Читать книгу Das Geheimnis der schwarzen Schatulle - Hanna Holthausen - Страница 9

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Eine Woche ist beinahe vergangen. Morgen werden seine Eltern zurückkommen. Aber nichts wird mehr so sein wie zum Zeitpunkt ihrer Abfahrt. Die ganze Nacht wälzt sich Pierre unruhig im Bett hin und her. An Schlaf ist überhaupt nicht zu denken. Die Momente, in denen er in einen Traum gleitet, sind kurz, denn immer wieder schreckt er auf. Das lederne Buch liegt wieder an seinem Platz in Mamans Sekretär, aber es kostet Pierre seinen Frieden. Zu viele Fragen stehen im Raum. Fragen, die Löcher reißen in die Geschichte seiner Familie. Unerträgliche Löcher. Zu wenig weiß er über die Vergangenheit, die doch so untrennbar zur Gegenwart gehört. Zu wenig und doch zu viel.

Er möchte so gern fragen und gleichzeitig sein Gewissen erleichtern. Da steht etwas zwischen ihm und seiner Mutter und vielleicht auch zwischen ihm und seinem Vater, was nicht dort bleiben darf. Es gehört besprochen und weggeräumt. Tausend Ansätze zu einem Gespräch gehen ihm durch den Kopf. Tausendmal „Du, Maman, ich hab eine Frage …“ und tausendmal verwirft er sie wieder. So banal kann man doch ein solches Gespräch nicht beginnen! Aber doch besser banal als gar nicht und an den Fragen ersticken.

Luft muss ins Zimmer! Pierre springt nervös aus dem Bett und öffnet das Fenster. Der volle Mond scheint ihm ins Gesicht, als er die kühle Luft tief in seine Lungen saugt. Sein Herz schlägt laut, und er fühlt sich wie die jugendliche Tagebuchschreiberin auf nächtlicher Nahrungssuche, immer in großer Angst entdeckt zu werden. In wenigen Stunden werden seine Eltern auf dem Flughafen landen und nach Hause fahren. Pierre hat keine Ahnung, wie er ihnen unter die Augen treten soll. Es geht nicht mehr nur um die Handysuche. Das Handy ist ihm längst egal.

Nachdem er es noch ein letztes Mal mit Schlafen versucht hat, steht er schließlich auf und zieht Jogginghose, Sweatshirt und Laufschuhe an. Es dämmert bereits, als Pierre das Haus im Laufschritt Richtung Park verlässt. So wenig wie er geschlafen hat, müsste er eigentlich nach dem Lauf erschöpft genug sein, um noch etwas aufs Ohr zu legen, bevor seine Eltern eintreffen. Auf den letzten Metern seiner Strecke sieht er auf die Armbanduhr. In zweieinhalb Stunden werden sie die Haustür aufschließen, durch die er jetzt mit klopfendem Herzen das Haus betritt. In der Küche setzt er die Wasserflasche an den Mund und trinkt.

„Was ist los mit mir?“ Pierre und lässt sich auf einen Küchenstuhl fallen. Sein Puls rast und macht nicht die leisesten Anstalten sich zu beruhigen. Langsam steht er auf und geht hinauf ins Bad, um zu duschen. Unter der Dusche kommen die Bilder aus dem Buch zurück. Nackte Menschen zusammengepfercht in einem Raum. Einige beten, es möge nur eiskaltes Wasser sein, das auf sie niederprasseln wird, andere sind ahnungslos und warten auf Wasser. Sie bekommen – Gas.

