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Kapitel 1: Vergänglichkeiten

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Hessische Lande (östliche Grafschaft Hanau-Münzenberg/Schlüchtern);unweit des Fürstbistums Fulda, mitten im „Flickenteppich Europa“, Herbst, 1763, in den Nachwirren des Siebenjährigen Krieges. Vergänglichkeiten.

Der Himmel in gedecktem Einheitsgrau erinnerte an den leichten Nieselregen, der vor einer Stunde noch das vom langen dürren Sommer ausgetrocknete kniehohe Herbstgras der weiten Rhönlandschaft befeuchtet hatte. Am östlichen Horizont waren die Höhenzüge um die Wasserkuppe zu erkennen, welche dicht von um diese Jahreszeit vornehmlich laubarmen Buchen bestanden waren. Die Szenerie glich den Gemälden holländischer Meister wie Nicolaes Berchem oder Jan van Goyen, nur beinahe noch düsterer und auch mehr unheilverkündend.

Seit nunmehr längerer Zeit wurde das gesamte umliegende Gebiet von einer inzwischen stark angewachsenen marodierenden berittenen Horde heimgesucht, die ursprünglichen Teils einmal aus dem Gefecht bei Emsdorf als Deserteure des Siebenjährigen Krieges hervorgegangen waren. Dort, nahe der seinerzeit belagerten Stadt Marburg, gelang es im Sommer vor drei Jahren einer unter Führung von Erbprinz Karl Wilhelm von Braunschweig stehenden Allianz aus Briten, Hannoveranern und Hessen-Kasselern mehr zufällig, ein von Fulda aus über Gießen vorgerücktes annährend gleichgroßes französisches Heer von etwa fünftausend Mann aufzustöbern und aufzureiben. Zermürbende Kämpfe über mehrere Stunden zogen sich dabei bis durch den Herrenwald nach Niederklein, bevor die Franzosen sich erschöpft mit etwa zwei bis dreimal höheren Verlusten ergaben.

Auf Seiten des alliierten Kampfverbandes folgte alsbald jedoch ein Streit über die Verteilung des Siegesruhms, den die kaum ausgebildeten beteiligten britischen Eliott-Dragoner wegen ihrer besonders hohen eigenen Verlustanteile auf der Gewinnerseite vorrangig für sich beanspruchten. Es kam dann, bereits angeheizt, zu erheblichen gegenseitigen Verdächtigungen und zu Handgreiflichkeiten wegen der bei jener Gelegenheit angeblich plötzlich verschwundenen Kriegskasse des französischen Generals Glaubitz. Dies alles resultierte in der Nacht im fluchtartigen Verlassen der Armee durch eine hessische Gruppe, die seit der Kenntnisnahme vom negativen Ausgang der nahen Schlacht vor Korbach wenige Tage zuvor missmutig geworden war. Dabei nahmen sie auch einige Reittiere der Dragoner anstelle ausstehenden Soldes mit.

Erst zwei Jahre darauf, 1762, konnte man zweier Einwohner des nahen Ortes Langenstein habhaft werden, die den Kriegskassenfund einst in Wahrheit gemacht und den Truppen schlichtweg unterschlagen hatten. Der opportunistische Heerführer Generalleutnant Nikolaus Luckner war zu der Zeit erfolgreich gewesen, mit einem Hannoveraner Partisanenkorps den wichtigen Bischofssitz Fulda einzunehmen - allerdings lediglich um nach dem Kriege selbst für ein ansehnliches Salär in die Dienste des vormaligen Gegners Frankreich zu treten. Die nach dem Gemetzel 1760 abtrünnigen Soldaten hingegen blieben vorerst sowohl von der französischen Vorherrschaft als auch von den Entsatzungsmächten Hessen-Kassels ungefasst und ohne Rehabilitiation nach Kriegsende 1763 gesuchte Gesetzlose, denen sich im Laufe der Zeit immer weitere Mordsgesellen aus der Umgebung anschlossen.

