Читать книгу Lieber Mord als Scheiddung - Hannelore Kleinschmid - Страница 5
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ОглавлениеWenn ich mich hier in die Pflicht nehme, aufzuschreiben und zu hinterlegen, was in den vergangenen Monaten in unserer Vaterstadt, die übrigens auch diejenige unserer Mutter war, mit meinem Bruder Christoph geschah, weil ich festhalten möchte für Kinder und Kindeskinder, warum und durch wessen Verschulden es zu diesen Geschehnissen kam, dann nehme ich mir zugleich die Freiheit, selbst zu bestimmen, unter welchen Gesichtspunkten ich mich mit den Vorgängen befasse. Man muss bedenken, dass ich dieses Unterfangen an meinen Feierabenden nach der täglichen Lohnschreiberei durchführe und mir deshalb jedes Mal von neuem einen gewissen Anreiz schaffen muss, mich nicht untätig vor den Fernsehapparat zu setzen.
Übergehen wir, dass der alte Burger persönlich zum Telefon griff, um seinen Nein sagenden Schwiegersohn in spe zu sprechen und die Heirat zustande zu bringen. Übergehen wir die Schrecknisse der standesamtlichen Trauung, die die erste Wiederbegegnung des Brautpaares nach dem bis dahin größten Krach brachte, und die Eiseskälte, in der anschließend im Hause Burger genau 85 Minuten lang Sekt und Sahneparfait gereicht wurden, wobei neben dem Eis nur die Disharmonie vollkommen war.
An diesem Tage waren weder mein Bruder noch seine Gattin für mich zu sprechen. Ehrlich gesagt, konnte ich nicht begreifen, warum hier geheiratet wurde. Keiner hatte Zeit, mir diese Fragen zu beantworten. So trottete ich sinnend durch die Straßen der Stadt.
Am nächsten Tag standen vor der Kirche viele Schaulustige. Die Burgers waren stadtbekannt, beachtet wegen ihres Vermögens, den Gerüchten ausgesetzt, wann immer sie Gelegenheit boten. Die Hochzeit war eine solche Gelegenheit. Man kam, um die Parade abzunehmen.
"Der Schwiegersohn ist ein Habenichts.“ wurde getuschelt.
"Er studiert noch." wussten andere.
"Sie soll schwanger sein."
"Das werden wir ja sehen, ob sie heiraten müssen."
"Vielleicht sieht man es noch nicht!"
“Ich sehe so etwas!“ behauptete eine füllige Dame gegenüber einer ebenfalls fülligen Dame. Beide mit Hut über dem Kostüm, ein Unterarmtäschchen unter den Oberarm geklemmt, große Brillen mit modischen Gestellen auf der Nase, die die sich ausbreitende Faltenlandschaft großflächig verdeckten und nur die bewegte Mundpartie freiließen. Ich stand, mit mir selbst eine Gruppe bildend, neben den Damen.
“Ich sehe es an der Nase“, betonte die Wortführerin, "ob eine schwanger ist. Die Nase wird dann nämlich spitz.“
Gerade lobte ich im Stillen meine Einsamkeit, die mir Gelegenheit bot, schweigend zu beobachten, als die Welle der nichtssagenden Höflichkeiten auch mich erreichte. Vor dem Trauzeugen, einem guten Bekannten der zu früh verstorbenen Eltern, half es nichts, dass ich mich in den ungewohnten Nadelstreifen wie unter einer Tarnkappe fühlte. Meine allmählich gerundete Männlichkeit an der Schwelle der besten Jahre machte mich für viele zum Unbekannten, die nur den schmächtigen, verlegenen Jüngling aus der ersten Hälfte meines bisherigen Lebens kannten.
Herr Doktor von Meierbeer stieß plötzlich zu mir vor und begrüßte mich stimmgewaltig. Blicke trafen mich. Überdeutlich erreichte mich das Gezischel der neben mir ausharrenden Beobachterinnen: "Sehen Sie nur, er hat ein Loch im Strumpf! Zur Hochzeit ein Loch im Strumpf!“
"Dabei ist er der Trauzeuge." wusste die eine der vollschlanken Kaffeehaus-Freundinnen.
"Naja, die Frau ist ihm davongelaufen." ergänzte die andere.
"Und das schon vor Jahren." folgte sogleich gut informiert. "Komisch, dass er keine neue gefunden hat.“ wunderte sich die ansonsten Allwissende.
"Psst!“ wurde sie statt einer Entgegnung gemahnt.
"Dort kommt seine Mutter, die Rätin von Meierbeer".