Die Bilder lassen Pierre nicht los, und auch mit dem gröbsten Waschhandschuh und einer Million Liter Seife könnte er sie nicht wegwischen. Er wirft das Duschgel verzweifelt in die Duschwanne und rutscht weinend mit dem Rücken an den Fliesen hinunter. Unter dem Duschstrahl hockend schluchzt er:

„Wer warst du? Wie hast du dieses Buch verstecken können?“

Pierre muss wissen, ob wirklich seine Großmutter die Tagebuchschreiberin war. Er sieht auf, schluckt kräftig und fasst einen Entschluss. Es ist unmöglich, mit dieser löchrigen Vergangenheit weiterzuleben. Noch heute wird er mit seinen Eltern reden. Er hat einen Fehler gemacht, indem er die Schublade geöffnet hat. Aber irgendwie fühlt sich dieser Fehler nicht wie einer an. Sie werden ihm antworten müssen, und er wird nicht eher Ruhe geben, bis er alles weiß, bis die Löcher gestopft sind und sich eine komplette Geschichte ergibt. Pierre spürt, dass er ein Recht darauf hat, denn er ist Teil dieser Geschichte.

Als er die Dusche abstellt, hört er das Telefon durch die Halle klingeln. Schnell greift er nach einem Badetuch und schlingt es sich um den nassen Leib, als das Klingeln aufhört. Wozu gibt es Anrufbeantworter? Er trocknet sich ab, aber die Ruhe will nicht einkehren. Was, wenn wieder jemand aus seiner Klasse versucht hat, ihn zu erreichen? Er kann es sich ja nun wegen seiner privaten Baustelle nicht mit all seinen Kumpels verscherzen. In Jeans und T-Shirt läuft er die Treppe hinunter, als das Telefon erneut läutet.

„Pierre Langrange. Wer …“

„Pierre? Oh gut, du bist zu Hause. Bleib, wo du bist. Ich bin in zehn Minuten bei dir.“

Das war Felicitas. Ihre Stimme klang ungewöhnlich hektisch und zittrig. Da muss etwas passiert sein. Pierre starrt auf den Apparat und legt ihn zurück in die Station. Langsam geht er in die Küche, als die Türglocke schrillt. Plötzlich kommt es ihm vor, als laufe alles in Zeitlupe ab. Er will einen Fuß vor den anderen setzen und glaubt Stunden zu brauchen bis er die Haustür erreicht. Was passiert da mit ihm? Er drückt die Klinke hinunter und öffnet die Tür. Ein Mann und eine Frau stehen vor ihm. Er kennt sie nicht und sieht sie fragend an, als Felicitas’ Kleinwagen in die Einfahrt rast. Sie springt heraus und rennt auf das Haus zu, ohne die Autotür zu schließen. Ihr Gesicht ist kreidebleich.

„Sind Sie ein Mitglied der Familie Lagrange?“

Die Münder der beiden Fremden bewegen sich, und ihre Frage dringt wie durch eine Wattewand an Pierres Ohren. Er nickt in Zeitlupe. Felicitas stürzt auf ihn zu, drängt die beiden Unbekannten zur Seite und reißt Pierre an sich. Sein Gesicht wird an ihre zitternde Schulter gedrückt, und er hört nur Wortfetzen wie „Absturz“, „keine Überlebenden“, Triebwerkschaden“. Als er seine Augen wieder öffnen kann, nimmt er nur noch die Rücken der beiden Personen wahr, die sich ihm nicht vorgestellt haben. Sie steigen in einen Kombi und fahren davon.

Pierre sieht in die weinenden Augen seiner Tante und begreift nicht, was um ihn herum geschieht. Es dauert lange bis er versteht, dass dieser Flugzeugabsturz, von dem seine Tante erzählt, etwas mit seinen Eltern zu tun hat. Es dauert den ganzen Tag zu begreifen, dass seine Eltern nicht durch die Haustür das Haus betreten und ihn begrüßen werden. Und es dauert vierundzwanzig Stunden, bis Pierre begreift, dass seine Eltern ihm keine seiner Fragen mehr beantworten können. Sie werden niemals mehr antworten. Leere. Absolute Leere.

„Ich will allein sein“, hört Pierre sich sagen, und dann ist es still.