Schnell lauter werdendes Hufgetrappel war nun zu hören. Die große Zahl eher dürftig gekleideter Reiter, deren blutrünstige Taten inzwischen bis weit über die Region hinaus bekannt waren, kam fast von einer Sekunde zur anderen in weitem Bogen hinter einem der näheren Hügel hervor. Eine breite Spritzwasserfahne hinter sich herziehend, galoppierten sie auf ihren recht erschöpften, aber wohlgenährten Tieren in die kleine Senke hinunter, an deren Fuß sich die Riemütz entlang schlängelte. Gegenwärtig war der Bach, der im Frühjahr das Schmelzwasser zu Tal brachte, nicht viel mehr als ein langsam fließendes Rinnsal von gut einer Elle Breite.

Der Kommandeur des sich dort befindlichen regulären hessischen Schlachthaufens, der seine eigene Truppe den Tag über eilenden Schrittes zu Fuß durch die Weiten der Rhön an Fulda vorbei gen Steinau geführt und nun „Biwak“ befohlen hatte, schien überrascht. Trotzdem besaß er die Geistesgegenwart, aufgrund des lauten Wieherns, das die nahenden Tiere in instinktiver Erwartung des Folgenden von sich gaben, sofort zu reagieren und durch ein kurzes Trompetensignal eine schnelle Verteidigungsstellung bilden zu lassen.

Die ihm unterstellten Männer waren in etlichen früheren kleineren Scharmützeln kampferprobte Soldaten, hier aber teilweise freilich noch Jungen von kaum mehr als fünfzehn Jahren, die über kurze Zeit stark im Gesicht gealtert waren ob der Schrecken, welche sie in den letzten Kriegsjahren erlebt hatten. Manche mochten mit elf oder zwölf bereits zur Armee gestoßen sein. Etwa ein Viertel von ihnen trug durchblutete Verbände, die von vorangegangenem Schlachtgetümmel zeugten. Sie pflanzten eilig Bajonette auf die langen Musketen und gingen in Position, während die Reiter schnell näher kamen. Diese, allesamt gestandene Kerle von zwanzig Jahren oder älter, hatten ihrerseits Säbel blank gezogen, duckten sich nun tief in die Rücken ihrer früher erbeuteten Pferde hinein und schienen das Tempo weiter zu erhöhen, um die nur noch geringe Distanz zu überwinden.

Das Gemetzel begann. Mit einer annähernd gleichzeitigen Salve aus allen Musketen eröffneten die Armisten das Feuer auf die Reiter, gerade als diese in die Reichweite der Langwaffen gerieten. Eigentlich hatten sie in ihrer aufkommenden Panik viel zu früh geschossen, aber drei oder vier der vorderen Angreifer wurden aus ihren Sätteln gerissen, als die groben Rollkugeln mit fettem Einschlag sie trafen. Dort, wo der Schütze nicht so exakt gezielt und stattdessen das Pferd getroffen hatte, wurde der Reiter im hohen Bogen über das stürzende Tier hinweg hart zu Boden geworfen und blieb dort mit gebrochenen Armen, Beinen oder Hals liegen. Unschöne, weit klaffende Wunden unter den vom langen Ritt und mangelnder Hygiene bereits verschmutzten Kleidungsstücken zeugten von schwersten Verletzungen. Reiter und Tiere lagen, wo sie nicht sofort tot waren, zuckend im Gras.

Bevor die Armisten für eine zweite Salve laden konnten, waren die Reiter heran, und einige der Pferdebäuche machten nun Bekanntschaft mit den Bajonetten, sodass die Tiere fielen und deren Besitzer sich inmitten der Stecher wiederfanden.

Der gewaltige Bandit, der die Reiterhorde anführte, säbelte indes gleich dreien der ihn gerade umstehenden Gegner vom tänzelnden laut wiehernden Rappen herunter die Arme kurz, das sie ihre Waffen fallen ließen und Schwalle dunklen Blutes aus den Stümpfen schossen. Noch ungläubig, was ihnen wiederfuhr, setzten weitere Hiebe gegen die Hälse ihren jungen Leben ein jähes Ende. Sie stürzten über-einander mit im Tode weit aufgerissenen Augen in das Bächlein, das sich bereits rot zu färben begann.

Jene Angreifer, welche ihre Pferde verloren, kämpften zu Fuß weiter, mit Kurzwaffen und mit den Fäusten, rollten im Handgemenge gemeinsam mit ihren jeweiligen Gegnern über andere, die bereits gefallen waren. Hatten beide Seiten zu Beginn des Gefechts etwa vierzig bis fünfzig Mann gezählt, gab es bald ein Ungleichgewicht zugunsten der Angreifer, wenn auch die Salve aus den Musketen deren Zahl zuvor bereits etwas dezimierte.

