Читать книгу Das Geheimnis der schwarzen Schatulle - Hanna Holthausen - Страница 10
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Das Taxi fährt erst Richard nach Hause, dann Max, der sich mit einem festen Handschlag von Pierre verabschiedet und es sich gerade noch verkneift, ihm zu danken und etwas zu sagen, was ihn traurig stimmen könnte. Schließlich erreicht auch Pierre das Haus am Stadtrand. In der obersten Wohnung brennt noch Licht. Feli schläft also noch nicht. Er geht die Treppen hinauf ins dritte Stockwerk und schließt die Tür auf. Felicitas kommt gerade mit einer Tasse Tee aus der Küche.
„Es muss gut gewesen sein“, lächelt sie beim Blick auf ihre Armbanduhr.
„Ja. Es war gut. Die Jungs waren richtig gut drauf.“ Pierre macht eine Pause. „Du, Feli…“
„Ja?“
„Zuerst, als Dom diese Schweigeminute durchs Mikro bekannt gab, dachte ich, ich müsse ihm eine reinhauen. Aber dann war es echt okay.“
Felicitas sieht ihn an.
„Ich meine, es war mehr als okay“, setzt er fort. „Es war klasse. Dom ist ein echter Freund.“
„Finde ich auch“, antwortet seine Tante und geht ins Wohnzimmer. „Das Wasser ist noch heiß. Wenn du willst, dann hol dir doch auch einen Tee, und wir plaudern noch ein bisschen“, schlägt sie vor.
Pierre setzt sich auf den Boden und lehnt sich gegen das Sofa, auf dem sie sitzt. Ohne Tee.
„Ah, Ferien!“, seufzt er erleichtert.
Dann erzählt er von Dominics Erlebnis im Tonstudio seines Vaters in Amerika. Amerika - dahin wollte er auch immer schon mal. Aber daraus wird wohl vorläufig nichts.
„Warst du schon mal in Amerika?“, will er wissen und dreht seinen Kopf zum Sofa.
„Einmal kurz in New York. Aber fünf Tage waren viel zu kurz, um auch nur einen Eindruck von der Stadt zu bekommen“, antwortet Felicitas.
„Dorthin sind damals viele Juden geflüchtet, als es brenzlig wurde, stimmt’s?“, meint Pierre.
Eine Weile ist es still. Felicitas trinkt ihren Tee.
„Die, die das Geld, die nötigen Papiere und das richtige Gespür hatten“, sagt sie leise.
Er wartet und hofft, dass seine Tante von sich aus etwas erzählt. Aber sie schweigt.
„Und wie war das bei euren Eltern? Wie konnten sie damals dem Terror entkommen?“, traut sich Pierre schließlich zu fragen.
Er dreht den Kopf wieder zu Felicitas. Die trinkt hastig ihren Tee aus.
„Ich bin müde“, sagt sie im Begriff aufzustehen, um in der Küche die Tasse abzustellen. „Schlaf gut“, wünscht sie Pierre danach leise auf dem Weg in ihr Zimmer. Eine Antwort bleibt sie schuldig.
Pierre ist enttäuscht. Warum verschließt sich Felicitas der Vergangenheit? Sie wird dadurch weder schöner noch ihre Bedeutung kleiner, findet er. Je hässlicher die Erinnerungen sind und je mehr man versucht sie totzuschweigen, desto lebendiger wird sie durch die unbeantworteten Fragen, zu denen andere Fragen und immer mehr Fragen kommen.
„Warum spricht niemand mit mir darüber? Ich bin doch Teil der Familie, zu der dieser dunkle Fleck der Geschichte gehört“, fragt sich Pierre und fühlt sich plötzlich sehr allein.
Langsam beschleicht ihn das Gefühl, dass dieser Fleck noch dunkler sein könnte als das Thema des Geschichtsunterrichts in der Schule und der Inhalt des geheimnisvollen Tagebuchs im Sekretär seiner Mutter ihn malen.