Das Ticken der Uhr in der Bibliothek - Dolchstiche. Aber sie treffen nur das Innere. Sein Körper funktioniert nach Tagen ohne Nahrung immer noch erstaunlich gut. Das Telefon klingelt ununterbrochen, und auch die Türglocke hat schon einige Male die Stille durchbrochen. Plötzlich hämmert es an der Haustür. Stimmen rufen nach Pierre, und schließlich erkennt er Felicitas.

„Pierre, mach bitte auf, sonst muss die Polizei die Tür aufbrechen. Bitte öffne mir.“

Niemand wird hier etwas aufbrechen. Entschlossen geht Pierre zur Haustür und sieht die Gruppe Menschen an, die sich davor versammelt hat. Zwei Polizisten in Uniform, zwei Unbekannte, Felicitas und zwei Männer mit Fotokameras, gefolgt von einer Frau, die ein Aufnahmegerät in der Hand hält. Die Kameras sind schon im Einsatz, als die Polizisten die drei Pressevertreter deutlich des Grundstücks verweisen. Die beiden anderen Unbekannten, ein Mann und eine Frau, zücken ihre Ausweise und halten sie Pierre unter die Nase.

„Leroux mein Name, und das ist Jeanne Bisier. Wir sind vom Jugendamt und beauftragt, nach Ihrem Befinden zu sehen.“

„Aha. Und was sehen Sie?“, fragt Pierre müde.

„Na ja… Sie können nicht allein in diesem Haus bleiben“, beginnt Frau Bisier.

„Das kann ich sehr wohl“, findet Pierre und ist entsetzt über die Aufdringlichkeit der Fremden.

„Laut Gesetz dürfen Sie das nicht“, erklärt Herr Leroux. „Sie sind noch nicht volljährig und unterstehen damit einem Vormund. Vorläufig ist das Ihre Tante Felicitas als Ihre nächste Verwandte.“

Er dreht sich zu Felicitas, die Pierre ununterbrochen anschaut.

„Das ist doch Ihre Tante?“, fragt Frau Bisier.

Pierre nickt.

„Sie können sich jetzt entscheiden, ob Sie sich in unsere Obhut begeben und vorübergehend in ein Wohnheim für Jugendliche ziehen möchten, oder ob Sie mit der Aufsicht Ihrer Tante einverstanden sind. Letzteres würde jedoch notwendig machen, dass Ihre Tante hier bei Ihnen wohnt oder Sie bei Ihrer Tante“, stellt ihn Herr Leroux vor die Wahl.

Eine Wahl, der Pierre so lange wie möglich aus dem Weg gehen wollte. Allein sein möchte er. Diese ganze Szene ist so grotesk – Maman und Papa sind tot, die Welt liegt in Scherben und diese beiden dummen Bürokraten leiern die gesetzlichen Regeln der Vormundschaft runter und setzen ihm die Pistole auf die Brust. Er sieht forschend zu Felicitas. Ist sie ihm böse, dass er auf ihre Anrufe und Besuche in den vergangenen Tagen nicht reagiert hat? Niemandem hat Pierre die Tür geöffnet, und auch das Telefon hat er klingeln lassen. Es gibt einfach niemanden, mit dem er reden möchte.

Seine Tante sieht ihn besorgt an, und als ihre Blicke sich treffen, weicht er nicht aus. Langsam geht Felicitas zu ihm und legt ihren Arm um seine Schulter. Als Pierre sie gewähren lässt, nickt sie den Leuten vom Jugendamt zu, und sie ziehen sich mit den Polizeibeamten zurück. Im Haus sagt Felicitas nur:

„Wir reden, wenn du reden magst, Pierre.“

Dann streicht sie kurz über seinen Arm und geht in die Küche. Sie sieht ihr so verdammt ähnlich. Es schmerzt Pierre, die Zwillingsschwester seiner Mutter zu sehen. Es schmerzt und tröstet gleichermaßen. Mit den bekannten Geräuschen, die aus der Küche in den Eingangsbereich dringen, kommen endlich auch die Tränen, löst sich endlich die Erstarrung, und Pierre rennt nach oben in sein Zimmer.

