bei ihm unter der Decke kuschelig bequem gemacht, während er bereits wieder das Licht im Zimmer löschte, um sie anschließend geschickt vom Rest ihrer überflüssigen Kleidung zu befreien.
„Eener alleene is nich´ scheene. Aber eener mit eene und denn alleene, det is scheene!“, hauchte sie neckisch, als sie sich an ihn presste. Irgendwoher kannte er das Zitat, aber es fiel ihm nicht ein – er war völlig abgelenkt.
Sie glitt unter der Decke an ihm herunter bis fast zum Fußende, ihn dabei Abwärts bis zu den Lenden saugend küssend, und begann dann von dort aus mit ihrem Mund die unglaublichsten, wundervollsten Dinge zu veranstalten. Irgendwann meinte sie später einmal dirty, es sei ja schon etwas Paradox, wenn man einem „Flöter“ einen bläst…
Das kurze warnende Pfeifen des CityNightLine-Schnellzuges „Pegasus“ Nr. 40478, der den kleinen Nahverkehrsbahnhof von St. Goar auf seinem langen Weg von Zürich nach Amsterdam gegen 4:35 Uhr mit ausnahmsweise nur geringer Verspätung durchfuhr, freilich ohne dort anzuhalten, wäre im Schloßhotel nur bei geöffneten Fenstern wahrzunehmen gewesen.
Kaum hatte er das kleine Städtchen hinter sich gelassen, machte das bahneigene Begleitpersonal durch eine Lautsprecheransage auf den nächsten planmäßigen Halt aufmerksam. „Meine Damen und Herren. In wenigen Minuten erreichen wir Koblenz!“ - Dies wurde noch je einmal auf Englisch und Französisch wiederholt.
Der etwa zweiunddreißigjährige Mann, der in einem der bei langer Fahrt nur leidlich bequemen Sleeperette-Sesseln im dritten vorderen Waggon des langen Zuges saß, war in Basel eingestiegen und hatte sofort seinen Platz mit Beschlag belegt, nachdem er den großen Koffer, den er mit sich führte, im Gepäckraum über den Sitzen unterbrachte. Seitdem hatte er den Platz nicht mehr verlassen und sich auch jedes menschliche Bedürfnis verkniffen.
Zwischen Freiburg und Karlsruhe döste er zuvor einige Stunden vor sich hin, schlief aber nie fest ein. Um sich schließlich weiter wachzuhalten, trug er kleine verdrahtete Ohrstöpsel auf beiden Seiten und hatte die fortgesetzte Fahrt über Heavy Metal Musik gehört. Gerade lief das Stück The Criterion aus dem Album Astron Black and the Thirty Tyrants der griechischen Band Nightfall. Die harten Klänge, zu deren Rhythmus er mit dem Kopf nickte und leicht die Hände bewegte, wären auch jenseits seines Sitzplatzes hörbar gewesen, allerdings schliefen die anderen Fahrgäste zu jener Zeit tief und fest; auch diejenigen, die in seiner Nähe saßen.
Ein Blick der Schweizer oder Deutschen Grenzbehörden in seinen ausgezeichnet gefälschten niederländischen Pass hätte den Namen Till Amerland zutage gefördert, aber niemand hatte sich recht um den etwas dicklichen, leicht stoppelbärtigen Gelderländer in seiner durchweg schwarzen Kleidung gekümmert, obwohl allein schon seine auffällige Erscheinung normalerweise eine Provokation für jeden Staatsbeamten darstellte.
Er trug um den Hals und in seinem Gesicht ebenso wie an seinen Fingern ein ganzes Arsenal billigen Schmucks, fast ausschließlich in silberner Farbe, darunter mehrere Ohrringe, sowie einen falschen Minibrillanten auf dem linken Nasenflügel. Das Haar war tiefschwarz gefärbt, obwohl in seinem Paß blond – aber der scheinbare Widerspruch passte zum Gesamtauftritt - strähnig und wirkte dabei äußerst ungepflegt, ähnlich wie auch seine stacheligen Augenbrauen. Bei den Augenhöhlen und Wangen hatte er mit Shadow-Make-up nachgeholfen, um absichtlich einen noch morbideren Eindruck zu erwecken.
