Читать книгу Darf ich vorstellen: Amor - Hannah Albrecht - Страница 8
6. Alma
ОглавлениеDie Woche war wieder viel zu schnell vorbeigegangen und das Wochenende stand vor der Tür. Ich hatte zwar Arbeit mit nach Hause genommen, aber diese konnte ich schon am Samstagmorgen komplett fertig stellen. Was würde ich nur mit den restlichen anderthalb Tagen anfangen? Ich schaltete den Fernseher an und zappte ununterbrochen durch die Programme. Wie immer gab es nichts im Fernsehen. Am Ende stoppte ich bei einer dieser Sendungen, in der ein Sternekoch durch die Welt reiste und alles Mögliche landestypische in sich hineinstopfte. Diesmal war er in einem Schlangen-Restaurant, wo es alles von der Schlange gab: von der Haut, über die Knochen bis hin zum Fleisch in der Suppe. Es verzog mir das Gesicht. Eins war klar: In dieses Restaurant würde ich nie auch nur einen Fuß setzen. Zu Beginn musste er sich seine Schlange aussuchen? Es wurden ihm sich windende, lebendige Schlangen präsentiert. Ich wäre wohl, wie er, auf den Stuhl gesprungen und hätte mir auch die ausgesucht, die am gefährlichsten aussah. Fressen oder gefressen werden? Dann doch lieber fressen.
Als ich auf die Uhr schaute, fiel mir ein, dass ich auch mal wieder etwas essen sollte. Ich ging in die Küche, zwängte mich durch den kleinen Gang, den ich mir zwischen den Umzugskisten bis zum Schrank gebaut hatte, und schaute nach, ob noch eine saubere Schüssel zu finden war. Eine war noch da. Ein wenig verstaubt, aber einmal mit dem T-Shirt drüber gewischt und sie war vollkommen in Ordnung. Gut, ich hatte ein Schüssel, jetzt musste ich nur noch eine Tüte chinesische Fertignudeln finden, dann wäre mein Mittagessen gerettet. Ja da, gleich neben dem Wasserkocher lag noch eine mit Krabbengeschmack. Der Wasserkocher wurde rasch gefüllt und die Tüte in der Schüssel entleert. Ich setzte mich auf die Arbeitsplatte und wartete bis die Lampe ausging und mir deutete, dass ich drei Minuten später essen konnte. Mein Blick blieb an den Kisten haften. Jetzt wohnte ich schon wie lange hier? Vier Monate oder so? Auf jeden Fall schon eine Weile und ich konnte mich nicht dazu bewegen, die paar Sachen, die ich mitgenommen hatte, auszupacken. Das war schon ganz schön albern, aber eigentlich war es auch egal. Wen kümmerte es schon? Die Lampe erlosch, ich hörte das Klicken des Kochers und goss das Wasser über meine Nudeln. Teller oben drauf und gleich war das Essen fertig. Der Herr Sternekoch im Fernsehen wäre mit Sicherheit entsetzt.
Das Klingeln meines Telefons riss mich aus den Gedanken. Es war meine Mutter, natürlich.
„Hallo! Wie geht es dir mein Kind? Ich hoffe, du arbeitest nicht die ganze Zeit! Zu viel Arbeit ist auch nicht gesund, weißt du?! Also? Was machst du gerade?“
Da ich keine große Lust hatte, mir etwas einfallen zu lassen, sagte ich ihr einfach, was ich gerade tat. Sie würde sowieso daran rummeckern. Das tat sie eigentlich an allen Dingen, die ich machte, seit meine Ehe gescheitert war. Manchmal hatte ich sogar das Gefühl, dass sie mich dafür verantwortlich machte. Gerade mich! Als ob ich ihn gezwungen hätte, sich in die blöde Kuh zu verlieben. Naja gut, meine Mutter war auch der Meinung, dass Casper ein Idiot sei und wohl eindeutig nicht der Richtige, da er sich in jemand anderes verliebt hatte. Aber trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, dass die ganze Welt mir die Schuld für das Scheitern gab.
„Ich habe mir gerade etwas zu essen gemacht. Ich kann deshalb auch nicht so lange reden, sonst wird es kalt.“
„Oh Schatz, das ist ja schön. Was gibt es denn? Was hast du dir denn zubereitet? Es freut mich, dass du wieder vernünftig isst. Langsam sollte die Trauerphase mit dem Nichts oder Fertigprodukte essen auch wirklich vorbei sein.“
Wenn ich meine Mutter lassen würde, würde sie mir Tage und Wochen Vorträge über vernünftiges Essen halten. Vor einem Jahr hatte sie einen Kochkurs in dem Bioladen, bei sich um die Ecke gemacht, und seither ist das ihr Thema. Nur leider war sie da bei mir an der falschen Adresse.