„Sie muss mindestens 80 Jahre alt sein, die Rätin von Meierbeer.“
Genüsslich saugten sie Titel und Adelsprädikat in sich hinein und stießen sie wieder aus, obgleich - wie ich wusste - in diesem Land die Von- und Zu-Bezeichnungen per Gesetz abgeschafft worden waren. Vielleicht ließen sie sich gerade deswegen nicht ausmerzen.
Der Doktor begrüßte mich überschwänglich. Er erkundigte sich in einem einzigen Atemzug nach der Frau, den Kindern, dem Beruf und meinen Überlegungen, die Zukunft betreffend. Während ich noch unentschieden war, ob er meine persönliche Zukunft oder die der Menschheit meinte, und zögerte, welche Frage ich zuerst beantworten sollte, ließ er seinen wissenden Blick in die Runde schweifen, winkte einigen Bekannten mit lässiger Geste, und ich begriff, dass er an einer Antwort gar nicht interessiert war und eine ernsthafte als lästig und störend empfunden hätte.
Inzwischen traten die herbeigewinkten Personen zu uns und begannen mit dem Herrn Doktor ein Begrüßungszeremoniell, als sei man sich im vergangenen Jahrhundert das letzte Mal begegnet und nicht vorvorgestern auf der Geburtstagsfeier für die von allen hochverehrte Tante Grete - oder was auch immer der Anlass gewesen sein mochte, seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen nach- zukommen.
In der richtigen Annahme, dass ich die Leute nicht einsortieren konnte, wurden sie mir vorgestellt. Wie galant hätte ich agieren können, hätte ich als Kind nicht der Erwachsenenmacht getrotzt und ihrem Versuch widerstanden, mich zum Handkuss zu dressieren.
Nun stand ich stocksteif unter all den höflichen Menschen und murmelte als Antwort auf Namen und Titel nichts weiter als: "Anders".
Mein Name veranlasste zum allgemeinen Ah-Sagen, dem die Erkenntnis folgte: "Sie sind der Bruder."
Ich war der Bruder, und mein normales Jeans-Ich schwebte hämisch grinsend über mir und amüsierte sich auf meine Kosten. Die Umstehenden bemerkten nichts von diesem Zwiespalt, sondern lobten mit großem Ernst und Anstand mein bisheriges Wachstum und das damit verbundene Aussehen.
Aus Hilfslosigkeit reckte ich den Hals und spähte nach meinem Bruder. Der Bräutigam im Smoking mit einer weißen Nelke im Knopfloch, deren Stiel nach längerer Debatte brutal mit einer Sicherheitsnadel durchbohrt und befestigt worden war, hatte sich, als wir uns zu Fuß der Kirche näherten, die in der Fußgängerzone lag, sofort zu einer Kleinstdelegation von Kommilitonen begeben und harrte dort schutzsuchend aus. Meine Fürsorge lehnte er ab, da ich mich nicht in der Lage gezeigt hatte, seinen schnellen Sinneswandel hinsichtlich der Heirat nachzuvollziehen.
Die befreundete Dame, die sich als Vertretungsmutter für uns zuständig fühlte, beendete gerade ihre Pirsch durch die Menge und gesellte sich zu mir, ihre Aufregung kaum verbergend. Sie drängte sogleich darauf, in die Kirche zu gehen. Übrigens müsse der Bräutigam selbstverständlich vor der Braut hineingehen, weil er sie ja erst sehen dürfe, wenn sie von ihrem Vater vor den Altar geleitet werde.
Ruhig, aber wiederum viel zu laut widersprach Doktor von Meierbeer: "Wir stürmen nicht als erste in die Kirche, verehrteste Freundin. Immer gemach!“ Er war groß und gewichtig, und obgleich nur von der Statur her, gab er sich stets auch so.
Plötzlich ging ein Raunen durch die Menge. Die Braut war mit ihrer Familie eingetroffen. Alle sechs Burgers lächelten kopfnickend zur Masse hin. Ich weiß nicht, ob es mein Vorurteil war, oder ob ihnen ihr Geld beim Nicken tatsächlich etwas Huldvolles verlieh.
Der Zug formierte sich für den Kirchgang.
Ich bekam einen Stoß in die Rippen. Gleichzeitig stieß die Freundin Huberti die Worte aus: "Du musst gehen. Als Verwandter des Bräutigams gehörst du dazu. Geh nach vorn!“
Ich revanchierte mich auf der Stelle, indem ich ihr den Arm bot und drohend flüsterte: "Nicht ohne dich!"