Leute wie ihn kontrollierte man allerdings eher, wenn sie aus den Niederlanden in die Bundesrepublik Deutschland einreisten, nicht, wenn sie durch Deutschland in die Niederlande hinein wollten, sofern man an den Grenzen innereuropäisch durchreisende überhaupt noch gelegentlich kontrollierte. So aber war er der abendlich oberflächlichen Aufmerksamkeit der eher gelangweilten Beamten beim Grenzübertritt nach der Abfahrt in der Nordwestschweiz entgangen.
Als im Rheintal die ersten Lichter Boppards draußen vorüberzogen und der Lokführer bereits mit dem Bremsmanöver begann, stand er auf, obwohl er das angebliche Ziel seiner Reise noch längst nicht erreicht hatte. Den großen Koffer, der ein gewisses Gewicht zu besitzen schien, nahm er mit. Bewegte sich eher langsam und so behutsam wie möglich im Waggon entlang nach hinten, um nicht bei einer schlingernden Zugbewegung in einer der zahlreichen Biegungen und Windungen der linken Rheinstrecke versehentlich zu stolpern und dabei einen der Passagiere zu wecken, welche in ihren Sesseln Nachtruhe hielten.
Nachdem er sich in der Zugtoilette am Ende des Waggons mit der Laufnummer 173 eingeschlossen hatte, stellte er den Koffer sofort quer über den niedrigen Abort und öffnete ihn mittels eines kleinen Schlüssels aus den Tiefen seiner schwarzen, enganliegenden Nietenjeans. Dann nahm er die Ohrstöpsel ab und legte sie mitsamt des leise weiter dudelnden MP-3-Player beiseite. Innerhalb der nächsten fünf bis sieben Minuten ging mit dem Mann eine komplette Verwandlung vor. Im Becken der Zugtoilette wusch er sich zunächst mit Hilfe einer speziellen Lotion aus dem Koffer eilig die schwarze Farbe aus Haaren und Augenbrauen, sowie das Make-Up aus dem Gesicht. Zuletzt entfernte er noch den Schmuck, der lediglich aufgeklebt oder angehaftet gewesen war. Den Stoppelbart beseitigte er fast in Windeseile mit einem sehr geräuscharmen Akkurasierer. Dabei blickte er zweimal auf seine einfache analoge Armbanduhr, schien aber unbesorgt.
Die Haarfarbe war nun dunkelblond mit einem leichten Stich ins rötliche, und er wirkte allein schon nach dieser Veränderung vertrauenserweckender als zuvor. Sein Gesicht strahlte alllerdings keineswegs Freundlichkeit aus; es wies einen schon fast grausamen Mund mit schmalen Lippen auf, die Augen waren hell und ohne die ebenfalls entfernten Kontaktlinsen beinahe als farblos zu bezeichnen. Sie lagen eng und schmal beim sich hervorhebenden Ansatz einer kurzen Nase. Die Wangen, vorher durch die dunkle Farbe eher eingefallen wirkend, machten nun einen ganz normalen Eindruck.
Seine Jeans, die Jacke und sein langärmliges etwas verschwitztes Shirt wichen gepflegter und gebügelter Kleidung aus dem Koffer, und auch seine schwarzen Halbschuhe wurden im engen, wackeligen Abteil in allerkürzester Zeit durch braune Slipper ersetzt. Er ging bei allem schnell und präzise, ohne hektische Nervosität, vor – eben so, als habe er alle einzelnen Handgriffe hundertfach geübt. Der schwere, breite Lendengurt mit einer Polsterung, die ihn dicklich hatte erscheinen lassen, verschwand ebenso wie die nicht mehr benötigte Kleidung im Koffer. Dafür förderte er einen beigen Mantel mit breitem, hochklappbarem Kragen und zwei großen Knopfreihen zu Tage, den er überstreifte und schloss. Bevor er auch ganz oben zuknöpfte, fasste er in die geräumige innere Brusttasche und zog ein schmales Etui hervor, das einen Ausweis und einen EU-Führerschein beinhaltete. Die ebenfalls falschen niederländischen Dokumente, die er ab jetzt verwendete, lauteten auf den Namen „Teun Andergast“ mit Wohnsitz in Apeldoorn, das Bild in beiden Papieren entsprach seiner gegenwärtigen Erscheinung. Sie waren nicht von minderer Qualität als die zuvor benutzten. Schnell steckte er das Etui wieder zurück und schloss auch den letzten Mantelknopf.
