Читать книгу Solange ich schreibe, lebe ich! - Hanan Al Obaidat - Страница 7

Prolog

Оглавление

Es war im Herbst 1998 und ich war gerade dabei, das Haus meiner unlängst verstorbenen Großmutter, Wilhelmine Stopp, in St. Ingbert zu entrümpeln, als mir ein alter Koffer in die Hände fiel. Da er sich in einem tadellosen Zustand befand, stellte ich ihn kurzerhand auf die Straße, auf dass er einen neuen Besitzer finden möchte. Am folgenden Tag – ich war wieder im Keller bei der Arbeit – klingelte ein Mann an der Tür. Er hielt den alten Koffer in der Hand und erklärte, in dem Koffer befänden sich viele Briefe. Möglicherweise seien diese aus Versehen im Koffer verblieben und sollten nicht weggeworfen werden. Beim näheren Hinsehen entpuppte sich der Inhalt als ein wahrer Schatz: die Korrespondenz meines Großvaters mit meiner Großmutter während des zweiten Weltkrieges. Und so nahm der Mann den alten Koffer wieder mit und überließ mir die Briefe. In den folgenden Wochen vermochte ich 630 Briefe zu identifizieren und brachte sie in eine chronologische Reihenfolge.1

Die Briefe datieren in die Zeit von Dezember 1941 bis März 1945. Mein Großvater, Alfons Stopp, war Soldat in Russland und schrieb regelmäßig Briefe an seine Frau Wilhelmine, kurz Helmi. Seine Briefe sind erhalten, nicht jedoch die Antwortschreiben meiner Großmutter. Offenbar waren diese Briefe Helmi so wichtig, dass sie sie aufbewahrt hatte, freilich jedoch ohne dies jemals zu erwähnen. In einer Schublade einer ihrer Schränke fand ich noch weitere Briefe, die ihr wohl besonders am Herzen gelegen hatten. Dunkel erinnere ich mich, dass sie zu konkreten Anlässen, wie z. B. Alfons’ Todestag oder zu seinem Geburtstag, diese Briefe aus der Schublade herausnahm, aufmerksam las und wieder still zurücklegte. Wenn ich aber meine Großmutter darauf ansprach, erhielt ich stets nur kurze, ausweichende Antworten: »Die sind von meinem Mann … Er ist früh gestorben … Er hat mich sehr geliebt.« Immerhin erzählte sie mir, dass mein Großvater »verrückt auf Kinder war« und sehr viele haben wollte. Sie waren in diesem Punkt nicht (immer) einer Meinung. Zudem erfuhr ich, dass er ein ungemein intelligenter Mensch gewesen sei. Das war alles und mehr hatte sie mir nicht preisgegeben.

Meine Großmutter war eine zurückhaltende und schweigsame Frau. Sie gab vielfach knappe, manchmal sogar verletzende Antworten. Emotionale Nähe ertrug sie nur bedingt und reagierte darauf meist abweisend. Und dennoch war sie eine fürsorgliche Mutter und Großmutter. Erst nach der Lektüre der Briefe habe ich begriffen, dass sie emotional zerbrochen und durch die einschneidenden Ereignisse während und nach dem Zweiten Weltkrieg überfordert, ja traumatisiert war. Ich habe einen tiefen Schmerz erkannt, der von Erlebnissen herrührte, die sie nie überwunden hatte. Nach dem frühen Tod meines Großvaters litt sie offenbar an Depressionen, beging zwei Selbstmordversuche. Sie wirkte oft lethargisch und erschöpft. Ihre Tätigkeiten beschränkten sich in dieser Zeit auf Fernsehen, Lesen und Stricken. Nachdem auch sie verstorben war, habe ich meine Oma Helmi genau so in Erinnerung behalten, sie gewissermaßen auf dieses Bild reduziert.