Er weint. Er schreit in sein Kopfkissen und tritt gegen den Bettpfosten. Warum lässt Gott das zu? Gibt es ihn überhaupt?

„Es gibt dich nicht!“, schreit er verzweifelt. „Alles eine Riesenverarsche! Wenn es dich gäbe, wären nicht tausende Menschen umsonst gestorben. Nicht die und nicht meine Eltern. Sie haben niemandem etwas getan. Du bist ein Mörder und lässt dich anbeten! Mörder!“

Nicht nur der Flugzeugabsturz und der Verlust seiner Eltern, sondern noch mehr die Fragen, die nur sie hätten beantworten können und sollen, brennen wie Säure Löcher in sein Inneres. Es scheint, als solle sich seine löchrige Vergangenheit nicht zu einer Geschichte schließen, sondern viel mehr gänzlich auflösen. Jeder Mensch hat eine Vergangenheit, aus der sich zusammen mit der Gegenwart die Geschichte seines Lebens ergibt. Ohne Vergangenheit keine Lebensgeschichte. Ohne Eltern keine Vergangenheit. Ohne …

Pierre schließt die Augen und schläft ein. Nach Tagen und Nächten ohne Essen und Schlaf siegt die Erschöpfung. Eine halbe Stunde später klopft Felicitas leise an seine Tür und tritt ein, als sie nichts hört. Zusammengerollt liegt er auf seinem Bett. Tränenspuren in seinem Gesicht, zuckt er hin und wieder im Schlaf. Sie deckt ihn mit einer Decke zu und verlässt so leise das Zimmer wie sie es betreten hat.

Auch für Felicitas ist es hart. Sie hat ihre Zwillingsschwester verloren und trauert sehr um sie. Aber Pierres Schmerz ist der größere, das weiß sie nur zu gut. Er verschließt sich völlig, und sie hat den Eindruck, dass er noch viel mehr mit sich herumschleppt als die Trauer um den Verlust seiner Mutter und seines Vaters. Zwei Wochen und viele Versuche später, an Pierre heranzukommen, schlägt sie vor, mit ihm zusammen in ihre Wohnung zurückzugehen.

„Vielleicht tut es dir gut, dieses Haus einfach mal für eine Weile zu verlassen“, schlägt sie vorsichtig vor.

In seinem Blick liegt etwas, das sich schwer definieren lässt. Ist es Wut? Enttäuschung? Oder einfach nur die Leere, die er in sich fühlt? Wortlos steht er auf, nimmt seinen Rucksack und macht sich auf den Schulweg. Felicitas räumt seufzend die unberührten Cornflakes in den Schrank und lehnt sich gegen die Arbeitsplatte. So kann es nicht weitergehen. Sie muss etwas unternehmen. Auch sie macht sich auf den Weg zur Arbeit, wo es ihr schwerfällt, sich auf ihre Aufgaben zu konzentrieren.

„Vielleicht wäre es gut, wenn du dich jemandem anvertrauen würdest“, hatte Herr Vancier, der Schuldirektor, am ersten Tag nach der einwöchigen Unterrichtspause versucht.

„Wenn ich darüber sprechen muss, sterbe ich“, hatte Pierre ihm in wenigen Worten sehr überzeugend versichert.

Seitdem herrscht Schweigen. Max ist der Erste, der Pierre auf das Schulfest anspricht. Das Schulfest. Dark Raven. Ja, das ist eine Aufgabe, die er zu erledigen hat.

„Die können sich auf mich verlassen – auch in Krisenzeiten.“ Das will er seinen Schulkameraden beweisen.