Felicitas sitzt mit sorgenvoll gekrauster Stirn auf dem Rand ihres Bettes und reibt sich den Arm. Sie fühlt sich schrecklich. Aber sie musste ihrer Mutter auf dem Sterbebett das Versprechen geben, das Geheimnis, das sie ihr kurz zuvor anvertraut hatte, für sich zu behalten. Ein schreckliches Geheimnis, dessen Offenbarung alle Fragen ihres Neffen beantworten und ihm gleichzeitig den Boden unter den Füßen wegziehen würde. Er hat doch ein Recht auf die Geschichte seiner Familie! Aber er hat auch ein Recht auf Frieden.
Sie hat ihrer Mutter versprochen, die Familie zu schützen. Vor der Vergangenheit und, wenn es sein muss, auch vor der Gegenwart. Pierre ist der Einzige Überlebende – er ist ihre Familie. Felicitas‘ Gedanken kreisen, an Schlaf ist nicht zu denken. Sie steht auf und geht in ihrem Zimmer auf und ab.
„Wenn ich weiter schweige, wird er mich bald hassen. Pierre ist zu alt, um sich mit Phrasen wie „Das verstehst du noch nicht“ zufrieden zu geben. Was, wenn ich ihm einfach alles erzähle? Nein. Nicht jetzt. Er hat gerade erst seine Eltern verloren“, grübelt sie und flüstert: „Was soll ich nur tun?“
Erst der Entschluss, am nächsten Tag den Rabbiner aufzusuchen, bringt etwas Ruhe in ihr Inneres. Traurig über ihr eigenes Schweigen schläft sie ein.
Am Samstagmorgen – nein, es ist eigentlich schon Mittag, als Pierre nach einer unruhigen Nacht aufsteht – findet er in der Küche einen Zettel vor. „Bin in der Synagoge. Das gestern ausgefallene Sabbatessen holen wir am Abend nach – ich habe gestern alles vorbereitet. Gruß, Feli“ steht dort. Er füllt eine Portion Cornflakes in die Schale auf dem Tisch, gießt Milch dazu und löffelt lustlos sein Frühstück. Nicht genug damit, dass sie ihm keine seiner wirklich wichtigen Fragen beantwortet – jetzt scheint sie auch noch vor ihm wegzulaufen.
Am frühen Nachmittag kehrt Felicitas zurück in die Wohnung und legt einen Stapel Briefe ab. Sie hat nicht nur dem Rabbiner einen Besuch abgestattet, sondern war auch im Haus der Lagranges, um die Post abzuholen. Immer noch kommen Kondolenzbriefe. Der Tod ihrer Schwester und ihres Schwagers geht Felicitas sehr nah, und es kostet sie einige Kraft, Pierre ihren Schmerz nicht spüren zu lassen und ihn nicht ständig an seinen Verlust zu erinnern.
An einem der vergangenen Abende hat er ihr anvertraut, dass er sich einfach vorstellt, bei Felicitas Ferien zu machen.
„Weißt du, ich mache einfach so lange bei dir Ferien, bis ich darüber reden kann. Aber noch bin ich nicht so weit“, war seine versteckte Bitte gewesen, als seine Tante wieder einmal behutsam versuchte, mit ihm über den Tod seiner Eltern zu reden.
„Aber irgendwann muss er reden, zumal die Beisetzung seiner Eltern noch bevorsteht. Die Untersuchungen des Absturzes dauern zwar noch an, aber lange wird der Termin der Beerdigung nicht mehr auf sich warten lassen“, denkt Feli, als sie ihre Tasche über die Stuhllehne hängt.
„Na, was hast du gemacht?“, fragt sie Pierre lächelnd, als der in die Küche kommt.
„Mich gelangweilt“, antwortet er kurz angebunden. Seine Unzufriedenheit über ihre Ausweichmanöver wird deutlich.
„Das können wir sehr leicht ändern“, meint Felicitas. „Wie wäre es mit einem Schwimmausflug?“
„Keine Lust“, grummelt er und wühlt teilnahmslos in der Post auf dem Tisch. Seine Finger ziehen aus dem Stapel einen feinen, cremefarbenen Umschlag, der an ihn adressiert ist. Pierre dreht in um und sieht nach dem Absender. Dann reißt er seine Augen auf.
