Читать книгу Lieber Mord als Scheiddung - Hannelore Kleinschmid - Страница 4
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ОглавлениеDa ich seit Jahren Vater- und Mutterersatz für meinen Bruder Christoph, die arme Waise, war, verließ ich umgehend Frau und Kinder, setzte mich in den Wagen und fuhr in das Land, in dem er studierte. Was seinen Fleiß und seine Strebsamkeit anging, so hatte er mir bis dato die Erziehung leicht und keine Sorgen gemacht. Zudem war er weder dem Alkohol noch irgendwelchen Drogen verfallen, so dass ich kaum eingreifen musste, um ihn auf dem Pfad gesunder Tugenden zu halten.
Es war mehr die Haltung zur Welt an sich, hinsichtlich derer wir zu keiner Übereinstimmung gelangten. Noch pubertätsgebeutelt hatte er mich als liberalen Scheißer beschimpft, wobei diese Kritik damals von links kam, so etwa aus Che Guevaras Reihen. Verbissen suchte er als Sechzehnjähriger nach dem einen Satz, nach der einen Weisheit, die ihm die Welt erschließen und ewig helfen würde, das jeweils einzig Richtige zu tun. Meinen bescheidenen Hinweis, die Menschheit suche seit jeher nach diesem Rezept - weitgehend erfolglos –, verachtete er. In jener Zeit waren unsere Gespräche kurz, dafür umso lautstärker.
An- und eingebunden, wie ich durch die eigene Familie war, kam der kleine Bruder zu kurz. Jedenfalls litt er unter solchen Gefühlen und suchte in seiner konsequenten, entschlusskräftigen Art einen Ausweg, indem er sich nach dem Abitur hin zur alten Heimat unserer Familie wandte, die von ihm außer Stippvisiten nur das Babygeschrei erlebt hatte. In diese alte Heimat, über eine Grenze hinweg, schoß ich nun auf der Autobahn, die jede Landschaft stadtlos-langweilig macht. Zur standesamtlichen Trauung wollte ich pünktlich sein. Elke hatte den Goldrandteller sorgfältig geklebt, die gekreuzten Schwerter waren von dem Bruch nicht berührt gewesen. Die Kinder halfen hingebungsvoll, ihn samt einem wertvolleren, weil nicht geflickten Kerzenleuchter zu einem großartigen Geschenkpaket von unbestimmbarer Form zu verpacken, das in eine Decke gehüllt, im Kofferraum meines Autos verstaut war. Ich musste das Grinsen als hämisch bezeichnen, mit dem meine Frau den schwarzen Nadelstreifenanzug in den Koffer legte. Die Frage, ob sie für mich eine Fliege erwerben sollte, überging ich würdevoll. Auch den Nadelstreifenanzug nahm ich kommentarlos hin, betrachtete ich ihn doch als schwerwiegenden Fehltritt in meiner 35-jährigen Existenz. Was in mich gefahren war, als ich mich im Neonlicht des Herrengeschäftes vor dem schlankmachenden Spiegel für das feierliche Stück begeisterte, weiß ich bis heute nicht. Nachdem ich das erste Mal damit aufgetreten war, wusste ich jedoch, dass ich nicht bei mir gewesen sein konnte. Nebenbei bemerkt sah ich in dem Anzug allen Angaben und meinen eigenen Augen zufolge blendend aus, aber eben doch wie einer, der meine Rolle spielt, und zwar in einer Fehlbesetzung.
Ich fuhr viel zu schnell. Am Ziel meiner Reise erwartete mich die Rolle, die mir trotz langjähriger Übung nicht auf den Leib geschrieben war. Wieder einmal würde ich Vater und Mutter ersetzen, auf dem Standesamt und als Atheist in der Kirche. Ich sollte einer Eheschließung den Segen geben, die überhaupt nicht in mein Gesichtsfeld passte. Gegnerischer als ich eingestellt war, während ich mich der vertrauten, fremden Stadt näherte, konnte die geballte Kraft eines Elternpaares nicht gegen die Hochzeit ihres Einzigen auftreten.