„Gut, dann kümmere ich mich jetzt mal um mein Essen. Wir können uns ja später sprechen! Bis dann.“
„Oh, okay, dann bis später.“
Ich suchte nach einem Küchenhandtuch. Ich wusste, ich hatte schon eins ausgepackt, konnte es aber nirgends finden. Dafür sah ich ein altes Shirt von mir und nahm es, um die heiße Schüssel halten zu können. Ich balancierte sie samt Inhalt zu meinem Sofa. Als ich mich gerade setzen wollte, klingelte es an der Tür. Wer war denn das schon wieder? Ich suchte eine Möglichkeit meine Schüssel abzustellen. Letztendlich stellte ich sie auf das Sofa und hoffte, sie würde nicht umfallen und die ganze ölige Suppe auf meinem Polster verteilen. Es klingelte wieder. Jaja! Schön entspannt! Schließlich war Wochenende, da musste man doch nicht so einen Stress machen… Ich schaute noch schnell in den Spiegel, der neben der Tür an der Wand lehnte. Ungeschminkt, Haare zerzaust und in Wohlfühlklamotten. Egal. Wer konnte das schon sein? Bestimmt niemand, den ich wieder sehen würde. Ich schaute durch das Guckloch. Ein normal gekleideter und normal aussehender Typ stand vor meiner Tür und rieb sich nervös die Hände. Der war sicher falsch bei mir.
„Ja bitte?“, rief ich durch die geschlossene Tür. „Was kann ich für Sie tun?“
Der junge Mann schien erleichtert.
„Ja, hallo, sind Sie Alma Ahorn? Ich müsste mit Ihnen sprechen! Es ist dringend, ich würde mich sehr freuen, wenn Sie die Tür öffnen würden!“
Er hatte seine erste Aufregung überwunden und klang schon viel sicherer als er aussah. Er strich sich mit seiner Hand durch seine lockigen, in alle Richtungen stehenden, Haare. Er sah nicht wie ein typischer Vertreter aus, dafür fehlten ihm die Aktentasche und der Anzug. Und für einen handelsüblichen Psychopathen fehlten das Messer und der irre Blick, mal ganz davon abgesehen, dass es mitten am Tag war. Also, wer mochte dieser komische Typ sein? Ich konnte es herausfinden und die Tür öffnen oder ihn einfach abwimmeln und mich wieder vor den Fernseher setzen und sehen, was der Koch im Fernsehen während seiner Reise nach Jamaika alles essen würde.
„Herr..., wie auch immer, ich habe mir gerade etwas zu Essen gemacht. Deshalb ist es sehr ungünstig. Könnten Sie bitte wann anders wieder kommen? Jetzt passt es mir wirklich gar nicht.“
Es breitete sich ein fettes Grinsen auf seinem Gesicht aus. Als ob er auf diese Antwort gewartet hätte.
„Also, mein Name ist Hans Herzlich und ich glaube, Ihre Tütennudeln nehmen es Ihnen nicht im Geringsten übel, wenn Sie ihnen eine Zeit lang keine Aufmerksamkeit widmen und die Sendung, die Sie gerade sehen, gibt es auch online, da verpassen Sie auch nichts. Wohingegen ich wirklich mit Ihnen sprechen muss. Für heute wäre es auch ein relativ kurzes Gespräch. Die Details können wir dann auch gerne mit der Zeit aushandeln. Ich weiß, mit Ihnen habe ich eine harte Verhandlungspartnerin, aber ich denke, ohne Verhandlung wird diese Partnerschaft nicht funktionieren. Also bitte, lassen Sie mich rein, damit ich Ihnen alles erklären kann.“
Ich öffnete ohne weiteres Nachdenken die Tür. Wer war dieser Hans Herzlich und woher wusste er von meinem Essen und dem Programm, das ich sah? War er ein Stalker oder roch und hörte man, was ich hier tat? Das musste er mir erstmal beantworten.
„Herr Herzlich, kennen wir uns? Oder anders gefragt, sollte ich Sie kennen? Woher wissen Sie, was ich gerade mache? Beobachten Sie mich etwa?“
Das waren die Fragen, die ich geklärt haben wollte, bevor ich mich auch nur für eine Minute mit diesem Kerl abgeben wollte. Ich merkte, wie er sich immer mehr entspannte, was mir irgendwie merkwürdig vorkam.