Beim Rückweg von der Schule nach Hause wird sein Fahrrad immer langsamer. Nur mit Mühe lässt es sich durch das Tor die Einfahrt hinaufschieben. In die Garage stellt Pierre es nicht mehr, um sich den Anblick der beiden Autos zu ersparen. Jeden Tag wird es schwerer, die Tür aufzuschließen und das Haus zu betreten. Immer noch klingt Mamans Stimme in seinem Ohr. Als Immobilienmaklerin hatte sie flexible Arbeitszeiten, ihn immer gut gelaunt begrüßt und gefragt, was er sich am Abend zu essen wünschte. Jetzt ist es ihm egal, was es zu essen gibt.

Pierre wirft seinen Rucksack auf die erste Stufe der Treppe und geht aus reiner Gewohnheit in die Küche. Dort liegt ein Zettel seiner Tante auf dem Tisch. „Komme heute Abend früher nach Hause und möchte dich gern zum Eisessen einladen. Feli“ Er zieht die Stirn kraus.

„Eis. Ich hab keine Lust auf Eis. Ich will mein altes Leben zurück, und das passt in keine Eiswaffel!“

Seine Hand greift nach dem Zettel, zerknüllt ihn und wirft ihn ins Spülbecken. Er geht nach oben in sein Zimmer. Dort versucht er endlich, die Mail an Dominic zu schreiben, in der er nach dem Equipment für die Band fragt.

Immer wieder löscht er das Geschriebene. Nach einer Stunde ist die Nachricht von zwei Sätzen endlich auf dem Weg. Pierre lässt sich erschöpft auf sein Bett fallen. Gedankenfetzen jagen durch seinen Kopf, und der Strudel beginnt wieder sich zu drehen. Nein, bloß nicht grübeln! Mit den Gedanken und Bildern jagt das Karussell immer schneller, bis Pierre weiß, dass er es nicht schafft, sich noch einmal aus dem Loch zu ziehen. Er springt auf, nimmt seine Sporttasche aus dem Schrank und beginnt wahllos Klamotten hineinzuwerfen.

Jemand dreht den Schlüssel im Schloss der Haustür. Felicitas kommt von der Arbeit.

„Pierre?“, ruft sie und geht in die Küche.

Beim Füllen des Wasserkochers entdeckt sie den zusammengeknüllten Zettel im Becken. Entmutigt stellt sie den Kocher ab, nimmt das Papierknäuel und wirft es in den Müll. Pierre kommt zur Tür hereingestürmt. Er hält seine Sporttasche in der Hand und sieht seine Tante an.

„Ich bin fertig“, sagt er. „Von mir aus können wir los.“

Felicitas versteht nicht, was er meint. Sie sieht auf die große Tasche, aus der Kleidungsstücke heraushängen.

„Wir können los? Ja, wohin denn?“, fragt sie verwirrt.

„Na, du wolltest doch heute Morgen noch zurück in deine Wohnung. Wir können los.“

Felicitas begreift langsam und lächelt. Noch bevor es sich Pierre wieder anders überlegt, greift sie nach ihrem Schlüssel, und sie verlassen das Haus. Im Auto fragt Pierre:

„Und was ist mit deinen Sachen?“ Das sind seit Wochen die ersten Fragen, die er ihr stellt, die ersten Sätze, die er an sie richtet.

„Die wenigen Teile kann ich später noch holen“, antwortet sie erleichtert.

Felicitas’ Wohnung ist behaglich. Als kleiner Junge war Pierre sehr oft hier. Sie hatten damals zusammen auf der Dachterrasse den kleinen wilden Topfgarten gepflegt. Einer der Pflanztöpfe war seiner gewesen. Im einen Jahr hatte er eine riesige Sonnenblume aus einem kleinen Kern gezogen, im anderen einen Thymianstrauch versorgt, der jedoch irgendwann doch vertrocknete.

„Du kannst das Gästezimmer nehmen und es dir einrichten wie du willst.“

Felicitas kommt zu ihm auf die kleine Dachterrasse. Der Blick hinüber zur Stadt ist von hier aus irgendwie schöner als anderswo. Sie legt vorsichtig eine Hand auf Pierres Schulter. Nebeneinander stehend, schauen sie über die Dächer der Häuser in Universitätsnähe. Pierre dreht sich nicht weg, und nach einer Weile legt er seinen Arm um die Taille seiner Tante. Hier in ihrer Welt ist es leichter, ihre Nähe und Fürsorge zuzulassen.