Er sah nun so aus, wie man sich einen Handelsreisenden nach einer sehr stressigen Arbeitswoche vorstellte, jedoch waren die Handgriffe, die nun folgten, um einiges bedeutsamer, als es das Sortieren von Warenmustern zu sein vermochte. Mit einem speziellen Kabel aus dem Koffer verband er zunächst eine entsprechende winzige Buchse seines abgelegten Lendengurtes mit dem MP-3-Player. Auf diesem betätigte er den Icon für die digitale Laufzeitmessung und stellte ihn auf den Wert 0000 zurück. Dann drückte er auf das Play-Symbol und stellte die Lautstärke so weit herunter, dass die Musik nur noch sehr, sehr leise überhaupt zu hören war. Alles lag schließlich im Koffer, den er nun sorgsam wieder verschloss und in eine Ecke der Toilette stellte, sodass er auch von heftigerer Zugbewegung nicht mehr in Mitleidenschaft gezogen werden konnte.
Der Mann strich sich über sein von der Behandlung noch nasses Haar, um es dann mit wenigen Papierhandtüchern etwas zu trocknen, und besah sich seine Veränderungen im kleinen Zugtoilettenspiegel. Er wirkte sehr zufrieden. Der Zug bremste stärker, um seine Geschwindigkeit deutlich so weit zu verringern, dass er gleich im Bahnhof Koblenz würde anhalten können. Teun Andergast verließ die Zugtoilette und steckte draußen einen Vierkant in die Türverriegelung, den er zuvor aus der vorderen Tasche der Hose fischte, welche er nun trug. Damit verriegelte er die Tür und brachte dann einen ebenfalls noch aus der Manteltasche hervorgezogenen mehrsprachigen Original-Service-Aufkleber an, der die Toilette in mehreren Sprachen als Defekt auswies.
Als der Zug im Bahnhof anhielt, verließ er ihn sofort mit nur zwei anderen Reisenden. Das einzige, was an Andergast auffällig hätte sein können, war die Tatsache, dass er nun ohne jegliches Gepäck unterwegs war. Diesem Umstand verdankte er es aber auch, dass er vor den anderen Ankömmlingen das zu dieser Zeit einzige Taxi in der Nähe des Ausgangs erreichte und, dort eingestiegen, eine Adresse auf der anderen Seite des sich hier einfindenden Mosel-Flusses als Fahrtwunsch angab.
Während der Taxifahrer Gas gab, verließ der Zug bereits wieder die Station und rollte mit zunehmender Geschwindigkeit aus der kleinen Stadt mit dem Deutschen Eck heraus. Hinter der Moselbrücke zog er den weiten Bogen durch das Industriegebiet zwischen Urmitz und Weißenthurm mit dem schemenhaften Kernkraftwerk Mülheim-Kärlich zur Rechten, um schon wenig später bei Andernach wieder in das Rheintal einzubiegen. Die Digitalanzeige des Players im Koffer war bei 0310 angelangt.
In Höhe des kleinen Ortes Namedy kam eine junge und hübsche Frau Mitte zwanzig, die bisher geschlafen hatte, bei der leicht ruckenden Zuganfahrt in Koblenz aber aufgewacht war, zu dem Schluss, die Toilette aufzusuchen, um einem gewissen menschlichen Drang zu folgen. Sie wunderte sich zwar, dass die Toilettentür verschlossen war, nutzte dann aber den Raum im nächsten Waggon, nachdem sie den Serviceaufkleber erblickt hatte.
„Wäre ja auch ein Wunder, wenn bei der Bahn mal etwas funktioniert!“, sagte sie schläfrig dabei leise zu sich selbst, mit angedeutet herablassendem saarländischem Akzent.