Dann schritten wir in eine Situation, die mein unbeteiligtes Ich im Nachhinein zu mitleidsvoller Betrachtung von so viel Unwissenheit veranlasste. Der Zug bewegte sich auf den Altar zu. Auf zwei Stühlen, kurz vor der ersten Stufe, ließ sich das Brautpaar nieder. Zwei dahinter aufgestellte Stühle waren für die Trauzeugen bestimmt. Auf dem zur rechten nahm Diethart Meierbeer - so der Name verbürgerlicht – Platz, und wieder hörte ich es durch das feierliche Orgelspiel hindurch murmeln:
"O Gott, er hat ein Loch im Strumpf!“
Zu seiner Linken setzte sich, in schwarze Spitze gekleidet, die älteste der Burger-Töchter, Rotraut, die ich bis dahin erst einmal gesehen und die mich bis dato keines Blickes gewürdigt hatte.
Die Brauteltern und ihr Anhang waren - von mir aus gesehen - auf die Kirchenbänke linkerhand zugesteuert. Als ich mich schnellentschlossen ins Kirchengestühl rechts wenden wollte, spielte meine Begleiterin nicht mit. Sie zog mich weiter nach vorn. Wir landeten schließlich mehr schlecht und noch weniger recht - ich erröte gegen meinen Willen bei der Erinnerung - vor allen anderen auf einer viel zu schmalen, Bank ohne Lehne. Voller Pein erinnerte ich mich an die Ankündigung meines Bruders, das Zeremoniell werde gut eine Stunde dauern. Ich sandte in den ersten Minuten schon Beileidsbekundungen an meinen verlängerten Rücken. Danach konnte ich noch immer nicht der Predigt folgen, weil in mir eine Ahnung aufstieg, dass wir auf einer Gebetsbank saßen, auf dem schmalen Gestühl also, auf das der Betende die Bibel, das Gesangbuch oder die Hände legt, wenn er kniet.
Dieser Erkenntnisprozess wurde durch ein Röhren des Mikrophons unterbrochen, denn auch in dieses ehrwürdige Gotteshaus hatte die Technik mit all ihren Fehlerquellen Einzug gehalten, und der Priester las in rotbäckiger Ehrfurcht vor der hohen Familie und anderen Stadtgrößen seine Predigt mit Rückkopplung ins Mikrophon.
Mein Hinterteil zwang mich zu einem Entschluss. Ich flüsterte Hilde Huberti zu, dass wir beim ersten Wechsel von Priesterworten zu Gesang den Rückzug in die zweite Reihe antreten sollten. Mir erschien es zwar einigermaßen unpassend, dennoch stieg ich der Einfachheit halber über das Bänklein nach hinten. Die Tatsache, dass der Priester den Segen für das Brautpaar aus einem Buche ablas, wobei er ihn sogar unterbrechen musste, um umzublättern, wie auch die weitere Tatsache, dass das Brautpaar zeitgemäß sein Ja-Wort nicht hatte auswendig lernen müssen, sondern von einem von Priesterhand hilfreich vorgehaltenen Blatte ablesen durfte, entbanden mich zunehmend von dem Schamgefühl über mein unangemessenes Verhalten und von der Unsicherheit, die mir Kirchenpracht noch immer einflößt.
Ich erwies mich bei Christophs kirchlicher Trauung als vollkommen unfähig, in mir ein feierliches Gefühl zu erzeugen. Zu sehr störten mich die technischen Pannen, zu unangebracht fand ich die Worte, die gesprochen wurden.
Ich konnte den Gedanken nicht unterdrücken, dass ich mich während der bevorstehenden Festivität damit beschäftigen müsste, die harte Schale von Evelines Schwester Rotraut zu durchbrechen, höhere Angestellte im väterlichen Betrieb, unverheiratet mit 32 Jahren und von der Stadt zur alten Jungfer gestempelt.
Vor der Kirche überschlugen sich dann Ausbrüche hochgradiger Bewunderung. Der kleine unbeholfene Priester wurde wortreich gelobt und die Schönheit sowohl des kirchlichen Aktes als auch des Paares laut gepriesen. Alles lächelte, denn man wurde fotografiert. Von nicht wenigen wurde es als spezielles Verdienst der Braut oder ihres Vaters angesehen, dass just in diesem Augenblick die Sonne durch die Wolken brach und der Szenerie den Anschein strahlender Harmonie gab.
"Ein herrliches Bild“ jubelten Kirchgänger und Schaulustige. "Ein glückliches Paar" sagten viele, die es besser wussten.