„Der ist von meinem Großvater!“, ruft er und sieht Felicitas aufgeregt an. Felicitas gefriert das Lächeln im Gesicht.
Sie hat die Briefe einfach unbesehen in ihre Tasche gesteckt und ärgert sich jetzt darüber, versäumt zu haben, sie wenigstens kurz durchzusehen. Am liebsten würde sie ihm das Kuvert aus der Hand reißen und öffnen. Was kann der Mann nach so vielen Jahren der Ignoranz von seinem Enkel wollen? Sie ahnt nichts Gutes und hofft inständig, dass sie Unrecht hat. Ihre Augen folgen Pierres Fingern, die das Kuvert ungeduldig aufreißen und den Briefbogen entfalten. Jetzt klebt ihr Blick am Gesicht ihres Neffen, dessen Euphorie großem Unverständnis zu weichen scheint.
Pierres Hände lassen den Briefbogen sinken und er stützt sich unbewusst mit einer Hand am Küchentisch ab. „Sie werden nächste Woche beerdigt“, würgt er hervor und lässt sich von Felicitas den Brief aus der Hand nehmen. Was sie liest, übertrifft all ihre Befürchtungen und lässt sie auf einen der Küchenstühle fallen.
Pierre,
mit diesem Brief setze ich Dich über die Beisetzung Deiner Eltern am Montag den 13. August auf dem Friedhof von Lyon in Kenntnis. Am Samstag werde ich in Lyon eintreffen und Dir im Haus Deiner verstorbenen Eltern um 16 Uhr einen Besuch abstatten. Ich erwarte, dass Du Dich einem vernünftigen jungen Mann angemessen verhältst und weder dort, noch am Grab Deiner Eltern Tränen vergießt. Ich wünsche nicht, Deiner Tante zu begegnen und erwarte, dass sie sich während des Begräbnisses in gebührendem Abstand zu uns aufhält.
Als Dein gesetzlich bestimmter Vormund und Verwalter des Erbes Deiner Eltern betrachte ich es als meine Pflicht, Dir eine gute Ausbildung zukommen zu lassen. Da es meine Aufgaben nicht zulassen, Deinen Werdegang an Deiner jetzigen Schule angemessen zu verfolgen, habe ich Dich in einem Schweizer Internat angemeldet, in dem Du Dich eine Woche nach der Beisetzung Deiner Eltern, explizit am Samstag, den 18. August bis spätestens 18 Uhr einzufinden hast. Die Zugfahrkarte liegt bei. Mobiltelefone sind dort strikt verboten.
In der Zeit nach dem Begräbnis bis zu Deiner Abreise ins Internat wirst du wieder im Haus Deiner Eltern leben und Dich von Deiner Tante fernhalten. Eine Aufsicht wird Dir an die Seite gestellt, die Dir beim Packen und allen übrigen Notwendigkeiten behilflich sein wird.
Ich erwarte, dass Du meinen Wünschen in Deinem eigenen Interesse Folge leistest und den Abschied so gestaltest, dass mir keine Unannehmlichkeiten zu Ohren kommen.
Gustave Lagrange
Fassungslos starren sich Pierre und Felicitas an. In Pierres Gesicht kann man noch Zweifel darüber lesen, ob er den Inhalt des Schreibens richtig verstanden hat. Felicitas weiß, dass es darüber keine Zweifel gibt. Der steinerne Mann, wie sie und Camille ihn insgeheim immer genannt hatten, hat sich auch in weit fortgeschrittenem Alter nicht verändert, nicht ein bisschen. Kalt und ohne persönliche Anrede, klingt dieser Brief wie ein Dienstbefehl, der doch erstaunlicherweise handschriftlich verfasst ist.
Felicitas zittert und ist angestrengt bemüht, es vor Pierre zu verbergen. Sein Großvater scheint die Zeit bis zur Beisetzung seines Sohnes und seiner Schwiegertochter wirklich gut genutzt und sich alle Entscheidungsgewalt rechtlich gesichert zu haben. Sie selbst hingegen hat es angesichts der Bemühungen um Pierres Wohlbefinden versäumt, die dauerhafte Vormundschaft vor Gericht zu beantragen. Zu sicher wähnte sie sich mit der vorläufigen Vormundschaft, die ihr vom Jugendamt ausgestellt wurde. Nun sind die Würfel gefallen. Selbst, wenn es die Möglichkeit gäbe, die Entscheidung des Gerichtes anzufechten, würden damit nur schlafende Hunde geweckt. Daran mag Felicitas gar nicht erst denken.