Als mir die Briefe durch so glückliche Umstände in die Hände fielen, begann ich jedoch zu recherchieren und habe so gelernt, dass viele Menschen über ihre traumatischen Erlebnisse im Zuge eines Krieges schweigen. Genauso beschreibt etwa eine Frau aus St. Ingbert im Saarland, Ruth Schier, in ihrem Kriegstagebuch, dass ihr Mann nach seiner Heimkehr aus dem Krieg, nichts von den Ereignissen und Erlebnissen erzählen oder hören wollte. Ihre Momentaufnahmen der letzten Kriegsmonate sind beispielhaft für die Gedanken und Gefühle vieler Frauen in dieser Zeit und haben mir sehr geholfen, meine Großmutter und ihr Verhalten besser zu verstehen.2 Die Reaktion meiner Großmutter war also nicht ungewöhnlich für die traumatisierte Kriegsgeneration. Selbst für die ungewöhnliche Geschichte der wiederaufgefundenen Briefe meines Großvaters findet sich Vergleichbares. So berichtet etwa Eva-Marie Scherer aus Püttlingen, dass sie gleichfalls einen Koffer mit Briefen von ihrem im Kriege verstorbenen Vater gefunden hat, deren Existenz ihre Mutter 62 Jahre lang verschwiegen hatte.3

Von meinem Onkel Christoph hatte ich erfahren, dass Alfons vor dem Krieg Kapuziner-Mönch werden wollte. Und so drängte sich bei der Lektüre der Briefe immer wieder die Frage auf, wie er seinen Glauben mit der Nazi-Ideologie vereinbaren konnte. Im Übrigen ist dies eine Frage, die ich auch seinen Zeitgenossen insgesamt stellen möchte.

Meine Mutter erzählte mir, dass mein Großvater ein strenger Vater war. Sonntags ging die gesamte Familie zur Kirche – zum Unmut vor allem der Kinder vor dem Frühstück. Der obligatorische Spaziergang am Sonntagnachmittag war bei den Kindern gleichfalls unbeliebt. Verwandte und Nachbar:innen erzählten mir jedoch unisono, dass mein Großvater ungeachtet seiner rigiden Regeln allseits beliebt gewesen sei. Zudem habe er keinerlei handwerkliches Geschick besessen. Noch in meiner Kindheit hingen gerahmte Fotos von ihm in der Küche und im Wohnzimmer meiner Großmutter, die mich nachhaltig beeindruckt haben. Auch mir erschien er auf den Fotografien mit seinem durchdringenden Blick streng und sogar etwas unheimlich. Obwohl er an unserer Küchenwand gleichsam präsent war, blieb er der eigenen Familie »fremd«. Sowohl mein Onkel als auch meine Mutter entdeckten beim Lesen des Manuskripts dieses Buches ganz neue Seiten ihres Vaters, die erst durch die Briefe sichtbar wurden.

Der erste sogenannte Corona-Lockdown im Jahr 2020 sorgte schließlich dafür, dass ich die nötige Zeit fand, gleichsam eine Reise in die Vergangenheit zu machen, indem ich die Briefe systematisch las. Was ich dabei entdeckte, war ein Stück Zeitgeschichte, heruntergebrochen auf das Leben zweier junger Menschen, die trotz der Ausnahmesituation des Weltkriegs sich um ein normales Familienleben bemühten und ihre gemeinsame Zukunft planten. Für mich war die Lektüre überraschend und spannend. Plötzlich sah ich meine Großmutter aus einer gänzlich neuen Perspektive. Durch die Augen meines Großvaters erschien mir meine Großmutter plötzlich aktiv, lebensfroh, modern, intelligent, fleißig – eine tolle, attraktive Frau. Mir fielen ihre schönen, schlanken Beine auf den Fotos auf, die offenbar auch den Großvater bezaubert hatten und die er in den Briefen wiederholt erwähnte. Mir wurde klar, dass Helmi erst durch den Krieg und seinen Folgen zur traumatisierten und depressiven Frau geworden war. In das Erstaunen mischte sich natürlich auch Bedauern, diese Seiten von Helmi nie erlebt und gekannt zu haben.