Hoch und heilig bei meiner Ehre und allen guten Geistern hatte ich mir geschworen, die Rolle eines unbeteiligten Beobachters beizubehalten. Dass mir das nicht geglückt war, begriff ich, als ich in den frühen Morgenstunden des Sonntags eine Viertelstunde lang unter der Dusche stand und heißes Wasser auf meine Haut prickeln ließ in dem dringenden Bedürfnis, mich von dem verlogenen Schleim zu reinigen, der sich meinem Gefühl nach stundenlang über mich ergossen hatte.
Obwohl es drei Uhr nachts war, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, die sauber- und daheimgebliebene Elke ans Telefon zu holen. Ich ließ den Apparat dreizehnmal klingeln und wollte schon wütend werden, als sich endlich die vertraute, wenn auch vor Gähnen und Müdigkeit heiser klingende Stimme meldete.
"Es war schrecklich." stöhnte ich. "Schlimmer als in deinen schlimmsten Träumen."
"Was weißt du denn von meinen Träumen?" entgegnete meine Frau. "Sag mir etwas Liebes!“ flehte ich.
"Ich bin viel zu müde." sagte sie. "Ich habe zu lange in die Röhre gestiert, um meine Sehnsucht nach dir zu betäuben."
Gerade wollte ich mich über diese Liebe begeistern, als sie fortfuhr: "Wie du weißt, sind die Kinder an einem verregneten Wochenende wie diesem unerträglich. Da sehnt sich der Mensch einfach nach einer Wachablösung. Dabei fällt mir ein," gähnte sie, "dass ich den Sonntag im Regen noch vor mir habe und nicht den ganzen Vormittag schlafen kann wie du.“
Ich fühlte mich zutiefst missverstanden, überwand mich aber zu einer Verabschiedung per Kuss durch das neutrale Telefon. Dann ging ich seufzend zu Bett. Die sanften Schaukelbewegungen, die ich verspürte, rührten sicherlich nicht von der Matratze, sondern von meinem Zustand her. In einem Anfall von Ehrlichkeit machte ich mir klar, dass ich Elke aus purem Egoismus geweckt hatte. Ich wollte sehen, ob wenigstens in meinem Heim die Welt noch in Ordnung war. Ich selbst hatte guten Grund zu einem schlechten Gewissen, waren doch die im Verlaufe des Abends und der Nacht von mir gestarteten Annäherungsversuche nicht meinetwegen unschuldig ausgegangen.
Die Burger-Familie hatte sich die Ehre gegeben, etwa hundert Bürger der Stadt und ihrer Umgebung zu einem Empfang zu bitten. "U.A.w.g." stand unter der Einladung.
Immerhin erkannte ich auf Anhieb, was sich hinter den Buchstabencode verbarg, und kam der Bitte um Antwort nicht nach. Das Stadtereignis fand in dem Ableger einer internationalen Hotelkette statt, der erst unlängst seine Pforten geöffnet hatte und an dessen Errichtung der Chef der Burger-Werke nicht unbeteiligt war, wie man mir im Folgenden so oft vertraulich mitteilte, dass ich es glauben musste.
Die Familie, reduziert um eine ihrer Töchter, nach der sich die Gäste den Empfang lang untereinander, aber nie bei den Gastgebern selbst erkundigten, und mein Bruder hatten sich am Eingang des Saales aufgebaut. Übrigens scheint es das einzige Mal gewesen zu sein, dass Christoph sich sozusagen im Familienkreis aufhalten durfte.
Es ging zu wie auf einem Neujahrsempfang. Hätten die Gäste diese Einschätzung meinerseits geahnt, wären viele aus Unkenntnis stolz gewesen. Ich kann einen Neujahrsempfang beurteilen, denn ich habe einmal von berufswegen an einem solchen Zeremoniell auf Regierungsebene teilgenommen. Der zuständige Kollege wie auch sein Vertreter und dessen Vertreter samt dem Stellvertreter waren ausgefallen, so dass ich in meiner Funktion als Vertreter des Letzteren ausgesandt wurde. Man begeisterte sich, einander zu sehen, wünschte sich das Beste vom Besten in wohlgesetzten Worten und teilte einander mit, wie angenehm diese Begegnung sei.
Ich staunte, dass die Wangen des jungen Paares noch keine konkaven Einbuchtungen aufwiesen, obwohl jeder seine Vertrautheit durch einen Wangenkuss demonstrierte. Man denke: Hundert Küsse und mehr!
