Читать книгу Tripod – Das schwarze Kätzchen - Hanna Nolden, Lea Baumgart - Страница 5
Kapitel 2
ОглавлениеFrustriert betrachtete Ben den Stumpf. Er war hässlich. Nach all der Zeit fand er ihn immer noch furchtbar. Manchmal fragte er sich, ob er sich jemals daran gewöhnen würde. Er hasste ihn! Gelegentlich war ihm schon der Gedanke gekommen, in die Küche zu gehen, ein Messer zu holen und einfach darauf einzustechen. Aber das würde alles nur noch schlimmer machen. Besser wäre es, es ganz zu beenden, dieses elende Leben. Aber das würde seiner Mutter das Herz brechen. Schließlich war er alles, was sie hatte.
Mit einem Schnauben legte er die Prothese an, stand auf und griff nach seiner Kleidung. Unter dem Hosenbein sah man die Prothese nicht, aber natürlich wusste jeder an seiner Schule, dass er nur noch ein Bein hatte. So etwas verbreitete sich schneller als ein Lauffeuer. Hm. Was war überhaupt ein Lauffeuer? Ach, egal.
Er ging zum Schreibtisch und strich liebevoll mit zwei Fingern über die Maus. Am liebsten hätte er den Rechner hochgefahren und sich bei Knights of Maira eingeloggt, dem Onlinerollenspiel, mit dem er die meiste Zeit verbrachte. Stattdessen griff er sich den Rucksack und verließ sein Zimmer, um zu seiner Mutter in die Küche zu gehen. Nach vielen Wochen in der Reha bereitete ihm und seinem hydraulischen Knie die Treppe keine Probleme. Überhaupt war er mit der Prothese von Anfang an gut zurechtgekommen. Ganz anders als sein Zimmernachbar Oliver. Der fand, die Prothese scheuert und drückt, und irgendwann wollte er gar keine mehr. Aber der war auf einem Bein und Krücken flink wie ein Wiesel und immer gut gelaunt. Beides konnte Ben von sich nicht gerade behaupten.
„Guten Morgen, mein Schatz“, grüßte Mama und strahlte ihn an. Das tat sie immer, wenn sie ihn sah, als hoffte sie, dass ihr Strahlen einfach auf ihn übergehen würde. Er versuchte es hin und wieder zu spiegeln, aber auf sein falsches Lächeln fiel sie nicht herein. Sie wollte ein echtes Lächeln, doch das gab es nicht mehr. Das war mit dem Auto, das ihn überrollt hatte, in der Schrottpresse gelandet.
„Morgen“, murmelte er, nahm sich eine Müslischüssel aus dem Schrank und kippte Cornflakes und Milch hinein. Mama setzte sich zu ihm an den Küchentisch, trank aber wie immer nur einen Kaffee. Sie trug noch ihren Schlafanzug. Wie meistens eigentlich.
„Es ist schönes Wetter heute“, bemerkte sie mit einem Kopfnicken Richtung Fenster. „Du könntest zu Fuß zur Schule gehen. Oder mit dem Rad fahren.“
Ben blickte in seine Müslischale und sah nicht zu Mama auf. Stattdessen überlegte er, dass „zu Fuß gehen“ eine nette Formulierung war. Jedenfalls sehr passend für jemanden, der nur einen Fuß hatte. Manchmal dachte er noch an seinen Fuß und versuchte, sich in allen Einzelheiten daran zu erinnern, wie er ausgesehen hatte. Da hatte es diesen kleinen Leberfleck am inneren Knöchel gegeben. Ob Mama wohl auch manchmal daran dachte?
„Hast du mich gehört, Ben?“, fragte sie und riss ihn aus seinen Gedanken. Missmutig schob er die Schultern hoch.
„Hab keinen Bock.“
Mama seufzte. Sie führten diese Diskussion ja nicht zum ersten Mal. In der Reha war Sport großgeschrieben worden und eigentlich hatte ihm das auch gefallen. Jeden Tag stand Schwimmen auf dem Programm und in der Turnhalle spielten sie Basketball und andere Sachen. Jeden Tag waren sie aktiv gewesen. Er und die anderen Amputierten. Unter Gleichen war das auch kein Problem. Aber hier weigerte er sich, am Sportunterricht teilzunehmen. Er wollte sich nicht vor den anderen umziehen, wollte nicht, dass irgendjemand seine Prothese sah. Und mit dem Rad fahren wollte er auch nicht!
„Nicht einmal zu Fuß gehen?“, hakte seine Mutter nach, als hätte sie seine Gedanken gelesen. Aber nein, er wollte nicht einmal zu Fuß gehen, obwohl sein Gang mittlerweile kaum noch so steif und ungeschickt war wie am Anfang. Im Grunde sah man ihm nicht wirklich an, dass er nur ein Bein hatte. Er aber konnte das nicht vergessen. Und es gab noch einen weiteren Grund: Obwohl er die Schule gewechselt hatte, war sein Schulweg noch in großen Teilen der gleiche. Jeden Tag würde er an der Stelle vorbeikommen, wo er den Unfall gehabt hatte. Mit dem Auto huschten sie daran schnell vorbei, aber zu Fuß … nein, unmöglich. Er schüttelte, ohne aufzusehen, den Kopf, und Mama seufzte wieder.