Meinen Großvater habe ich ja erst durch die Briefe ›kennengelernt‹. In den Briefen finden sich lebhafte Beschreibungen seines Alltags als Soldat, seine Gedanken zu den Kriegsereignissen, seine für mich altmodisch klingenden Vorstellungen von Familie und Ehe, das (aus heutiger Sicht) unerhörte Rollenbild der Frau, seine Kinderwünsche und immer wieder unzählige Liebesschwüre. Nicht zuletzt erfuhr ich aber auch von seiner Einstellung zu Gott, zum Glauben und zur Religion sowie der Politik. Jeder Brief war wie ein Puzzleteil, das mir ein weiteres Detail von ihm offenbarte. Nachdem ich alle Briefe gelesen hatte, war vor meinem inneren Auge ein zum Teil detailliertes Bild von ihm entstanden. Es zeigte mir einen gebildeten, feinsinnigen und wortgewandten Mann mit einem ausgesprochenen Sinn für Literatur, Poesie und Sprachen. Er war von der Lehre der katholischen Kirche grundgeprägt, was sich in vielen Lebensbereichen und Handlungen zeit seines Lebens niederschlug. Mein Großvater war kein oberflächlicher Mensch, suchte nach dem Sinn im Leben. Sein Glück hoffte er schließlich in der Liebe und in der Gründung einer Familie zu finden. Alfons hatte stets eine eigene Meinung, die er mit Nachdruck vertrat, und konnte in manchen Dingen überheblich und auch stur sein. Auch bei meinem Großvater bedauere ich es sehr, ihn nie kennengelernt zu haben.

Die Briefe haben es mir immerhin ermöglicht, meine Großeltern von einer anderen Seite kennenzulernen. Aber diese Briefe können noch viel mehr, denn meine Großeltern stehen meines Erachtens in vielen Dingen stellvertretend für eine ganze Generation. Eine Generation, die den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg zu verantworten hat. Unzählige Male habe ich mich gefragt, wie dieses unsägliche Leid geschehen konnte, wie Menschen das zulassen und begehen konnten. Die Briefe meines Großvaters bieten uns – davon bin ich überzeugt – einen einzigartigen Blick in die Vergangenheit, bringen uns die Gedanken und Gefühle einer Generation von Menschen näher, die uns sonst fremd und unbegreiflich bleiben. Durch die Augen von Alfons werden die Ereignisse nicht weniger schrecklich – im Gegenteil. Aber aus der Sicht eines einzelnen Mannes rückt das Unbegreifliche plötzlich ganz nahe heran, man befindet sich gewissermaßen mitten drin. Vielleicht können wir so die verstörenden historischen Ereignisse, hinter denen ja immer auch einfache Menschen stehen, besser begreifen. Vielleicht lernen wir diese Generation durch die Briefe etwas besser kennen, so wie ich meine Großeltern besser kennengelernt habe.

Aus den vielen, vielen Briefen habe ich eine Auswahl an Passagen getroffen, von denen ich annehme, dass sie die Leser:innen interessieren. Die Auszüge habe ich wiederum mit möglichst kurzen Einführungen und Kommentaren versehen, denn eigentlich sollen die Briefe möglichst für sich sprechen. Zudem bin ich keine Historikerin; meine Kommentare erheben somit keinen wissenschaftlichen Anspruch und dienen lediglich dazu, die Briefauszügen in einen groben historischen Kontext zu stellen. Nur so lässt sich die Wechselwirkung zwischen historischen Großereignissen und individueller Entwicklung der Protagonisten erkennen. Die Briefausschnitte habe ich zu drei großen Themenkomplexen zusammengestellt.

Der erste Abschnitt ist der Liebe meiner Großeltern gewidmet: die Anfänge der Korrespondenz, die Zugeständnisse der beiden Verliebten, ihre Sehnsüchte und Heiratspläne. Zudem geben die Briefausschnitte Einblicke in die für uns vielfach altmodischen Vorstellungen Alfons’ über die Rolle der Frau und Moral.

Im zweiten Abschnitt werden die verschiedenen Stationen beleuchtet, die Alfons im Krieg durchlief. Seine Aufgaben, Tätigkeiten, aber auch seine Haltung und Gedanken zum Krieg kommen hier zum Ausdruck.

Im dritten Abschnitt gehe ich auf Alfons zentralen Widerspruch ein, der in meinen Augen die gesamte Generation betrifft. Um es in einer Frage zusammenzufassen: Wie konnte ein gläubiger Christ und angehender Mönch nationalsozialistischen Zielen dienen?