Dann stand oder wandelte man, hielt sich am Sektglas fest, heuchelte intensive Aufmerksamkeit für die anderen und drängte sich dennoch unaufhaltsam zu den Leckerbissen am Kalten Buffet vor, denn kaum einer hatte zu Mittag gegessen, da man nach der kirchlichen Trauung um zwei Uhr nachmittags auf angemessene Verpflegung zu hoffen wagte. Vergeblich mühten sich viele, mit dem Glas in der einen und dem Teller in der anderen Hand, in Ermangelung einer dritten eine der Gaumenfreuden zum Munde zu führen. Gegenseitig versicherte man sich, wie großartig alles angerichtet sei. Über Burgers ergoss sich Lob ohne Ende, als wüsste nicht jeder, dass die Hotelküche gearbeitet und der Chef der Burger-Werke nur in die pralle Börse gegriffen hatte.
Es gab zwei Arten von Gesprächen. Dies wage ich zu behaupten, da mir die Freundlichkeit Hilde Hubertis Einblicke gewährte, an denen ich nie interessiert gewesen war. Die Unterhaltung derer, die sich stadtweit bei den standesgemäßen Festlichkeiten begegneten, beschränkte sich weitestgehend darauf, die jeweils nicht zur Gesprächsrunde gehörenden Personen - je nachdem wie intim man miteinander war - genau unter die Lupe zu nehmen.
Die andere Gesprächsform erlebte ich an mir persönlich als Nicht-dazu-Gehörender. Dabei war die alles entscheidende Frage, ob sich gemeinsame Bekannte herausfiltern ließen. Von einer Dame, die der fülligen Kostümträgerin vor der Kirche zum Verwechseln ähnelte, erfuhr ich, dass sie gemeinsam mit der Cousine meiner Mutter – oder war es eine Großcousine? – den Schulweg und die Angst vor einem äußerst bösartigen Hund geteilt habe, dessen Hängeohren eine deutliche Sprache gegen seine angebliche Reinrassigkeit gesprochen hätten. Ein Bauchträger, der mir Gedanken über die Notwendigkeit einer Diät aufdrängte, wusste ausführlich darüber zu plaudern, dass die Schwester seiner Mutter bei der Schwester meiner Urgroßmutter, Flötenunterricht gehabt habe und bis heute von deren Talenten schwärme.
Als ein kleiner Mann im Smoking in gekonnten Wortgebilden über die Stattlichkeit der Erscheinung meines Vaters zu schwelgen begann, obwohl ich doch bestens darüber Bescheid wusste, dass mein Vater keinen Zentimeter größer gewesen war als der kleine Herr und stets und ständig durch überlautes Sprechen auf sich aufmerksam machte, war ich in großer Versuchung, offen und ehrlich zu äußern, was ich gerade dachte. Doch ich besann mich, wenn auch nicht eines Besseren, so doch des Klügeren. Meine Frau Elke hatte mir vor der Abreise erklärt, ich dürfe die ohnehin schwache Position meines Bruders nicht durch ungebührliches Verhalten untergraben.
Also wandte ich mich zum zweiten Male dem Buffet zu und füllte mir - wenigstens in dem Punkt meinen Gelüsten nachgebend - einen Teller ausschließlich mit Leckerbissen, die ich mir nicht oft leistete. Ich suchte mir ungeniert ein Eckchen bei einer, wenn auch schmalen Fensterbank, auf der ich das Glas abstellte, um möglichst ungestört zu essen.
Christoph, der die ihm heute zugedachte Position verantwortungsbewusst, gewissenhaft, fleißig und für mich stark befremdlich ausfüllte, entdeckte mich beim vorletzten Bissen und sagte mir vorwurfsvoll, dass ich das nicht machen könne.
Ich versuchte, nicht zu erfahren, was ich nicht machen könne, sondern kaute weiter. So erklärte er mir von sich aus, dass es an der Zeit sei, sich der Burger-Familie zu stellen. Er formulierte das irgendwie anders, und ich erklärte friedlich mit nunmehr leerem Mund, dass ich bereit sei.
"Aber ohne dich!“ forderte ich. Er sah mich mit dem gestrengen Blick eines Lehrers an, der daran zweifelt, ob der Schüler die gelernte Lektion auch unter Stress noch werde herbeten können. Der Einfachheit halber und um der dramatischen Steigerung willen - immerhin hatte ich ein paar Semester Theaterwissenschaften studiert - schenkte ich zunächst der jüngsten Burger-Tochter meine Aufmerksamkeit.