Im Kampf Mann gegen Mann waren die Reiter überlegen, vor allem eben, da die Angegriffenen in der Mehrzahl aus bereits früher Verwundeten und schmächtigeren Soldaten bestanden, welche bis vor einiger Zeit zudem noch Kriegsentbehrungen hinnehmen mussten. Diese hatten nun ihrerseits Hiebwaffen oder Messer gezogen und verteidigten sich, so gut es ihnen eben möglich war. Lediglich der Kommandeur besaß eine Pistole, die inzwischen aber leergeschossen war. Das Gefecht mochte bald an die fünfzehn Minuten andauern und wurde währenddessen immer heftiger. Blut spritzte, Schreie waren zu hören, wenn ein Gegner empfindlich getroffen wurde. Immer mehr Tote und Schwerstverwundete lagen auf dem Schlachtfeld. Dann war es vorüber.

Am Ende blieb noch etwa die Hälfte der Angreifer übrig. Sie stiegen von den Pferden, soweit sie diese nicht in der Schlacht verloren hatten, gingen zwischen den umherliegenden Körpern ihrer Feinde entlang und versetzten hier und dort denjenigen, die noch nicht tot waren, einen erlösenden Stich mit den erbeuteten Bajonetten der Musketen. Genauso verfuhren sie mit den Kameraden, bei denen jede Versorgung vergeblich gewesen wäre, und mit den verletzten Reittieren.

Der Kommandeur der Armisten war ebenfalls noch am Leben, als der Anführer der Reiterhorde zu ihm stieß. Er lag im hohen Gras, atmete schnell und kurz aufgrund einer ihm beigebrachten Lungenverletzung und blutete zudem stark am Hals. Er mochte dreißig Lenze zählen, aber sein Haar war bereits grau. Eine einfache Leinentasche, fleckig und am Tragegurt eingerissen, war halb unter ihm begraben. Der Anführer der Banditen erblickte sie sofort.

Habt… habt ihr doch… doch noch erreicht, was… was ihr wolltet…“, brachte der Schwerverwundete mühsam hervor. Blut lief aus seinem Mund, aber er wollte seinem Gegner den Triumph nicht recht gönnen, und richtete sich mühsam halb hoch auf die Ellbogen.

„Ihr hättet eben schon beim ersten Mal aufgeben sollen.“, entgegnete der Bandit knapp. Seine dunkle Stimme klang fest, jedoch nicht triumphierend. Er erschien, nun im Stehen gegen das Licht, wie ein wahrer Hühne, war etwas jünger als sein Gegner, breitschultrig und muskulös. Das Gesicht unter der runzeligen Stirn, in die sein dunkles, fast schwarzes Haar leicht gelockt und wirr hinein fiel, wirkte mit dem zauseligen Vollbart und einigen Vernarbungen ringsum seiner Wangen brutal. Besonders auffällig erschien seine große Nase, die an einen Habicht erinnerte.

Ein letzter, fast mitleidiger Blick auf sein unter ihm liegendes Opfer, dann trennte er ihm mit seinem scharfen Säbel wuchtig den Kopf vom Hals. Er rollte den Torso des Toten mit dem Fuß zur Seite, nahm die Tasche an sich, öffnete sie und sah hinein. Sie enthielt ein lose mit Hanf zusammengehaltenes kleines Bündel von um die zwanzig Schriftrollen, die zwar zerknittert und hier und da leicht beschädigt, aber durchaus erhalten und eigentlich gut lesbar waren. Er zog eine davon heraus, stellte das Behältnis mit den übrigen zu seinen Füßen ab und rollte sie auseinander, um sie im fahlen Licht des späten Nachmittages zu betrachten.

Obwohl er nur leidlich des Lesens kundig war, so verstand er doch, was groß in der oberen Zeile stand: Scriptum Mercantoris. Darunter war, etwas kleiner geschrieben, lesbar: Imperium in imperio.