„Die Frage, ob wir uns kennen, die würde ich Ihnen lieber bei einer Tasse Kaffee oder Tee beatworten. Ob ich Sie beobachte, tja, diese Frage wird dann auch in Folge der ersten beantwortet. Ich denke, es ist sicher etwas merkwürdig, dass ich einfach an einem Samstag bei Ihnen hereinschneie, aber an den Wochenenden haben Sie ja eher Zeit, also dachte ich, das würde gut passen. Sollen wir lieber in ein Café gehen oder bieten Sie mir einen Kaffee an?“
Ich war perplex. Ich wollte Antworten, aber er machte nicht die geringsten Anstalten, sie mir zu geben, bevor ich mich nicht mit ihm unterhalten würde. Ich drehte mich um und schaute in meine Wohnung. Sie und ich waren nicht bereit, Gäste zu empfangen. Ich konnte ihn nicht hereinbitten. Was sollte er denn denken? Gut, vielleicht würde er denken, ich wäre gerade erst eingezogen. Ich drehte mich wieder zu ihm, aber bevor ich etwas sagen konnte, fing er an zu sprechen:
„Mir ist es ganz egal, wie die Wohnung aussieht oder ob sie seit vier Monaten Ihre Kisten nicht auspacken. Ich muss einfach kurz mit Ihnen reden, das bin ich Ihnen schuldig! Bitte lassen Sie mich rein, ich bin harmlos. Also, darf ich reinkommen?“
Er kam einen Schritt auf mich zu. Ich war so überzeugt von seiner Entschiedenheit und seinem Wissen über mich, dass ich zur Seite trat und ihn rein ließ. Er schaute sich kurz um und drehte sich dann zurück zu mir.
„Sollen wir uns an den Esstisch dort in der Nische setzen? Wenn wir die Kisten ein wenig zur Seite schieben, könnten wir Platz finden. Was sagen Sie?“
Ich nickte nur und schaute ihm dabei zu, wie er die drei Kisten, die beim Umzug auf den Tisch gestellt worden waren, unter den massiven Holztisch stellte. Warum hatte ich das noch nicht gemacht? Es sah gleich viel angenehmer aus und ich hätte meine Arbeitsunterlagen auf der großen Fläche super ausbreiten können. Jetzt musste nur noch der ganze Kleinscheiß von den Stühlen weg. Er legte die Sachen auf die eine Seite des Tisches und setze sich.
Ich hatte die Tür hinter ihm geschlossen, war ihm gefolgt und hatte stumm zugeschaut, wie er es sich in meiner Wohnung gemütlich machte. Langsam bahnte auch ich mir einen Weg durchs Wohnzimmer zu der Nische am Fenster, wo Hans Herzlich an meinem relativ freigeräumten Esstisch saß. Bevor ich mich aber setzte, machte ich auf dem Absatz kehrt, ging zur Couch, nahm meine abgekühlte Schüssel mit den Nudeln und dem Besteck hoch und setzte mich anschließend an den Tisch. Er war so merkwürdig dreist, da konnte ich auch zumindest das, bei dem er gestört hatte, zu Ende bringen. Er ließ sich natürlich nicht aus der Bahn werfen und schaute mich nur aufmerksam an.
„Alma Ahorn, wie geht es Ihnen?“, fragte er mit weicher, bekümmerter Stimme.
Ich wischte mir die Spritzer vom Kinn und schaute zurück.
„Gut soweit, danke der Nachfrage“, fertigte ich ihn kurz ab.
Was wollte er denn von mir hören? Sollte ich ihm von den Dramen in meinem Leben berichten? Wer war er denn überhaupt?
„Okay, es liegt wohl an mir, ich muss mich wohl erstmal vorstellen.“
Er tat einen kräftigen Atemzug und seufzte die Luft wieder aus. Jetzt sah er plötzlich so aus, als ob ihn all sein Mut verlassen hatte. Wer zum Teufel war dieser Typ?!
„Gut, vielleicht sollte ich damit beginnen, Ihnen meine Karte zu geben.“
Er kramte in seiner Jackentasche, holte eine Karte heraus und schob sie zu mir über den Tisch. Hans Herzlich stand da, erstmal ein sehr lustiger Name. Wer nennt denn sein Kind so? Aber egal. Er arbeitete bei... Was war das? Amor AG? Oh nein! Ich sprang von meinem Stuhl auf und baute mich vor ihm auf.