„Also gut“, sagte sie. „Dann fahre ich dich eben.“
Sie stopfte eine Brotdose und eine Wasserflasche in seinen Rucksack und ging in den Flur, um in die Schuhe zu schlüpfen. Die Mühe, etwas Richtiges anzuziehen, machte sie sich nicht. Sie würde ohnehin nicht aus dem Auto aussteigen. Ben folgte ihr, zog einen Schuh an seinen richtigen Fuß und einen an den falschen. Das Hosenbein schlackerte um die Prothese. Es war eine ohne hautfarbenen Silikonüberzug. Nur der Fuß war wie ein echter Fuß gestaltet. Ansonsten sah das Bein aus wie das eines Cyborgs, was irgendwie cool gewesen wäre, wenn es nicht ausgerechnet ihn beträfe. Mama ging voraus durch die schmale Tür, die den Flur mit der Garage verband. Sie stiegen beide ein und Mama öffnete mit der kleinen Fernbedienung das Tor. Ben dachte darüber nach, den Spieß einmal umzudrehen. Ihr zu sagen, dass er ja mit dem Rad fahren würde, wenn sie mitkäme. Denn tatsächlich war seine Mutter genauso ein Stubenhocker wie er. Er wusste, dass sie sich oft wieder schlafen legte, während er in der Schule war. Dafür schlug sie sich so manche Nacht um die Ohren. Seine Mutter war Autorin, was auch irgendwie cool wäre, wenn sie denn cooles Zeug schreiben würde statt blöder Schmonzetten. Aber mit diesen Schmonzetten verdienten sie ihre Brötchen. So viele Brötchen, dass sogar das beste hydraulische Knie drin gewesen war, das man kaufen konnte. Jeden Monat ein Heftroman. Bei der Arbeit konnte man seiner Mutter definitiv keine mangelnde Disziplin vorwerfen. Trotzdem hatte er sich oft gewünscht, sie wäre ein wenig normaler und hätte einen simplen Kassiererjob oder so. Als er noch zwei Beine und Freunde gehabt hatte, hatte er sie oft um ihre normalen Leben beneidet. Um Mütter, die zu Elternabenden gingen und zu Schulfesten Kuchen mitbrachten. Seine Mutter machte sich nichts aus Schule. „Sie ist ein notwendiges Übel“, pflegte sie zu sagen. Am liebsten wäre ihr, er würde auch Autor werden. Oder Kunstmaler. Jedenfalls irgendetwas Kreatives. Mittlerweile beneidete er seine Klassenkameraden sogar noch viel mehr als vorher, aber nicht mehr so sehr um ihre Mütter, denn inzwischen ging auch er nicht mehr gern vor die Tür, und so ein Schulabbruch mit anschließender Künstlerkarriere gewann immer mehr an Reiz.
Mama hielt vor der Schule und Ben schnallte sich ab.
„Bis nachher“, murmelte er.
„15 Uhr?“, fragte sie wie jeden Tag.
„15 Uhr“, bestätigte er, ebenfalls wie jeden Tag, und stieg aus. In der Reha hatten sie auch Unterricht gehabt, aber das ließ sich nicht mit einer richtigen Schule vergleichen. Alle Reha-Patienten im schulpflichtigen Alter wurden gleichzeitig unterrichtet. Sie waren nur eine kleine Gruppe gewesen, in der es sich gut lernen ließ. Manches war jedoch auch untergegangen. So war Ben jetzt in vielen Dingen weiter als seine Klassenkameraden, während er von anderen Dingen noch nie gehört hatte, die für die anderen zum Grundwissen gehörten. Obwohl seine Mutter sich nichts aus Schule machte, versuchte er, halbwegs gute Noten mit nach Hause zu bringen, und wenn er nicht in Maira unterwegs war, lernte er. Auch in der Schule passte er auf, denn der Tag ging viel schneller rum, wenn man im Unterricht mitmachte. Vor allem, wenn man keine Freunde hatte, die einem die Zeit verkürzten.
Und so brachte er auch diesen Tag irgendwie hinter sich, konnte es vermeiden, auf die Schnauze zu fallen, so oft die anderen auch versuchten, ihm ein Bein zu stellen, konnte es vermeiden, jemanden anzubrüllen, so sehr ihm auch danach war, und konnte es vermeiden, sich vom Fachraumgebäude zu stürzen, auch wenn er oft genug daran dachte. Mama wartete im Wagen vor der Schule und war – oh Wunder! – tatsächlich einmal angezogen.
„Warst du einkaufen oder so?“, fragte er und bemerkte erst, als er den Satz ausgesprochen hatte, wie schroff das klang. Doch Mama ließ es einfach an sich abperlen und lächelte.
„Das auch. Aber ich habe Besuch.“
„Besuch?“, wunderte sich Ben und wurde neugierig. „Von wem denn?“
„Von meiner Freundin Tanja.“
Aha, dachte Ben. Mama hatte eine ganze Menge Freunde. Andere Schriftsteller, die genauso selten aus dem Haus gingen, wie sie selbst, die die Hälfte des Tages auf Facebook rumhingen und die andere Hälfte des Tages ihre Tastaturen quälten. Und zweimal im Jahr trafen sie sich auf den Buchmessen und schmissen wilde Partys. Oder so ähnlich. Er konnte sich die Namen von Mamas Freunden jedenfalls nicht merken und hatte keine Ahnung, wer diese Tanja war.
„Sie hat uns etwas mitgebracht. Ein Geschenk. Für dich.“
Ben sah sie verwundert an. Ein Geschenk? Für ihn? Was sollte das sein?
„Schreibt sie etwa Lebenshilfebücher?“, fragte er, schon wieder etwas zu schroff.
„Heldenromane“, erwiderte Mama. „Und Homoerotik.“
Sie grinste ihn frech an und freute sich offenbar über sein entsetztes Gesicht. Na, das war bestimmt ein super Geschenk! Mama beachtete ihn jetzt nicht mehr und er sah stur aus dem Fenster und versuchte, die Neugier zu verdrängen. Aber ganz gelang es ihm nicht.