Sein Leutnant gesellte sich zu ihm, das eigene Pferd, welches den Kampf heil überstanden hatte, an einer kurzen Leine mit sich führend. Er blutete selbst lediglich leicht aus einer frischen Verwundung am Oberarm, die ihm nichts auszumachen schien - das schmierige Rot in seinem eher tumben Gesicht stammte von den besiegten Gegnern. Etwas weniger hoch gewachsen und deutlich jünger als der Anführer, war er nicht weniger verwegen als dieser und ihm treu ergeben. Er hatte die im Handgemenge verlorene Pistole des jetzt toten Kommandeurs im Gras gefunden und trug sie nun wie eine Trophäe vorn unter dem seilernen Gürtel seiner oben engen und unten weitgeschnittenen Hose einsteckend.

„War es das wirklich wert?“, wagte er den „Hauptmann“ zu fragen, und machte dabei eine Armbewegung, die das Schlachtfeld und die vielen Toten vor allem auf der eigenen Seite einschloss. „Ein paar Stiefel und Kleidung, Geschirr, ein paar Musketen, wenig Proviant…“

„Die Zeit wird es zeigen.“, entgegnete der Anführer der Banditen, nach einem Moment des überlegens, und dabei beinahe etwas geistesabwesend. Er musste daran denken, wofür er dies alles tat, allerdings ohne dabei einen Gedanken an die Opfer zu verschwenden. Im Sinn waren ihm mehr seine junge uneheliche Frau, und das ihr gerade Neugeborene, in einem kleineren Dorf weiter südlich. Die Zweifel seines treuesten Freundes, der bereits seit den Anfangstagen mit ihm ritt, waren schon irgendwie berechtigt, aber er bestätigte es ihm nicht.

Stattdessen blickte er nun, seiner kurzen Nachdenklichkeit rasch wieder entflohen, mit zufriedenem Gesichtausdruck auf, während die ihm verbliebenen Leute weiter die Leichen fledderten. Im Südosten konnte er in der bereits langsam einsetzenden Abenddämmerung die Ebersburg ausmachen, die von den Besitzern verlassen worden war. Sie verfiel allmählich, ermöglichte aber gelegentlich seinen hochverbrecherisch gewordenen Gesellen, die durch die Lande zogen, kurze Zuflucht. Dort lag auch ihr heutiges Ziel.

Als die Nachricht von der Bluttat Fulda erreichte, war es für eine direkte weitere Verfolgung der niederträchtigen Mordsbanditen viel zu spät.

Erst im Laufe vieler weiterer Monate wurden sie bei erneuten Übergriffen in der Region weiter ausgedünnt, nach und nach gefangen genommen, alsbald in peinlicher Befragung zu umfassenden Geständnissen gefoltert und sodann nach öffentlichen Schauprozessen hingerichtet. Die Spuren ihres brutalen Anführers und des engeren Kumpans verloren sich jedoch in Richtung des späteren Unterfranken.

Luckner hingegen, der sich vom einstigen Kriegsgegner nach Auflösung seines Regiments hatte einkaufen lassen (übrigens der Urgroßvater des später bekannt gewordenen deutschen Seehelden und Schriftstellers), brachte es noch bis zum Marschall von Frankreich, um dann allerdings 1794 während der Schreckensherrschaft von Paris, la Grande Terreur, mit der Guillotine geköpft zu werden.

Das weitere Schicksal der beteiligten Heerführer der meisten Schlachten aus dem siebenjährigen Krieg sowie das des Luckner´schen Adelsgeschlechts (1778 erhielt Nikolaus Luckner vom dänischen König den Titel eines Freiherren und später den eines Erbgrafen verliehen) blieb über die Generationen hinweg im Gedächtnis. Es füllt zahlreiche Kapitel in Geschichtsbüchern.

Regionale Aufzeichnungen über das jedoch, was sich bezüglich der durch die Deserteure und deren Gefolge geraubten Dokumente abspielte, gingen verloren; sie wurden vermutlich in den Napoleonischen Kriegen zerstört oder entwendet und verschwanden im Strudel der Zeit.

Der Mantel des Vergessens legte sich um die genaueren Ereignisse. So ging insgesamt ein Vierteljahrtausend durchs Land, bevor sich der Greuel an der Riemütz - und jener seinerzeit von der zivilen Bevölkerung irgendwann zuletzt angstvoll als Riemützer Kosaken bezeichneten kriminellen Horde - jemand genauer erinnern sollte.


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Geheimauftrag für Sax (2)

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