„Amor AG! Also sind Sie doch ein Vertreter! Stehen Sie auf, Sie können gleich wieder meine Wohnung verlassen. Ich hätte es doch wissen sollen. Was verkaufen Sie, Vibratoren?! Da machen Sie Hausbesuche? Wer hat Sie denn bitte auf mich gebracht?!“
„Nein, Alma, nein! Bitte was? Vibratoren? Nein! Ich verkaufe nichts, ich bin kein Vertreter! Jetzt setzen Sie sich doch bitte wieder hin und lassen Sie mich ausreden. Sie machen es einem aber auch wirklich nicht leicht! Also, ich bin kein Vertreter, man würde wohl sagen, ich bin ein Dienstleister. Bevor Sie wieder anfangen zu schreien: Nein, ich verkaufe keine körperlichen Dienste, meine Arbeit hat nichts mit Sex zu tun. Auf jeden Fall nicht mit Sex mit meiner Person oder anderen Personen, für die Sie Geld bezahlen müssten. Also, darf ich Ihnen versuchen zu berichten, warum ich hier bin?“
Er schien unsicher, wie er sein Anliegen präsentieren sollte, aber ich konnte ihm anmerken, dass es wichtig für ihn war.
„Gut, dann machen Sie mal, ich lasse Sie ausreden. Wollen Sie mich aber übers Ohr hauen, bin ich die Erste, die die Bullen ruft und die Sie achtkantig rauswirft. Also, machen Sie, ich bin gespannt.“
Ich setzte mich wieder und versuchte mich zu entspannen. Meine Nudelsuppe schob ich zur Seite. Auf die hatte ich keine Lust mehr. Er begann:
„Also, wo war ich? Ach ja genau. Mein Name ist also Hans Herzlich und ich arbeite für die Amor AG. Ich bin dort als ‚Finder‘ angestellt. Was macht ein ‚Finder‘? Wir bekommen Klienten zugeteilt und unsere Aufgabe ist es, ihnen den perfekten Partner zu finden, bzw. sie bereit zu machen, für den perfekten Partner, indem wir sie durch verschiedene Vorbereitungsbeziehungen laufen lassen. Ich bin quasi Ihr Amor. Sprich, ich kenne Sie schon sehr lange und habe Sie viele Jahre begleitet, aber Sie kennen nur meine Arbeit, nicht mich persönlich. So weit so gut?“
Was erzählte er da? Ging es ihm nicht gut?
„Ist das ein Märchen? Meinen Sie das wirklich ernst? Soll ich Ihnen das glauben?“
„Ja, das ist der Sinn der Sache. Ich erzähle Ihnen die Wahrheit und Sie glauben mir. So hatte ich mir das vorgestellt. Aber okay, vielleicht brauchen Sie noch etwas, damit Sie mir glauben. Vielleicht machen wir das so: Haben Sie eine Frage zu irgendeiner Beziehung in Ihrer Vergangenheit, die Sie sich nicht beantworten konnten? Stellen Sie mir diese Frage und ich gebe Ihnen die Antwort. Oder nein! Noch besser: Lassen Sie mich schauen und raten, was Sie bewegt hat. Abgesehen von der letzten Beziehung. Ihre Ehe lassen wir erstmal außen vor, dazu komme ich später. Ich muss nur mal kurz in Ihre Akte schauen.“
Er kramte in seinem Rucksack, den er an seinen Füßen abgestellt hatte. Dann holte er eine dicke, royalblaue Pappmappe heraus und fing an, wild darin herumzublättern. Bis er endlich fand, was er wohl gesucht hatte. Er las kurz und nickte sich zustimmend zu. Sein Finger zeigte auf ein Papier, das sich relativ weit am Anfang befand. Was passierte hier eigentlich gerade? Konnte es sein, dass es so was wie einen Amor gab oder jemanden, der einem half, den Seelenpartner zu finden? Das konnte doch gar nicht sein! Und warum beantwortete er keine Fragen zu meiner Ehe? Dazu hatte ich die wichtigste Frage, für die ich eine Antwort brauchte. Aber konnte das denn sein? Oder saß vor mir ein elendiger Betrüger, der gleich versuchte, mir klarzumachen, dass ich meinen Seelenpartner noch einmal finden würde, wenn ich ihm mein ganzes Vermögen geben würde? Ich hatte in letzter Zeit viele Geschichten darüber im Internet gelesen, was Menschen alles taten, um ihre Liebe zurückzubekommen oder um sie überhaupt zu finden. Und viele waren der Meinung, dass es sowieso nur einen Seelenpartner gab. Hatte man den gefunden und verloren, dann war die allgemeine Meinung in den Foren, und auch meine, dass es das war. Eine zweite Chance gab es nicht. Also brauchte der Typ hier gar nicht erst versuchen, durch mich Geld zu verdienen. Ich würde ihm keinen Cent zahlen, um eine neue Liebe zu finden. Ich war zwar noch jung, aber das Thema hatte ich durch. Da sollte er sich mal schön die Zähne dran ausbeißen.