Der Schatten der Vergangenheit hat sie eingeholt. Jetzt kann sie Pierre nicht mehr davor bewahren. Hilflos steht sie auf, geht auf Pierre zu und umarmt ihn. In diesem Augenblick wird er sich des Ernstes der Lage bewusst, reißt sich verzweifelt von ihr los und verlässt die Wohnung. Felicitas läuft zum Balkon und ruft nach ihm, doch er will sie nicht hören und rennt in Richtung Universität. Oft sind sie zusammen durch den Park gegangen, wenn er seine Tante an schulfreien Tagen in ihrer Mittagspause besucht hatte.
„Dorthin wird er laufen und seine Wut in den Boden stampfen“, hofft sie.
Pierre läuft und läuft, und auch, als er kaum noch Atem hat, kann er seine Schritte nur schwer bremsen. Nach fast eineinhalb Stunden Lauf brennen seine Muskeln. Dieses Brennen ist jedoch ein müdes Glimmen gegen den Schmerz in seiner Brust, in der ein loderndes Feuer tobt. Was für ein Mensch ist dieser Großvater?
„Ein Mensch? Nein, ein Tier!“, schreit Pierre durch den Park.
Einige Menschen schauen zu ihm herüber, aber er bemerkt die Blicke nicht, spürt den leichten Nieselregen nicht, der einsetzt, und sieht nicht, dass die Sonne langsam untergeht. Er läuft einfach weiter, grübelt, versucht sich Fragen zu beantworten, die nicht zu beantworten sind, und steht mit einem Mal wieder vor der Tür des Hauses, in dem er ein zweites Zuhause gefunden hat.
Felicitas betätigt den Türöffner ohne die Sprechanlage zu benutzen. Sie weiß, wer läutet, und öffnet Pierre weit die Wohnungstür, bevor sie sich in die Küche zurückzieht. Er soll selbst entscheiden, ob er reden möchte oder nicht – sie ist nur heilfroh, dass der Junge zurück ist.
„Feli, ich will in kein Internat! Ich will weiter meine Schule besuchen, meine Freunde treffen, Fußball spielen … Ich will hier bleiben!“
Völlig verschwitzt und außer Atem steht er in der Küchentür und sieht sie verzweifelt an.
„Komm, setz dich“, sagt sie und stellt einen Stuhl zurecht.
Pierre lässt sich darauf fallen und nimmt das Glas Mineralwasser, das sie ihm anbietet. Felicitas ist ebenso verzweifelt wie Pierre. Sie kann ihm nicht helfen und weiß nicht, wie sie es ihm erklären soll.
„Dein Großvater hat dafür gesorgt, sich um dich kümmern zu können und die Vormundschaft für dich erwirkt. Damit hat er mich meiner Verantwortung für dich enthoben“, versucht sie einen Anfang.
„Um mich kümmern, ja? Nennst du so was kümmern? Abschieben ist das! Warum lässt er mich dann nicht einfach weiter bei dir wohnen? Bisher war alles prima ohne ihn …“
Prima ist zwar die reinste Übertreibung, aber verglichen mit dem, was nun kommen wird, könnte Pierre rechtbehalten.
„All die Jahre hat er sich nicht gemeldet, mich niemals besucht und nicht mal Papa sehen wollen. Warum bleibt er nicht da, wo er jetzt ist, und lässt uns einfach in Frieden?“
Gute Frage. Und Felicitas ahnt die Antwort. Weil der alte Mann verhindern will, dass sich das familiäre Verhältnis von Pierre zu ihr vertiefen kann. Jetzt kann er endlich Einfluss nehmen. Jetzt, da sein Sohn tot ist und er nicht mehr befürchten muss, dass etwas an den Tag kommt, was Camille schon lange geahnt und nie ausgesprochen hat und sie, Felicitas, längst weiß. Frieden war immer das, was sie alle gewollt haben, und auch jetzt liegt ihr der Frieden ihres Neffen so sehr am Herzen. Der aber ist bis auf die Grundmauern erschüttert. Die Risse im Fundament der Familie lassen sich nicht mehr lange verbergen.