Eine Freundin der Familie namens Hilde Huberti nahm mich mit offenen Armen auf. Vom Bräutigam entdeckten wir keine Spur, obgleich sich sein derzeitiges Domizil im selben Haus befand und ich meine Ankunft angekündigt hatte. Nur kurz schwelgten wir bei Kaffee und Kuchen, der haushoch dem der nördlichen Gefilde des deutschen Sprachraums überlegen ist, in den Erinnerungen an die bessere Vergangenheit. Dann sprangen wir hinein in die gegenwärtigen Ereignisse, von denen zu berichten, meine Gastgeberin höchst begierig war. Die ganze Stadt redete nach ihrer Aussage nur von der sensationellen Heirat, dabei lebten hier mehr als zweihunderttausend Leute. Christoph war der erste, dem es zu gelingen schien, eine der vier Töchter des reichsten Mannes dieser Gegend zu ehelichen. Wie mir die Huberti mit vor Erregung vibrierender Stimme mitteilte, war mein Bruder dafür nach vorherigem Unterricht zum Katholizismus übergetreten.
Unsere ehrbaren Eltern waren nicht in die Lage geraten, uns Erwähnenswertes zu vererben. So nahm Christoph lediglich die Bildungschancen der heutigen Gesellschaft als sein künftiges Kapital wahr. Nur ein Optimist begänne an dieser Stelle von der alles überwindenden Kraft der Liebe zu träumen. Einen solchen Gedankenflug gestattete mir die Freundin unserer Familie nicht. Prosaisch verkündete sie: "Er, das heißt: sie kriegt ein Kind. Deshalb die Hast, denn es wird Zeit, das Brautkleid anzuziehen." Sie fügte noch hinzu, dass es sich die Familie der Braut ja leisten könne, den teuersten und erfahrensten Schneider zu Rate zu ziehen. "Aber ehrlich gesagt," überlegte sie weiter, "geheiratet werden sollte nicht! Oder jedenfalls erst dann, wenn er das Studium abgeschlossen hat."
Ich erwiderte nichts, weil ich vollauf damit beschäftigt war, die Nachricht zu verdauen, dass ich Onkel werden würde. Ich kniff die Augen zusammen, um den Gedanken an Kitsch und Kolportage auszulöschen. Fehlte doch eigentlich nur noch, dass Christoph als Sohn einer verarmten, aber ehrbaren Adelsfamilie enttarnt würde. Aber ich wusste es besser! Inzwischen hörte ich das Lob der Strebsamkeit und des Fleißes im Allgemeinen und im Besonderen meinen Bruder betreffend. Im Gegensatz zu vielen jungen Leuten heutzutage lege er zudem Wert auf sein Äußeres. Vergammelte Jeans seien längst in der Altkleidersammlung gelandet, wo sie hingehörten. Mit klarem Blick auf das Gute bevorzuge er Markenartikel. Vielleicht war es eine Fehlinterpretation meinerseits anzunehmen, dass bei diesen Worten Hilde Hubertis kritischer Blick meine ausgebeulten, jedoch äußerst bequemen Cordjeans und die Lederjacke traf, deren Taschen man ansah, wie viele wichtige und weniger wichtige Dokumente und Taschentücher sie bereits transportiert hatten.
Christoph sei gepflegt und höflich, wisse sich zu benehmen und habe Niveau, sagte sie zu diesem Thema abschließend. Als Vater- und Mutter-Ersatz hätte ich auf das Urteil stolz sein müssen und wollte gerade ein entspanntes Lächeln auf meine Züge legen, als mich ein weiterer Dolchstoß guten Bürgersinnes traf. "Sie ist fünf Jahre älter." wurde mir eröffnet. "Und er ist doch noch so jung". Ich gestattete mir den Hinweis, dass ich in nahezu demselben Alter meine Frau kennengelernt und kurz darauf mit ihr in einem eheähnlichen Verhältnis gelebt hätte, bis wir vor zehn Jahren heirateten.
Mittlerweile waren wir vom Kaffee zum Sekt übergegangen und hatten zu diesem Zweck auch Tisch und Sitzgelegenheit gewechselt. Da mein Inneres immer noch Auto fuhr, stieg der Sekt mir schneller als gewöhnlich zu Kopf. Zudem benutzte ich ihn, um meinen Durst zu stillen. Im Ergebnis dessen wurde ich zusehends heiterer und gewann die richtige Einstellung zu den Dingen, die ohnehin ihren Lauf nahmen.
Wir hörten Tritte von kräftigen Füßen auf der Treppe. Sie stiegen an der Tür der Wohnung vorbei. "Das ist er." stellte die befreundete Dame fest. Ich war mit der Überlegung, ob ich mich zu Christoph in die Studentenbude gehen sollte, noch zu keiner Entscheidung gelangt, als Sturm geklingelt wurde. Ziemlich blass, aber mit roten, scharf abgegrenzten Flecken im glatten Gesicht, kam Christoph ins Zimmer und in meine elterlich-brüderlich ausgestreckten Arme. Wir umfassten uns, hielten uns fest, und ich begrüßte ihn mit: "Na, mein Kleiner!“ Zu seinen Kümmernissen gehörte nämlich, dass er meine Körperlänge um etwa drei Zentimeter verfehlt hatte. Erfahrungsgemäß hilft das Recken des Kopfes wenig bei dem Bemühen, größer zu wirken, und seine sportlichen Aktivitäten hatten ihn lediglich kräftiger und breiter werden lassen, als ich es war. Christoph wies überall da Muskelpakete auf, wo mein viel zarterer Körperbau allmählich Rundungen bekam.