„Also, ich bin hier bei Benno, das war, abgesehen von Ihrem Kindergartenfreund Felix, die erste kleine Beziehung, die ich vermerkt habe. Ich erinnere mich daran, dass war im Urlaub in Italien mit Ihrem Vater, in dieser Clubanlage. Also, Sie kannten sich vier Tage und haben sich dann hinter dem Theater geküsst. Am nächsten Tag handelten Sie mit Ihrem Vater aus, dass Sie nicht mit auf den Ausflug mussten, sondern den Tag mit Benno verbringen durften. Das war Bennos letzter Tag und Sie wollten ihn gemeinsam verbringen. Benno kam auch aus Deutschland und Sie versprachen sich zu schreiben. Sie haben ihm auch über zwei Monate lang nach der Reise immer wieder Briefe geschrieben, aber bekamen nie eine Antwort. Sie dachten, der Herzschmerz würde Sie umbringen. Ihre Frage ist, warum er nie zurückgeschrieben hat. Er hätte doch auch anrufen können, Sie hatten ja auch Ihre Telefonnummer mitgeschickt. Es wäre für ihn doch ganz einfach gewesen, das Telefon in die Hand zu nehmen und zu sagen, dass er kein Interesse daran hatte, zu schreiben. Warum hat er es nicht getan? Richtig?“
Ich musste zugeben, ich war ein wenig beeindruckt. Diese Geschichte war schon so lange her, dass ich mich kaum daran erinnern konnte. Woher konnte er das wissen, ohne dass er mein Amor war oder mein Tagebuch von damals aus dem Keller meiner Eltern geklaut und gelesen hatte?
„Ja… Ich muss zugeben, sein Verhalten verstehe ich bis heute nicht. Auch das Verhalten seiner Eltern verstehe ich nicht ganz, aus meiner heutigen Sicht. Die hätten ihn doch damals dazu anhalten müssen, mir zu schreiben. Also, Sie wollen mir sagen, Sie haben eine Antwort darauf?“
Na da war ich ja mal gespannt. Was würde das wohl für eine Antwort sein?
„Die Antwort ist, wie ich sehe, leider ganz einfach. Benno ist aus dem Urlaub wiedergekommen und kam auf die Oberschule. Er kam in eine neue Klasse, mit neuen Schulkameraden und Kameradinnen, unter anderem eine, die er sofort toll fand. Mit dem Egoboost, den er Ihretwegen in den Ferien bekommen hatte, fühlte er sich sicher genug, die nächsten sechs Wochen damit zu verbringen, seinen neuen Schwarm für sich zu gewinnen. Ihre Briefe bekam er und er las sie auch, aber sie waren aus einer, für ihn, längst vergangenen Zeit. Die andere Frage, die Sie sich stellen sollten ist: Auf was oder wen sollte mich diese Begegnung vorbereiten? Benno wurde auf die Begegnung mit seiner neuen Klassenkameradin vorbereit und was hat Ihnen das Treffen gegeben?“
„Hans, darf ich dich Hans nennen?“
„Ja bitte, dann nenne ich dich Alma, in Ordnung?!“
„Gut, also, Hans, ich weiß nicht was du von mir willst. Wenn ich mich recht erinnere, kam nach Benno längere Zeit niemand, den ich mochte. Also, ich meine, es kamen ein paar Schwärmereien hier und da, aber ich war nicht mehr so leicht zu haben. Ich glaube, ich habe mich danach erstmal wieder auf die Schule konzentriert. Der Nächste war dann Filipe… Ach Filipe, der war toll! Da gerate ich immer noch ins Schwärmen.“
Hans saß mir nickend gegenüber. Er bestätigte alle meine Aussagen mit einer zustimmenden Kopfbewegung.