Der Zug passierte nun zunächst Brohl und dann Bad Breisig, während die Frau zu ihrem Platz zurückkehrte. Ein Schaffner folgte ihr in wenigen Metern Abstand und überzeugte sich davon, dass ihm niemand entging, der in Koblenz zugestiegen sein könnte. Der Zug hielt zwar dort sowie auf einigen anderen Bahnhöfen eigentlich nur zum Ausstieg, aber immer wieder gab es dreiste Schwarzfahrer. Diesmal aber war ihm niemand aufgefallen, und er stutzte auch nur einen Augenblick, als er den leeren Sessel bemerkte, in dem der Goth vorhin noch gesessen hatte. Er wunderte sich etwas mehr bei der Toilettentür mit dem Aufkleber, maß dem jedoch nach kurzem antwortlos bleibendem Klopfen keine weitere Bedeutung bei. Vielleicht hatte er ihn zuvor nur übersehen. Das Personal hatte unterwegs gewechselt. Bald zeigte die Digitalanzeige im Dunkel die Zahl 0520 an.
Nach wie vor schliefen beinahe alle Zuggäste, als sie erst durch das nächtliche Sinzig gelangten und dann Remagen erreichten, mit einem Blick hinüber zur Erpeler Ley und den Überresten der fast schon weltberühmten Brücke, die im zweiten Weltkrieg eine hohe strategische Bedeutung innegehabt hatte. Zu jener Zeit hatten die Züge hier den Rhein gequert, nun aber blieb der Nachtexpress auf der linksrheinischen Strecke und durchfuhr langsam die Haltepunkte der kleineren Orte, in denen nur tagsüber Betrieb herrscht. Die Digitalen Ziffern des Players im Koffer zeigten 0819, als die mehrsprachige Lautsprecheransage bereits das baldige Erreichen des Bonner Hauptbahnhofs ankündigte. Im morgendlichen Dunkel wurde der Petersberg mit dem teils frühmorgendlich erleuchteten Hotelkomplex darauf weithin sichtbar, Ort zahlreicher internationaler Zusammenkünfte während der Zeit, als Bonn noch Bundeshauptstadt war. Die Digitalanzeige erreichte bereits die 0980 und rückte permanent weiter vor. Unaufhaltsam.
Die Detonation erfolgte mit einem gewaltigen Krachen sehr exakt um 5:25 Uhr, als die Ziffernfolge des Players im Koffer von 0999 auf 1000 umsprang und damit einen elektrischen Impuls zu dem Zünder in dem abgelegten Lendengurt sandte. Der Zug erreichte zu diesem Zeitpunkt gerade noch ein klein wenig mehr verspätet als in Koblenz die südlichen Außenbezirke Bonns, in denen am Sonntagmorgen noch alles schlief. Die Passagiere des Zuges hatten keine Chance.
Die Wucht riss bei einer Geschwindigkeit von vielleicht noch siebzig bis achtzig Stundenkilometern den halben dritten und vierten Waggon auseinander und hob diese ein paar Meter hinaus aus den Schienen empor, sodass beide sogleich weit aus selbigen herausgehoben worden. Im Gleisbett entstand ein Krater und deformierte die Gleise, wo sie nicht gänzlich verschwanden. Die Druckwelle, die beinahe zeitgleich mit der Explosion über die Landschaft hinweg fegte, ließ im erheblichen Umkreis Scheiben bersten, ungesicherte Gegenstände durch die Luft fliegen und auch alle anderen Eisenbahnwaggons aus den Schienen wirbeln. Drei frühe Autos auf der nahen Bundesstraße wurden aus der Fahrspur gedrückt und prallten gegen Lichtmasten und Leitplanken. Es gab auch dort Tote und Verletzte. Der extrem laute Knall mit mehrfachem Wiederhall riss die Menschen zwischen Remagen und Wesseling auch aus ihrem gegenwärtigen Dämmerungsschlaf.
Sofort verschoben sich die kreiselnden und sich um die Längsachse herum überschlagenden Waggons, wo sie nicht direkt völlig zerstört waren, zueinander und quer zum Gleis, rissen alles mit, was jenseits der Böschung an Vegetation und Umzäunungen vorhanden war. Metall quietschte, Glas barst, Trümmer flogen umher. Sitze wurden samt Passagieren in den sich stark deformierenden Waggons aus den Halterungen gerissen. Sämtliches Licht flackerte erst und erlosch dann schnell.