Das Nesthäkchen Anna-Luise zählte - wie ich wusste – 15 Lenze. Es fühlte sich augenscheinlich im Abendkleid unwohl und zeigte kindlich gerötete Pausbacken. Wie recht hatte Elke daran getan, mit den Kindern zu Hause zu bleiben. Anna-Luise stand in ihrem Pubertätsspeck vor mir und hätte jede Geschichte über schlecht funktionierende Drüsen durch den Kuchenteller Lügen gestraft, den sie in ihrer Hand hielt. Sie hatte zugegriffen, wie es sich die hemmungslose Jugend gelegentlich erlaubt, wenn kein neidvoller Erwachsener Zeit zu Zurechtweisungen hat. Ich sagte geistreich: "Na, schmeckt‘s?" Sie nickte mit vollem Mund und sah sehr gestört aus.
Ich fuhr fort: "Ich heiße Anders, aber nicht, dass Sie denken, ich hieße nicht so, sondern anders, ich heiße nämlich wirklich nicht anders als Anders." Ich lachte – zugegebenermaßen unecht – über meinen Uraltwitz und sah dem erschreckten Ausdruck ihres Gesichts an, wie oft sie vor Leuten wie mir gewarnt worden war. Gnadenlos fuhr ich fort: "Ich bin der Bruder von Christoph. Wir haben uns gestern kurz in Eurem Eispalast gesehen." Sie sah mich fragend an, aber ich klärte sie nicht darüber auf, dass ich damit die Stimmung nach der standesamtlichen Trauung meinte, sondern fragte locker plaudernd, meines Bruders Wunsch eingedenk: "Was macht die Schule?“ Dabei kam ich mir vor wie ein Schauspieler, der genau weiß, dass er gerade bei der Premiere durchfällt.
In diesem Augenblick stieß Mutter Burger, mit Vornamen Dorothea geheißen, zu uns. Das nun folgende Gespräch begann mit meiner zehnstündigen Autofahrt, von der jede einzelne Stunde mindestens eines Satzes würdig war. Dann erfolgte gemäß der von mir geschilderten zweiten Gesprächsart die Suche nach der Gemeinsamkeit, die in der Entdeckung bestand, dass die Burger Familie väterlicherseits eine Tante besaß, die zwar leider nicht zur Hochzeit anreisen konnte, dafür aber in derselben Stadt wohnte, in der auch ich lebte. Die Bemerkung, dass außer mir dort noch gut zwei Millionen Menschen zugange seien, unterdrückte ich. Ob sich dadurch der Kloß in meinem Hals bildete oder ob er entstand, weil nun auch noch der Chef der Burger-Werke nähertrat, weiß ich nicht mehr.
Ich fand keine Zeit, Ursachenforschung zu betreiben, denn der Gesprächsgegenstand Tante wuchs sich aus, wuchs über Familienumkreis und Heirat, selbstverständlich gutsituiert, bis zur Geburt eines wohlgeratenen Sohnes, wuchs, bis sich diese mir unbekannte Tante vor meinem inneren Auge ins Unermessliche entwickelte, genauso weißlich, dicklich, blässlich wie ihr Bruder. Ich atmete tief durch und empfand sekundenlang, wie diese Frau den Himmel über meiner Geburtsstadt verdunkelte.
"So was Blödes!“ murmelte ich gegen diese Empfindung an und verspürte plötzlich zum zweiten Male an diesem Tag den Ellenbogen der Hilde Huberti in meiner Seite. Sie hatte dicht neben mir Aufstellung genommen und wurde auf diese Weise auch vom Ehre und Anerkennung spendenden Schatten des Herrn der Burger-Werke, Spinnmaschinen in alle Welt, getroffen.
Noch nie hatte ich Meierbeer so gemocht wie in dem Augenblick, als er zu uns trat. Wieder glaubte ich das Gezischel vom Loch im Strumpf zu hören. Aber das musste Einbildung sein, denn Meierbeer dröhnte sofort los, wie gelungen er die Feier finde.
Da gab ich meiner Sehnsucht nach einem gewissen Örtchen nach, um wenigstens die Blase zu entleeren, wenn ich schon meine Gedanken bei mir behalten musste.
Am Orte meines Strebens stand ein jugendlicher Mensch neben mir. Nachdem ich mich vorgestellt hatte, bemerkte ich ungehemmt, wie erstaunt ich über die Anwesenheit eines Bürgers unter Dreißig in dieser Gesellschaft sei.
"Ein paar richtige Freunde hat Ihr Bruder eben doch!“ behauptete er und stellte sich als Klaus Jüngling vor.