„Ja genau, und dass du heut noch so von ihm schwärmen kannst, das hast du deinen Erfahrungen mit dem guten Benno zu verdanken. Du bist vorsichtiger geworden und hast dich zwar fallen lassen, aber bist davon ausgegangen, als das Austauschjahr von Filipe vorbei war, dass auch eure Beziehung vorbei sein würde. Ihr habt euch dann nochmal hier oder da in den Ferien gesehen, habt aber keine unrealistischen Erwartungen aneinander gehabt.“
Er hatte vielleicht Recht. Ich betrachtete den jungen Herrn mir gegenüber nochmal genauer. Er hatte eine Akte, in der mein komplettes Liebesleben aufgelistet war. Vielleicht hatte er am Anfang die Wahrheit gesagt? Vielleicht gab es wirklich so etwas, wie einen persönlichen Amor? Irgendwie fand ich den Gedanken spannend. Wie funktionierte das denn dann alles? Aber Moment mal, hatte er nicht gesagt, er würde später noch auf meine Ehe zu sprechen kommen?! Also, ich fand, jetzt war später.
„Hans, angenommen du bist tatsächlich mein persönlicher Amor… Dann bist du doch auch sicherlich für die Begegnung mit meinem Ehemann zuständig gewesen, richtig?“
Es schien mir, als hätte ich ein kurzes, nervöses Zucken gesehen, dass durch seinen ganzen Körper ging.
„Okay, dann sind wir wohl jetzt bei diesem Thema angelangt. Also, zu deinem Ehemann: Ja, für dieses Kennenlernen war ich verantwortlich. Und um ganz ehrlich zu sein, wart ihr mein Glanzstück. Ihr wart für viele meiner Kollegen ein Paradebeispiel. Wie ich es eingefädelt hatte, dass er dich sah, sich von seiner damaligen Übergangsfreundin trennte und anfing, dich für sich zu gewinnen. Was er für kreative Ideen entwickelte und wie du Stück für Stück seinem Charme nicht mehr wiederstehen konntest. Ich habe lange gewartet, bis ich dir den erliegenden Schuss verabreicht habe. An dem Tag nach der Vorlesung, bei der du assistiert hast, ist Casper auf dich zugekommen und ihr seid spazieren gegangen. Am Ende des Spaziergangs hat er dich geküsst. Aber erst, als du am Abend den Tag mit Caspar noch mal Revue passieren hast lassen, erst da habe ich den letzten nötigen Strahl verschossen. Da war es völlig um dich geschehen. Als Casper dann am nächsten Tag bei dir vorbeikam, war die lange Vorbereitungszeit erfolgreich zu Ende gegangen. Nach sechs Jahren kam dann der Antrag und ich war nur noch froh. Ihr gehörtet einfach zusammen.“
Ich war irritiert.
„Also war Casper keine Vorbereitungsbeziehung?!“
Hans senkte den Blick. Was war denn mit ihm los? Das Thema schien bei ihm gemischte Gefühle hochzubringen. Erst erzählte er stolz davon und jetzt hatte ich fast das Gefühl, er schämte sich dafür. Ich, für meinen Teil, schwankte auch immer wieder zwischen den Gefühlen, aber ich hatte das Ganze schließlich auch erlebt. Ich versuchte Casper, der die Liebe meines Lebens gewesen zu seien schien, zu hassen und doch kamen immer wieder die Tränen hoch, wenn ich alleine in meiner neuen Wohnung aufwachte. Eigentlich hätte er neben mir liegen sollen. Eigentlich hätte ich nicht hier, zwischen Kisten hausen sollen. Geplant war, dass ich mich in unserem neuen Haus an den Kisten vorbei schob. In dem Haus, das Casper und ich für unsere kleine Familie kaufen wollten. Bei dem Gedanken verstärkte sich sofort der Druck auf meine Augen. Ich merkte, dass eine Pause entstanden war. Als ich meinen Kopf hob, schaute Hans gequält zwischen meinen Fingern und meinen Augen hin und her. Ich hatte das T-Shirt bearbeitet, das ich vorher zum Hitzeschutz um meine Schüssel gelegt hatte. Jetzt, wo ich Hans direkt in die Augen schaute, räusperte er sich und fing an zu reden.
„Ganz richtig, Casper war keine Vorbereitung, er war ‚the real deal‘. Ihr wart für einander bestimmt.“
Er schwieg einen Augenblick, bevor er weitersprach. Aber mir reichte seine Aussage schon. Damit war alles besiegelt. Er hatte bestätigt was ich schon längst wusste. Ich hatte meine eine Chance auf Liebe gehabt. Ich würde nie wieder für einen Menschen solche Gefühle haben. Ungewollt liefen mir die Tränen aus den Augen. Im selben Moment beendete Hans seine kleine Pause und sprach weiter.