„Sag was, Feli!“, fordert Pierre und sieht sie an.
Sie betrachtet ihn ernst und beginnt den Tisch zu decken.
„Ich wünschte, ich könnte dir widersprechen und etwas Sinnvolles und Hilfreiches zur Lage beitragen. Aber ich fürchte, meine Mittel sind von jetzt an erschöpft.“
Dann nimmt sie entschlossen auf dem Stuhl ihm gegenüber Platz.
„Pierre, es gibt nur eine Möglichkeit, deinem Großvater die Stirn zu bieten.“
Pierre horcht auf.
„Du darfst ihn nicht merken lassen, wie sehr er dich verletzt. Tritt ihm entschieden entgegen, sei stolz und bemüh dich nicht um seine Gunst.“
Pierre starrt Felicitas an und versucht ihren Worten zu folgen. Die wohltuende Sanftheit ist aus ihrem Gesicht und ihrer Stimme gewichen, und er meint beinahe, sie spräche nicht mit ihm, sondern mit jemand anderem.
„Versuche nicht, an sein Familiengefühl zu appellieren und hoffe nicht auf Einsicht und Umkehr. Dein Großvater ist unbelehrbar und seine Meinung unumstößlich. Du kannst verzweifeln oder dich der Situation stellen und stärker werden.“
Was redet sie denn da? Pierre erkennt seine Tante nicht mehr.
„Natürlich werde ich mich der Situation stellen“, erklärt er lautstark. „Ich werde ihm sagen, dass ich nicht in dieses Internat gehen werde und mir nicht den Umgang mit dir verbieten lasse. Ich werde mich ihm entgegenstellen.“
Seine Entschlossenheit ist so rührend, dass Felicitas wieder weicher wird.
„Neschama scheli …“, sagt sie leise. So hatte ihre Mutter sie immer in besonders liebevollen Momenten genannt, sie und ihre Zwillingsschwester Camille. Und mit demselben Kosenamen hatten sie beide ihre Puppen in den Schlaf gewiegt. Erinnerungen an den kleinen Pierre erwachen. Wie sie ihn in den Schlaf gesungen hatte, wenn er bei ihr übernachtet hatte. Die Gutenachtgeschichten hatte er so sehr gemocht, jüdische Märchen. Und immer, wenn sie sanft sein Ohr gestreichelt hatte, war er eingeschlafen. Sie liebt ihren Neffen wie einen eigenen Sohn und legt ihre Hand auf seine.
„Pierre, du hast keine Ahnung, wer dich da erwartet. Es gibt keine Chance. Er hat das Recht auf seiner Seite, und bis zu deiner Volljährigkeit wirst du dich seinen Wünschen fügen müssen.“
Pierre donnert mit seiner Faust auf den Tisch, dass Geschirr und Besteck auf der Platte klirren. Seine Tante hält die Faust fest und sieht ihm tief in die Augen.
„Du hast die Wahl. Entweder du zerbrichst an deiner Trauer und deinem Kummer oder du besiegst ihn, indem du alles nimmst, was du kriegen kannst. Und das Beste, was dir dieser Mensch geben kann, sind die Ausbildung und ein Abschluss an einem Schweizer Internat, mit dem dir jedes Studium offen steht. Die einzige Mischung, mit der du einem Mann wie ihm erfolgreich entgegentreten kannst, ist Wissen, Selbstvertrauen und Entschlossenheit.“
Pierre ist gefangen von ihren Worten. Er sieht sie an, und eine Weile sitzen sie sich schweigend gegenüber. Es ist Felicitas gelungen, ein Korn zu pflanzen, das langsam keimt und ihm Kraft gibt. Noch ahnt er nicht, wie sehr er diese Kraft brauchen wird. Behutsam löst sie ihre Hand von seiner Faust und steht auf, um auf den Tisch zu stellen, was sie vorbereitet hat.