Der Schaffner, der gerade durch einen der mittleren Waggons ging, wurde fast den gesamten Gang entlang geschleudert und brach sich das Genick. Die meisten Insassen überraschte die Bombe im Schlaf, und sie starben, bevor sie mitbekamen, was vor sich ging. Dort, wo ein kurzes Erwachen dem Ende vorausging, blieb noch Zeit für einen tonlosen Schrei oder ein entsetztes Gesicht. Jene junge Frau, die nach dem Halt in Koblenz zur Toilette gegangen war, flog hingegen durch eine der berstenden Scheiben hinaus und über das Schotterbett, wo sie blutend und mit gebrochenen Knochen neben dem Gleisabhang liegen blieb.
Der Triebwagen, durch die Explosion und die anschließenden Waggonbewegungen hinter sich nach vorn geworfen und ebenfalls an den Hinterachsen stark angehoben, stürzte aus den Schienen schwer auf die linke Seite und rutschte mit kreischenden Geräuschen über das Gegengleis. Funken stoben, als Teile der Oberleitung herunter rissen und im Reigen greller Blitze auf den Anlagen tanzten. Die zwei vorderen Waggons schlitterten mit hoher Geschwindigkeit fast auf dem Dach quer über den Bahnsteig eines kleinen Stadtteilbahnhofes, den der Zug gerade hatte passieren wollen. Wären zu diesem Zeitpunkt dort wartende Fahrgäste gestanden, dann hätte es für sie sicher keine Rettung mehr gegeben. So prallten die Waggons, sich gerade noch einmal halb überschlagend, erst gegen die hölzernen Stützpfeiler des ohnehin maroden Bahnhofsvordachs und einzelne Laternenmasten, die sämtlich wie Streichhölzer wegknickten, dann schob sich der nächste Waggon mit dem herum kreiselnden Ende tief in die Fassade des alten, fast leer stehenden Hauptgebäudes. Das grenzenlose Tohuwabohu breitete sich in Windeseile aus.
Ein junger Autofahrer in einem grünen VW Beetle, der an der hier befindlichen Kreisstraße ein Stück weit vor geschlossener Bahnschranke in Stationsnähe am frühen Morgen wartete, verfolgte ungläubigen und entsetzten Erstaunens das Schauspiel, das sich ihm hier in wenigen Sekunden bot. Sein Fahrzeug wurde dabei von der Druckwelle ein paar Meter nach rückwärts gedrückt, aber die Scheiben blieben launenhaft unbeschädigt, als sei eine höhere Macht im Spiel.
In einem naheliegenden Fabrikkomplex barsten hingegen gleich bei der Explosion alle der Strecke zugewandten Fenstergläser samt ihrer dünnen Sprossen nach innen. Der leitende Mitarbeiter der dünnen Sonntagmorgenschicht, niedergeworfen durch die Druckwelle und blutig vom herumfliegenden messerscharfen Glas, stand mühsam auf, hinkte zur Wand, drückte den Nothalt-Knopf der Maschinenanlage und schaltete, obwohl sichtlich geschockt, geistesgegenwärtig die hauseigene Dachsirene für den Katastrophenschutz ein, deren lautes Jaulen kilometerweit zu hören war, kaum dass die Waggons zur Ruhe gekommen waren.
Es war jedoch noch nicht zu Ende.
Das Attentat war sehr gut getimt. Nichts schien dem Zufall überlassen worden zu sein, abgesehen von der leichten Verspätung des Expresszuges.
Der entgegenkommende Flüssigkeitstank-Güterzug aus dem Ruhrgebiet, der eine halbe Million Gallonen Cyclohexan-Aceton zu einem Kunststoffwerk nach Mannheim bringen sollte, durchfuhr den Bonner Hauptbahnhof kurz vor dem Moment des Anschlages mit gemäßigter Geschwindigkeit und passierte wenige Minuten später, bereits wieder etwas beschleunigend, den südlicheren Stadtteil Bad Godesberg. Als der laute Explosionsknall den Lokführer erreichte und dieser das Chaos erblickte, das sich vor ihm entwickelte, reagierte er, die Augen weit aufgerissen, sofort mit einer Vollbremsung, konnte aber dem vorbestimmten Schicksal nicht entrinnen. Das Kreischen der Bremsen auf dem Stahl der Räder war durchdringend zu hören.