"Du hättest ruhig ausführlicher telefonieren oder zur gedruckten Einladung ein paar Worte schreiben können." sagte ich mit mütterlichem Vorwurf in der Stimme, nachdem wir uns zur Sektflasche gesetzt hatten. Sohnesgemäß erwiderte er kurz, aber beleidigt: "Selber nicht gekümmert!“ Einlenkend nahm ich als der Vernünftige den Gesprächsfaden wieder auf, während sich unsere wohlerzogene Freundin rücksichtsvoll entfernte.
"Wollen wir das Vergangene begraben und uns gemeinsam der Gegenwart zuwenden?" fragte ich. Christoph war einverstanden. Überraschend und sehr laut rief er jedoch plötzlich aus:
"Diese Hochzeit findet nicht statt!“
In Anbetracht des Gerüchts vom herankeimenden Leben war ich mehr als erstaunt. Ebenso erging es der befreundeten Dame, die mit einer jungfräulichen Sektflasche durch die Tür trat und die letzten Worte gehört hatte. Christoph erklärte bereitwillig, aber wutschnaubend: "Ich habe einen Ehevertrag unterschrieben. Ein angehender Jurist hat sich das Papier angesehen und mir gesagt, mit meiner Unterschrift riskiere ich nichts. Meine liebe Braut hatte mich aufgeklärt, dass ihre Familie ohne diesen Vertrag nicht in die Heirat einwilligen würde."
"Da ich so etwas nicht besitze", gestand ich ein, "bitte ich dich, mir die Sache mit dem Vertrag zu erklären.“
"Nur ein einziger Paragraph ist von Interesse." antwortete Christoph. "Er besagt, dass ich keinen Anspruch auf Evelines Vermögen habe. Wir werden, nein, wir würden in Gütertrennung leben."
"Na, viel ist ja da von deiner Seite nicht zu trennen." warf ich ein. Beleidigt wehrte er sich: "Das war in der Vergangenheit nicht deine Sorge und sollte in Zukunft nicht deine Sorge sein!“
Die befreundete Dame Huberti fragte - das Gespräch belebend, – wo der Grund für die nicht stattfindende Hochzeit liege, wenn er doch den Vertrag unterzeichnet habe.
"Heute rief sie mich an" sagte Christoph, „und verlangte, dass ich morgen nach der Trauung noch einmal denselben Vertrag unterzeichne." Er machte runde Augen, die seiner Empörung Ausdruck gaben, während wir nur Bahnhof verstanden und unsere Gesichter keiner Spur der tatsächlichen Intelligenz zeigten. Der potentielle Ehemann erlöste uns jedoch vom Nichtverstehen.
"Die Familie wollte sichergehen", sagte er, "dass ich mich nicht nach der Trauung plötzlich weigere, überhaupt einen Ehevertrag zu unterschreiben. Deshalb also die Unterschrift vorher, die allerdings angezweifelt werden kann, da sie ja in unverheiratetem Zustand gegeben wurde. Aus diesem Grunde will die Familie noch eine Unterschrift von mir, wenn wir getraut sind. Aber nun will ich nicht mehr. Das hätten sie mir zuvor sagen müssen, finde ich.“
Wir fanden, dass er mit seinem Protest recht hatte. Wir waren sowieso in einer Stimmung, in der wir Protest gut fanden.
"Ich habe Eveline gesagt," erklärte Christoph, "dass ich den Zirkus nicht mitmache. Daraufhin meinte sie, dann ich bräuchte gar nicht erst zum Standesamt zu kommen. Und ich erwiderte, dass sie folglich auch das Hochamt in der Kirche absagen könne. Sie begann zu heulen, und fast zeitgleich knallten wir die Hörer auf die Gabeln der Telefone. Das war heute früh. Inzwischen steht mein Entschluss fest: es wird nicht geheiratet!“
Wir suchten nach keinem anderen Standpunkt zu dieser Angelegenheit, sondern nach unseren Sektgläsern und stießen an. Wir kamen überein, dass Eveline, die ich noch nicht persönlich kannte, eine dumme Gans sei.