»Solange ich schreibe, lebe ich!« Diese Worte schrieb Alfons an Helmi am 15. Februar 1945. Zu diesem Zeitpunkt war die Hoffnung auf einen militärischen Sieg bei den allermeisten Deutschen bereits seit langem erloschen. Sowohl in der Heimat als auch an den Fronten herrschte daher große Ungewissheit über die Zukunft. Helmi und Alfons waren zu dieser Zeit beide ans Bett gefesselt: Alfons befand sich nach einer Blinddarmoperation im Lazarett, während seine Einheit in der fürchterlichen Kurlandschlacht von russischen Truppen eingekesselt war. Und Helmi weilte in Erwartung ihres ersten Kindes in der Klinik.

Es ist dies ein nur allzu treffender Schlusssatz in einem seiner letzten Briefe, in dem sowohl der Ernst seiner persönlichen Lage, die allgemeine Aussichtslosigkeit der deutschen Truppen in Lettland und die Ungewissheit der Zukunft insgesamt anklingt. Und doch kommt auch sein ungebrochener Lebensmut zum Ausdruck. Dieser Optimismus speist sich zu dieser Zeit aus zwei Quellen: seinem Glauben an Gott und seiner Liebe zu Helmi und ihrem ersten Kind. Das Zitat soll daher auch dem Buch seinen Titel geben.

Alfons Stopp wurde am 26. Februar 1917 in Blieskastel im Saarland geboren. Er wuchs im ländlich-idyllischen Bliesgaudörfchen Ballweiler auf. Sein Vater, Nicolaus Stopp, war Grubenarbeiter. Alfons hatte vier Geschwister: Lina, Louise, Robert und Arnold. Lina war wohl die Schwester, mit der er sich am besten verstand und das einzige der Geschwister, die ich als Kind mit meiner Großmutter häufiger besuchte. Louise war die »egoistische«, »launenhafte« und »aufschneiderische« Schwester, mit der er ständig aneinandergeriet. Zum »schüchternen« und »fürsorglichen« Arnold hatte er eine innige Beziehung und regelmäßigen Kontakt, nicht jedoch zu Robert, der wie schon mein Urgroßvater ein introvertierter Mensch war.

Alfons besuchte das Gymnasium in Zweibrücken, anschließend machte er in Burghausen 1938 das Abitur, das Baccalauréat. Nach dem Abitur trat er dem Kapuzinerorden in Laufen bei. Im April 1938 wurde er sechs Monate lang für den Reichsarbeitsdienst rekrutiert. Im Oktober 1938 kehrte er zum Kapuzinerorden zurück und begann mit dem Studium der Theologie an der theologischen Fakultät in Eichstätt. Am 12. Dezember 1939 trat Alfons in die Wehrmacht ein. Alle drei Brüder dienten schließlich an der Ostfront.

Wilhelmine Hurth wurde am 30. Juli 1922 in Blieskastel geboren und war ein Nachbarskind der Familie Stopp. Ihr Vater, Wilhelm Hurth, war ebenfalls Grubenarbeiter und starb an Lungenkrebs als Helmi und ihre jüngere Schwester Rosel noch klein waren. Im Jahr 1937 begann Helmi ihre Ausbildung als Kontoristin einer pharmazeutischen Firma in Karlsruhe. Die Firma zog später in den beliebten Ferien- und Kurort Oberstdorf in Bayern. Dort lebte meine Großmutter zur Zeit der Korrespondenz mit Alfons, genoss für einige Zeit neben ihrer Arbeit das Skilaufen, die Cafés und die Kinoabende.


Abb. 1: Alfons als junger Mann.


Abb. 2: Helmi als junge Frau.

Die Beziehung meiner beiden Großeltern begann zunächst mit einer losen Korrespondenz unter Jugendfreunden Ende 1941. Bei einem Heimaturlaub verliebten sich Alfons und Helmi ineinander – das war der Grundstein ihrer gemeinsamen Geschichte. Und so fing alles an …

1 Das gesamte Briefcorpus wird von der Autorin bei Bedarf der Wissenschaft zur Verfügung gestellt. Anfragen bitte an den Verlag.

2 Ertle, Heidemarie (Hrsg.): »Gestern war ein sehr schwerer Tag für uns hier in St. Ingbert.« Das Kriegstagebuch von Ruth Schier (St. Ingbert 2020).

3 Elss-Seringhaus, Cathrin: »Ein toter Vater wird zum späten Glück seiner Tochter.« In: Saarbrücker Zeitung vom 29.1.2021, S. B 4.

Solange ich schreibe, lebe ich!

Подняться наверх