„Ich vermisse sie so“, sagt er leise und schaut ins Weite.

„Ich weiß“, antwortet Felicitas. „Ich vermisse sie auch.“

Als er seinen Arm löst und in die Wohnung geht, setzt sich Felicitas in einen der verwitterten Korbsessel und lässt ihre Blicke auf dem Horizont ruhen, den man hinter den Häusern erahnen kann. Die Geräusche von Schubladen, die im Gästezimmer geöffnet und wieder geschlossen werden, und das Quietschen der Tür des Kleiderschranks, deren Scharniere einen Tropfen Öl gebrauchen könnten, erleichtern sie. Pierre räumt seine Sachen ein und scheint bleiben zu wollen. Die erste Hürde ist genommen auf dem langen Weg seiner Trauer.

Die Nacht in Felicitas Gästezimmer ist die erste ohne Albträume. Pierre liegt im Bett und horcht erstmals nicht auf die Geräusche des Hauses, in dem er sein ganzes bisheriges Leben zusammen mit seinen Eltern verbracht hat. Seit dem Unglück hatte er in allen Nächten auf Zeichen geachtet, die womöglich die Ankunft seiner Eltern ankündigen - das Drehen ihres Schlüssels im Türschloss, ihre leisen Schritte und Stimmen. Vielleicht waren sie ja gar nicht in das Flugzeug gestiegen. Vielleicht hatten sie ihren kurzen Urlaub einfach verlängert und würden irgendwann überraschend zurückkommen. Eine verzweifelte Hoffnung, an die er sich klammerte und doch spürte, dass sie vergebens war. Hier in der Wohnung seiner Tante kann er sich hinlegen, die Augen schließen und einfach einschlafen.

Die darauf folgenden Tage zeigen, dass die Entscheidung, das Haus und die gewohnte Umgebung zu verlassen, genau die richtige war. Pierre nimmt inzwischen sogar am Fußballtraining wieder teil. Die Vorbereitungen für das kurz bevorstehende Schulfest laufen auf Hochtouren und lenken ihn ab. Die Aufregung über das Konzert von Dark Raven zum Abschluss des Schuljahres lässt ihm kaum eine ruhige Minute, und Felicitas freut sich über Pierres Engagement für den Auftritt der Band. Natürlich ist auch sie eingeladen.

Der Anblick von Pierres strahlendem Gesicht, als er am Tag der großen Fete zusammen mit dem Bandleader die Bühne betritt, versöhnt sie für einen Augenblick mit dem Schicksal. Dominic, Star der Gruppe Dark Raven, klopft seinem Freund aus Kindertagen auf die Schulter, bevor er einen Akkord auf seiner Gitarre spielt und die Menschen in der Sporthalle der Schule zum Jubeln bringt.

„Ich freue mich, dass wir hier bei euch spielen können“, sagt er zur Begrüßung ins Mikro. „Und ich freue mich besonders, dass ihr die Ersten seid, die einige Songs zu hören bekommen, die auch auf unserer ersten CD sind.“

Erneut jubeln die Konzertbesucher. Dann hebt Dominic die Hand.

„Bevor es losgeht, möchte ich eine Schweigeminute für die verstorbenen Eltern von Pierre einlegen, die Freunde meiner Eltern und auch meine Freunde waren.“

Plötzlich ist es so still in der Halle, dass man eine Stecknadel fallen hören könnte. Pierre schluckt und starrt Dominic an, der seine Gitarre von der Schulter nimmt, auf den Boden legt und seine Augen schließt. Nach einer Weile, in der alle Anwesenden schweigend den Blick auf den Boden richten, nimmt Dom die Gitarre auf und spielt einen kurzen langsamen Song. Als der letzte Akkord erklingt, lässt er kaum eine Chance für Applaus, sondern fegt plötzlich mit seinen Händen über die Saiten des Instruments, als hätte es die Augenblicke davor nicht gegeben. Er reißt die Zuschauer mit, grinst allen frech in die Gesichter und singt einen seiner provokanten Songs, in den die meisten der Anwesenden sofort einstimmen. Pierre huscht ein Lächeln übers Gesicht. Dom ist einfach genial.