„Alles war perfekt. Bis ich“, ihm versagte die Stimme und er setze erneut an, „bis ich alles zerstörte. Dein Leiden ist meine Schuld. Ich hatte die Kontrolle über meine eigene Beziehung verloren und wollte unter Beweis stellen, dass nichts und niemand Paare trennen kann, die zusammengehören. Es gibt keine Entschuldigung für mein Verhalten und trotzdem will ich dich aufrichtig um Entschuldigung bitten. Ich weiß nicht, ob du mir je verzeihen kannst, aber ich werde alles versuchen, um dein Vertrauen wieder zu gewinnen!“
Ich hatte alles gehört, was aus seinem Mund geströmt kam, aber ich konnte nicht sagen, dass ich es auch wirklich verstanden hatte. Was sagte er da? Weder Casper noch ich waren an unserer Situation schuld? War es das, was er sagte? Ich blinzelte ihn ungläubig an.
„Was meinst du damit, dass du an allem schuld bist? Was genau bedeutet das? Was ist denn bitte genau passiert? Du wolltest etwas beweisen und was ist dann passiert? Ich verstehe das nicht! Ich kann das alles nicht verstehen!“
Hans nickte langsam mit geschlossenen Augen.
„Nein, das kannst du auch noch nicht verstehen. Also, ich war selber in einer Beziehung, wir hatten uns gerade mal wieder so richtig in die Haare bekommen und sie war aus der Wohnung gestürmt. Ich liebte sie so sehr, aber ich hatte das Gefühl, ich würde sie verlieren. Ich wusste, dass die Möglichkeit bestand, dass sie nur zur Vorbereitung auf eine andere, vielleicht harmonischere Beziehung da war, aber ich wollte diesen Gedanken nicht wahr haben. Immer wenn es mir schlecht ging, habe ich bei euch vorbeigeschaut. Eure Harmonie und die glückliche Ausgewogenheit haben mich beruhigt. Nach diesem Streit schaute ich also wieder bei euch vorbei. Ich sah, wie Casper mit Eva zusammen saß und sie deine Ankunft planten, da kam mir die Idee. Ich beschloss zu beweisen, dass meine Amor-Strahlen eurer Liebe nichts anhaben können. Ich Idiot wollte mir damit beweisen, dass auch meine Freundin und mich nichts trennen konnten. Ja, mit den Strahlen bekommt man die Schmetterlinge im Bauch zu spüren, aber wenn du weißt, zu wem du gehörst können die doch unmöglich Auswirkungen haben. Da war ich mir sicher! Ich musste es nur noch beweisen. Aber mein Plan schlug fehl. Ich habe nichts bewiesen und ich habe eure Beziehung zerstört. Ich bin für alles verantwortlich. Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll. Es tut mir so leid, Alma, ich hoffe du kannst mir irgendwann verzeihen. Auch wenn ich es nicht im Geringsten verdienen würde, dass du mir verzeihst. Es tut mir aufrichtig Leid, damals war ich mir sicher, dass nichts passieren würde, dass ich nichts ändern würde und eure Liebe alles überstehen würde. Ich...“
Er senkte den Kopf wieder. Mir war nur schwindlig. Was hatte ich da gerade erfahren? Was bedeutete das für mich? Hieß das, dass er daran schuld war, dass ich meine Chance auf die große Liebe verpasst hatte? War er also daran schuld, dass Casper die blöde Kuh geküsste hatte und sich in sie verliebte? Alles nur, weil mein verwirrter Amor dachte, wir würden allen Versuchungen standhalten können? Aber am Ende haben Casper und ich nicht standgehalten. Konnte ich Hans verzeihen? Ich war froh, dass ich saß. Konnte ich ihn noch hier haben? Konnte ich mich jetzt mit ihm unterhalten? Das war alles so viel, zu viel. Es gab einen Amor, der dafür sorgte, dass ich meinem Seelenpartner begegnete, dann fand ich ihn, heiratete ihn und führte eine wundervolle, harmonische Beziehung und dann versaute Hans sie mir, aus Überzeugung, dass die Beziehung alles aushalten sollte. Das war doch irre! Das sollte ich jetzt alles einfach so hinnehmen? Ich fühlte mich komplett überfordert. Und ich konnte von mir sagen, dass mir das selten passierte. Normalerweise hatte ich auf jede Situation, wenn nicht sofort, dann aber doch kurz danach, eine Lösung, eine Antwort oder ein Kontra. Aber hier und jetzt... Mir war schlecht. Mein Kopf schien leer. Passierte das hier gerade wirklich? Ich musste mich kneifen.
„Verarscht du mich?“, war alles was aus meinem Mund gepurzelt kam.