"Konnten Sie ihn denn gar nicht ein bisschen beeinflussen?" fragte ich. “Oder findet die Angelegenheit Ihre Unterstützung?“
Er verneinte, meinte aber, Christoph sei auf dem Ohr absolut taub gewesen. "Sicher ein verhältnisbedingter Hörsturz!" meinte er. Wieso, wisse er nicht, könne jedoch nicht an die große Liebe der beiden glauben. "Der erste Mensch, der ähnlich denkt!“ freute ich mich.
"Ich muss mich um meine Freundin und die Freundin meiner Freundin kümmern. Kommen Sie doch mit!“ sagte Jüngling, und ich folge ihm hoffnungsvoll.
Was ich erblickte, ließ mein Herz höherschlagen. Die beiden Mädchen waren mir auf Anhieb sympathisch, so dass ich mir sogleich ebenso jugendlich vorkam. Die Jüngling-Freundin hatte zweizentimeterlange blonde Streichholzhaare und trug ein freches rotes Kleid, bei dessen Anblick ich meiner Beobachtungsgabe misstraute, weil sie mir bisher noch nicht aufgefallen war.
Die Freundin der Freundin hielt stolz künstlich produzierte Negerkrause in Rot über ihrem fein geschwungenen Hälschen und ließ ein olivgrünes Flattergewand bei jeder Bewegung wallen. Nach den letzten beiden Tagen hätte ich es nicht mehr für möglich gehalten, dass es hier so etwas gab.
"Gottseidank!“ sagte ich zur Begrüßung und erklärte anschließend: "Ich bin der Bruder."
Die Rothaarige sprudelte in dem Tempo los, wie es Locken und Stupsnase vermuten ließen: "Ich bin schwarz hier! Aber ich wollte so eine Superhochzeit unbedingt einmal aus nächster Nähe erleben." "Um davon für alle Zeit geheilt zu sein“ vermutete ich.
"Klaus hat mich hineingeschmuggelt" fuhr sie fort. "Ich hatte nämlich keine Einladung, obwohl ich Christoph früher mal gut gekannt habe.“
„Als Baby?" gab ich den Charmeur.
"Nein, in den ersten beiden Semestern." antwortete sie.
Ich vermeinte, eine leichte Bitterkeit in ihrer-Stimme festzustellen, als sie hinzufügte: "Aber dann hat er sich ja Besserem zugewandt."
"So" sagte ich und registrierte zufrieden, dass uns Klaus Jüngling und Freundin verließen. Ich schaffte Sekt herbei und intensivierte meine Forschungen über die Rothaarige an sich und ihr gemeinsames Studium mit meinem Bruder. Dabei entdeckten wir so viele Gemeinsamkeiten, dass ich mich unbedingt mit ihr verabreden wollte. Schließlich braucht der Mensch verständnisvolle Freunde und besonders nach schweren Stunden einen Hauch von Harmonie.
Als sich der Empfang auflöste und nur zurückbleiben durfte, wer für diesen Abend zum engsten Familienkreis gerechnet wurde, musste ich mich von meiner Entdeckung, Sissy gerufen, trennen. Ich bat sie inständig, in knapp drei Stunden irgendwo meiner zu harren.
Klaus Jüngling und Freundin, die sich wieder zu uns gesellt hatten, nahmen Sissy die Antwort ab, indem sie mir den Namen von ihrer Stamm-Pizzeria, "La Stalla", nannten.
Ich versprach, dass ich nach absolvierter Pflichtübung in diesen Stall eilen würde. Der Ellbogenstoß in meine Seite, der an diesem Tage anscheinend zur Gewohnheit wurde, kam diesmal von Bruder Christoph, der seinen Kommilitonen zunickte und mir zuflüsterte, wir hätten uns zu Tisch zu begeben.
Was jetzt folgte, wäre wenigstens als Gaumenfreude in meine Erinnerung eingegangen, hätte ich nicht bereits zuvor dem Kalten Buffet reichlich zugesprochen auf der Suche nach sinnvoller Betätigung. Das dienstfertige Hotelpersonal hatte in einem mittleren Tagungsraum eine Tafel gerichtet, die uns in gebührender Entfernung voneinander Plätze an den Längsseiten zuwies. Bevor wir uns niederließen, wurde Frau Dorothea Burger intensiv gelobt, da sie die Tischkarten immerhin eigenhändig geschrieben hatte.
Das Verhältnis der Geladenen stand acht zu vier für die Burgers. Außer Christoph waren von unserer Seite nur noch Hilde Huberti, Diethart Meierbeer und ich zugelassen. Mir fielen die Ehre und der Platz als Tischherr von Rotraut, der ältesten Schwester, zu.