Das Konzert ist ausverkauft und ein voller Erfolg. Anschließend mischen sich die Bandmitglieder unter die Schüler, geben Autogramme und beantworten ihre unzähligen Fragen zu Musikkarriere und dem Leben in Hotels zwischen Auftritten und Presseterminen. Besonders die Mädchen flippen fast aus und stecken die Autogramme bündelweise ein. Dafür versorgen sie Dominic, Raoul, Felix und Didier mit Plüschtieren Stoffherzen und Liebeserklärungen. Die Lehrer haben ihre Mühe damit, sie zu bremsen und wischen sich hier und da den Schweiß von der Stirn. Aber der Ausblick auf die Sommerferien entschädigt sie für die Anstrengung.

Am Abend fährt Felicitas Pierre zum Haus von Dominics Mutter, die in Lyon lebt. Dort findet noch eine kleine Privatparty statt. Max und Richard sind auch eingeladen. Früher, als Dominics Eltern noch zusammenlebten, war Pierre zusammen mit seinen Eltern oft hier gewesen. Jetzt sitzen sie zu siebt im wildromantischen Garten zwischen Rosenranken, Moos bewachsenen Steinstatuen und blühendem Unkraut. Niemand spricht Pierre auf den Tod seiner Eltern an. Stattdessen erzählt Dom von den Probeaufnahmen in Amerika, in die zufällig ein Produzent geriet, der mit seinem Vater über einen gemeinsamen Auftrag sprechen wollte.

„Der war so begeistert von unserer Musik, dass er ohne Vorwarnung einfach in die Aufnahme platzte. Das hättet ihr erleben müssen! Who the hell ist this? Guys, what’s your names? Laurence, tell me where you found these bloody good musicians? I want them under contract! Der ist voll ausgeflippt und mein Vater musste ihn erst mal aufklären, dass ich sein Sohn bin und wir schon unter Vertrag sind. Aber der hat nicht locker gelassen. Jetzt will er nach Frankreich kommen, um mit unserer Plattenfirma zu verhandeln. Voll durchgeknallt, der Typ.“

„Mann, ist ja irre!“, begeistert sich Max und sieht zu Pierre rüber. „Was hab ich dir gesagt? Die kommen ganz groß raus.“

Dann dreht er sich zu Dom.

„Ich wusste ja gar nicht, dass ihr schon eine CD produziert habt.“

„Die Aufnahmen sind gerade erst fertig und müssen noch gemischt werden“, erklärt Didier. „Das wollten die erst im Sack haben, bevor die Werbekampagne startet. Aber in nächster Zeit wird es wohl über die Medien bekannt werden.“

Gegen Mitternacht klingelt die Türglocke. Kurze Zeit später verkündet Dominics Mutter, dass das vorbestellte Taxi wartet. Pierre trinkt den letzten Schluck Cola aus der Dose und haut Max auf die Schulter.

„Los kommt, wenn ihr mitfahren wollt.“

Max und Richard rappeln sich auf, und die Jungs verabschieden sich voneinander.

„War klasse mit euch“, meint Richard. „Vielen Dank, dass ich dabei sein durfte.“

„Klar Mann. War ja alles bestens organisiert von euch. Bis bald mal wieder. Wir können jetzt auch eine Mütze voll Schlaf gebrauchen. Morgen geht’s wieder früh los. Ciao, Freunde.“

Dom bringt sie zur Tür.

Das Geheimnis der schwarzen Schatulle

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