Mit noch fast sechzig Stundenkilometern prallte der Güterzug auf den Triebwagen des Nachtexpress, der nun in seiner Fahrspur lag und kam selbst zum Entgleisen, während linkerhand gerade die Fassade des alten Bahnhofes zusammenstürzte. Die Tankwagen liefen aus den Gleisen, überschlugen sich seitlich, durchbrachen die Umzäunung des Bahnhofsbereichs und rissen sofort an mehreren Stellen auf. Flüssigkeiten liefen erst schnell aus und entzündeten sich an den Funken der gerissenen Oberleitungskabel. Es gab keine weitere Explosion, aber die sich anschließende rasende Feuerhölle von mehreren hundert Grad verbrannte im Nu alles und jeden, der sich im Bereich des Infernos befand.
Durch die einsetzende Hitzewelle bogen sich selbst bei dem Beetle an der nun bereits nicht mehr existenten Schranke, der bei der Explosion seltsamerweise noch keinen besonderen Schaden erlitten hatte, die Scheiben nach innen, warfen Blasen und platzten schließlich nach innen auf. Der darin sitzende Fahrer war sofort tot und verbrannte im Nu. Erst dann fing das Fahrzeug selbst vollständig Feuer, bis schließlich sein Tankinhalt in die Luft flog.
Fast alles, was in der direkten Umgebung brennbar war, stand schließlich in lodernden Flammen, und alles, was nicht selbst brennbar war, brannte und schmolz durch das chemische Gemisch, das sich darüber ergossen hatte. Beißender Rauch breitete sich schnell aus und hüllte die schreckliche Szenerie zusammen mit den Flammen in ein gespenstisches Spiel aus Licht und Schatten, dem das wenig später folgende Morgengrauen das Seinige hinzu fügen würde.
Bereits sehr kurze Zeit nach der Explosion und den einsetzenden Sirenen waren aus allen Richtungen unzählige Martinshörner der herbeieilenden Rettungskräfte zu hören, sowie die weiteren Katastrophenschutzsirenen der Umgebung, welche sich anschlossen, um die Bevölkerung zu warnen. Das Heer an Feuerwehren, die bald großflächig mit Schaum stundenlang die unzähligen Brände der Umgebung bekämpften, war beeindruckend. Bevor man allerdings im direkten Bereich der Bahnstrecke löschen und dann Verletzte oder Tote bergen konnte, mussten die Starkstromleitung abgestellt und weitere Züge gestoppt werden. Es gab schnell einen Rückstau bis Köln und Koblenz.
Dort, wo die Fenster der Häuser geborsten oder die Bausubstanz anders beschädigt war, begann alsbald eine eilige Evakuierungsaktion. Die Menschen darin wurden zitternd vor Angst oder starr vor Schreck aus ihrer vertrauten Umgebung geholt und in den umliegenden Sporthallen und Schulen untergebracht. Dort richteten Rotes Kreuz, Johanniter- und Malteserhilfsdienst erste Notunterkünfte ein. Rettungsfahrzeuge aus den städtischen und ländlichen Krankenhäusern transportierten in Permanenz diejenigen ab, die etwas mehr Glück gehabt hatten. Aus dem Nachtexpress waren es kaum mehr als eine handvoll Personen - unter ihnen befand sich auch die sehr schwer verletzte hübsche junge Frau mit dem menschlichen Bedürfnis, die aus dem Zug geschleudert worden war und die nur wie durch ein Wunder überlebt hatte.
Auf der gesamten linken Rheinschiene ging zwischen Bonn und Remagen gar nichts mehr, und das sollte sich auch in der nächsten Zeit erst einmal nicht ändern. Die Aufräum- und Reparaturarbeiten würden wenigstens drei bis vier Wochen in Anspruch nehmen, wie man später veranschlagte.
An diesem Morgen klingelten zahlreiche Handys im gesamten Rhein-Sieg-Kreis, um Ärzte mit oder ohne Bereitschaft zu wecken und zu ihren Arbeitsstellen zu rufen. Diejenigen beiden, die als Gäste der Hochzeitsfeier mit an Freysings Tisch gesessen hatten, waren auch darunter. Alle Mediziner wurden gebraucht! Polizeikräfte aus Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz hatten eine halbe Stunde später das Gebiet weiträumig abgesperrt und leitete den Durchgangsverkehr um. Mit Mühe gelang es den uniformierten Beamten auch, die sich schnell mehrenden unvermeidlichen Schaulustigen zurückzuhalten, die sich dem Kerngebiet nähern wollten, ohne Rücksicht auf eigene Verletzungen oder die Behinderung der Rettungseinheiten.