„Ich geh schnell duschen“, sagt er leise und verlässt die Küche.
Beide wissen, dass es eines der letzten gemeinsamen Sabbatessen für eine sehr lange Zeit sein könnte.
Das Duschwasser spült die Tränen weg. Angesichts der bevorstehenden Beisetzung seiner Eltern lässt sich ihr Tod nicht mehr verdrängen, und Pierre will die Woche nutzen, um sich richtig von ihnen zu verabschieden. Noch vor dem Begräbnis und noch bevor Fremde sein altes Zuhause betreten und neugierig ihre Blicke über Relikte eines glücklichen Familienlebens schweifen lassen, will er mit seiner Mutter und seinem Vater im Reinen sein. Außerdem hat er im Haus noch etwas Wichtiges zu erledigen.
Das Sabbatessen, das normalerweise am Freitagabend stattfindet, ist ungewöhnlich schweigsam. Früher haben sie es oft zusammen mit Felicitas und ihrem früh verstorbenen Mann am langen Küchentisch im Haus gehalten. Das war immer eine lustige Runde. Die Kerzen wurden von Pierres Mutter möglichst genau achtzehn Minuten vor Sonnenuntergang angezündet und brannten gerade im Winter oft schon, bevor die anderen eintrafen. Immerhin gingen alle ihrem Beruf nach. Den Kiddush, die Segnung des Weines und die Heiligung des Sabbats, sangen alle gemeinsam. Obwohl Pierres Vater kein Jude war, hatte Yoram, Felicitas Mann, es ihm überlassen, den Segenspruch, den Bracha, zu sprechen und das Brot zu brechen. Auch, wenn das in streng gläubigen jüdischen Familien so vielleicht nicht praktiziert worden wäre: Diese Geste der Gemeinsamkeit vertiefte das Familiengefühl.
Das Sabbatessen gehörte zu den wenigen jüdischen Bräuchen, die Camille ins Familienleben integriert hatte. Ansonsten pflegte sie einige jüdische Gewohnheiten zusammen mit Felicitas und Yoram, so wie die Besuche der Synagoge oder die Teilnahme an Gemeindefesten, zu denen auch immer Pierre und sein Vater herzlich eingeladen waren. Nach Yorams Tod wurde der Sabbatbrauch natürlich beibehalten. Die jüdischen Einflüsse seiner Mutter hatten Pierre immer ein Gefühl von Geborgenheit und Heimat gegeben, waren sie doch mit so viel Herzlichkeit und Wärme verbunden. Jetzt ist es Felicitas, die all das verkörpert, und Pierre möchte gar nicht daran denken, dass er sich bald auch von seiner Tante verabschieden muss.
„Du Feli, ich muss heute unbedingt noch mal ins Haus“, sagt er später am Tisch und Felicitas sieht auf.
„Hat das nicht Zeit bis morgen?“
„Nein, auf keinen Fall. Es gibt ein paar Dinge, die ich holen muss, bevor irgendwer dort herumwühlt“, erklärt Pierre.
Plötzlich fällt auch ihr ein, dass irgendwo unter Camilles Sachen das Tagebuch ihrer Mutter verborgen liegt. Sie erkennt, wie recht Pierre hat. Die Vorstellung, dass bald fremde Menschen im Haus ihrer Schwester und ihres Schwagers herumlaufen, ist wirklich unerträglich. Aber sie wird nichts dagegen unternehmen können, denn der alte Lagrange wird für alles gesorgt haben. Nur das Buch darf unter keinen Umständen in seine Hände fallen. Niemals!
„Fährst du mich hin?“, fragt Pierre, und sie nickt.
„Natürlich. Du kannst den Wagen von mir aus bis unters Dach vollladen. Ich werde alles für dich aufbewahren“, versichert sie ihm, sehr verärgert über die unverhohlene Absicht von Gustave Lagrange, das Haus verkaufen zu wollen.
„Wie kann ein Mensch so gefühllos sein?“, fragt sie sich im Stillen nicht zum ersten Mal und weiß, dass zu dieser Vorgehensweise ein entscheidendes Maß an Kälte und Unmenschlichkeit gehört.