Das hörte sich total verrückt an. Hans Herzlich schaute mich geknickt an und schüttelte wieder langsam den Kopf.
„Nein, leider nicht. Ich wünschte, ich könnte aufspringen und sagen: ‚Haha! Verarscht! ‘, aber leider wäre das gelogen. Das ist wahrscheinlich alles ein wenig zu viel, um es so schnell zu begreifen und zu verarbeiten, aber es gab keinen anderen Weg, es dir zu sagen. Zumindest ist mir kein besserer eingefallen. Ich bin aber nicht gekommen, um dich zu verwirren. Gerne würde ich mit dir einen Weg finden, der dich dazu bringt, dass du mir, und vor allem meiner Arbeit, wieder vertrauen kannst. Auch wenn ich mir bewusst bin, dass wir darüber heute wohl eher nicht reden werden. Aber es ist mir wichtig, dass du weißt, dass die Geschichte so nicht enden muss und dass damit nicht alles vorbei ist.“
„Was meinst du damit, dass die Geschichte damit nicht vorbei ist?“, wollte ich verwirrt wissen.
Er dachte doch nicht wirklich, dass ich zu diesem Typen zurückkehren wollen würde? Zu dem Kerl, der mich betrogen und am Flughafen stehen gelassen hatte, um mir, nachdem ich nach über 20 Stunden Flug meine Koffer selber die Treppen hochgetragen hatte, zu eröffnen, dass er mich nicht mehr liebte und ich bitte ausziehen solle. Der mich dann noch, aus völliger Verplantheit, meinen Job gekostet hatte. Ich glaubte nicht! Besser: Ich wusste es! Auf gar keinen Fall!
„Also, wenn du mich fragst, ist die Geschichte mit diesem Typen aber so was von vorbei. Vorbeier geht schon gar nicht mehr. Also, mit so einem Menschen, wie sich herausgestellt hat, das Casper einer er ist, mit so jemanden möchte ich wirklich nichts mehr zu tun haben. Das kannst du mir glauben!“
„Ja – äh – nein – das meinte ich damit nicht. Also...“
Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn und entfernte die Schweißtropfen, die sich ihren Weg nach unten bahnen wollten. Dann setzte er erneut an:
„Ich meinte unsere Geschichte. Nicht die Geschichte von dir und Casper. Da bin ich Deiner Meinung, diese Geschichte ist durch!“
Ich fühlte mich leer. Ich war völlig erschöpft und hatte nichts mehr zu sagen. Ich wollte nur noch, dass er ging. Er sollte weg und ich wollte mich vor dem Fernseher zusammenknäulen und mich berieseln lassen. Das war alles ziemlich heftig und mehr als genug für ein entspanntes Wochenende. Hans konnte mir meine Gefühle und Gedanken wohl ansehen und stand langsam auf.
„Alma, das ist jetzt ein wenig viel. Ich werde gehen und lasse dir meine Karte hier, dann kannst du mich jederzeit erreichen. Und ich meine jederzeit! Tags, nachts, wann immer du das Gefühl hast, du brauchst mehr Informationen oder du würdest einfach gerne nochmal darüber reden. Habe wirklich keine Hemmungen, dich zu melden, meine Zeit ist nicht die deine, sie verläuft etwas anders. Wir ‚Finder‘ haben eine eigene Zeitrechnung, also würdest du mich sicher nicht stören! Also, ich denke, ich gehe dann jetzt besser. Oder hast du noch eine Frage?“
Ich schaute ihn an und schüttelte nur schwach den Kopf. Er fühlte sich an wie eine Tonne Stahl. Ich hob die Karte auf und schaute sie an. Amor AG. Das war doch alles verrückt. Ich stand ebenfalls langsam auf und folgte Hans Herzlich zur Tür. Er trat hinaus und schaute mich an.
„Kommst du klar? Oder kann ich noch was tun?“
„Du hast schon genug getan!“
Ich sah, wie sich sein Gesicht verzog, der Spruch hatte gesessen.
„Sorry, das war alles zu viel. Wenn ich Fragen habe, melde ich mich. Schönen Samstag noch“, waren meine letzten Worte, bevor ich dem Armen die Tür vor der Nase zuknallte.
Ich konnte mich für eine Weile nicht bewegen und hörte auch auf der anderen Seite der Tür keine Regung. Irgendwann entfernten sich leise Schritte von der Tür und über die Treppe. Ich brauchte noch ein paar Minuten, bevor ich zur Couch ging, mich drauf fallen ließ, einkuschelte und den Rest des Samstags vom Fernseher berieseln ließ.