Im Radio und später auch im Fernsehen wurden die laufenden Sendungen unterbrochen und eindringliche Hinweise gegeben, Türen und Fenster geschlossen zu halten - beinahe sarkastisch in Hinblick auf die vielen geborstenen Scheiben - und die Wohnungen nicht zu verlassen, soweit nicht zur Evakuierung aufgerufen war. Es brauchte nicht viel Zeit, bis die gesamte Medienwelt ihre Vertreter persönlich vor Ort entsandt hatte. In der „Bundesstadt“ Bonn waren immer noch die wichtigsten Agenturen, Sender und Zeitungen der Welt mit Büros ansässig, sodass die Kunde von dem, was in der ehemaligen Bundeshauptstadt geschehen war, noch am Morgen vielsprachig um den Globus ging.
Bereitschaftspolizei wurde eingesetzt, natürlich auch Bundespolizei, die seit der Umgliederung des Bundesgrenzschutzes für die Bahnanlagen zuständig war, ein Kontingent der Koblenzer Bundeswehrkaserne in Arbeitsuniformen rückte auf Anfrage des NRW-Innenministers an, um bei den Aufräumarbeiten zu helfen.
Das THW und Spezialisten der Bahn kamen gegen Mittag mit schwerem speziellen Bergungsgerät, mussten aber mit der Arbeit warten, bis das Eisenbahn-Bundesamt und das Bundeskriminalamt ihre Untersuchungen vor Ort abgeschlossen hatten. Trümmerteile wurden als Beweismittel sichergestellt und abtransportiert. Einige sehr alte Menschen, die in der Umgebung wohnten, meinten, es sähe aus wie nach dem Krieg, obwohl ihre konkreteren Erinnerungen an jene Zeit inzwischen allmählich dem dementen Vergessen anheimfielen.
In den folgenden Stunden des Sonntags begann eine oft geplante, aber bisher derart nie zum Einsatz gekommene Notfallroutine, die von Professionalität und Effektivität der koordinierten Einsatzkräfte geprägt war. Trotz des ganzen entstandenen Chaos herrschten notwendiger Überblick und sinnvolles Handeln. Frühzeitig stand fest, dass es sich bei dem „tragischen Unfall“, den man im ersten Moment vermutet hatte, um einen gezielten Bombenanschlag gehandelt hatte. Über die tatsächlichen Hintergründe konnten seitens der Presse und der anderen Medienvertreter jedoch zunächst nur vage Vermutungen angestellt werden. Sehr schnell gerieten die Salafisten in Verdacht, Beweise gab es jedoch nicht.
In zahlreichen Web-Blogs wurde zeitnah über das Ereignis debattiert. Bald meldeten sich radikale Kreise, die es in ihrem jeweiligen Sinne auszuschlachten wussten, die Tatsachen verbogen und je nach Gesinnung Mehr Polizei, Mehr Rechtsstaat, weniger Ausländer, Alle Macht dem Volke, Todesstrafe für die Mörder, Transparenz der Politik, Keine Gifttransporte durch Wohngebiete, Abschaffung der Demokratie, Raus mit den Mullahs oder auch die Legalisierung von Marihuana für eine friedlichere Welt forderten. Eine Gruppierung namens Bogida war dabei besonders lautstark zu vernehmen. Wie zumeist gab es oft einen noch sinnvollen Hauptkommentar, mehrere weniger sinnvolle, zum Teil auch abstruse Antworten, dann zwanzig bis dreißig Profilierer, die sich über Wortwahl und Grammatik der Schreiber ausließen, und schließlich welche, die das Ganze ins Lächerliche zogen. Die Deutsche Bahn selbst kam bei den ganzen Attacken ausnahmsweise einmal glimpflich davon. Ein formelles Bekennerschreiben oder Bekennervideo blieb allerdings aus.
Für das ganze Land galt nun die oberste Terrorwarnstufe direkt unterhalb des Allgemeinen Ausnahmezustandes.
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