Es ist auffällig, dass in meinem bisherigen Bericht über den Hochzeitsempfang die Braut Eveline mit keinem Extra-Satz erwähnt wurde. Doch auch wenn ich gerechtigkeitshalber tief in meiner Erinnerung krame, fällt mir nichts Denkwürdiges ein. Eveline sah hübsch aus und verhielt sich demgemäß. Im weißen Festkleid wirkte sie trotz des vorhandenen Umstandes schlank und zart. Die geröteten Wangen harmonierten mit den braunen Locken. Der große volle Mund sah weich, sinnlich, aber überdimensioniert aus. Trotz allen Zierrats erschien sie als ein Neutrum. Sie hatte keine Ausstrahlung, mir schien es vielmehr, als sei ihre Persönlichkeit völlig hinter der perfekt ausgeführten Pflichtübung verschwunden, eine Braut darzustellen. Versuche ich jetzt, sie mir vorzustellen, erinnere ich mich an nichts als ein Lächeln für imaginäre Fotografen.
Während der folgenden neunzig Minuten bestand das Tischgespräch aus einer Dauerschleife zum Lob des Essens, was, genauer betrachtet, Werbung für die Hotelküche bedeutete. Mit freundlichen Worten als Frucht gründlichen Nachdenkens beim Kauen bemühte ich mich um meine Nachbarin, aber die vom Hotelmanager eingespielte Musik erschwerte es, die beträchtlichen räumlichen Entfernungen zu überbrücken. Zudem war Rotraut die Ablehnung in Person. Sie strahlte so viel Kälte aus, dass mich dieses Verhalten schon wieder reizte. Mein Interesse wuchs, den Eisblock aufzutauen. So bewunderte ich zunächst einmal alles an Burgers Ältester, was sich irgend bewundern ließ, vom Kleid über die Frisur bis zum souveränen Auftreten. Aber ihre Reaktion auf jeden neuerlichen Anlauf meinerseits erweckte Frustrationen, denn sie war gleich Null.
Wüsste ich nicht längst, dass ich Manns genug bin im Leben so ganz allgemein, hätte ich Komplexe bekommen können.
So gab ich meine Mühen noch vor dem Dessert auf und hüllte mich in Schweigen, nicht ohne mit meiner inneren Stimme zu schwören, dass ich diese harte Nuss knacken wollte. Irgendwann jedenfalls. Wie, wusste ich noch nicht.
Zum Ausgleich für das Misserfolgserlebnis ließ ich meine Gedanken zur Pizzeria wandern. Ich stellte mir vor, dort von einer niedlichen, frischen olivgrünen Rothaarigen sehnsüchtig erwartet zu werden. Und so oder so ähnlich war es dann auch.
Sissy war freundlich, zutraulich, vor allem aber begierig, von dem Drum und Dran des Festessens zu hören, das ich nach besten Kräften und zum Frustabbau verspottete. Von Sehnsucht konnte allerdings keine Rede sein. Letzteres übersah ich jedoch geflissentlich. Zu soviel Realitätssinn war ich nicht in der Lage, wie ich mir im Nachhinein eingestehen muss.
Unser gemeinsames Gelächter ließ das Gefühl aufkommen, als kennten wir uns schon lange. Ob es dieses Gefühl war oder meine Weinseligkeit, jedenfalls bedrängte ich das junge Geschöpf, es nach Hause bringen zu dürfen. Ich tat das in einer Weise, die ich lange nicht mehr praktiziert hatte und die mich wohlig an meine Studentenzeit erinnerte. Elisabeth sagte für einen Kaffee zu. Mein Benehmen würde vermutlich von feministischer Position aus als typisch für mein Geschlecht eingestuft werden. Kaum hatten wir uns am Schlafzimmer der Wirtin vorbei auf Sissys Zimmer geschlichen und die Tür hinter uns zugezogen, spielte ich Filmszene, indem ich sie umarmte, an mich presste und küsste, lang und inbrünstig. Ich spürte wie meine Nadelstreifenhose eng wurde und fühlte durch das wallende Gewand Sissys Oberschenkel, ihren sich kaum wölbenden Bauch, ja mehr noch, ich spürte Hingebung und Begierde.
Gekonnt stieß ich während des Kusses das wärmende Tuch von ihren Schultern und führte sie sicher Schritt für Schritt rückwärts zu ihrer Couch. Ich drückte sie sanft darauf nieder, sie noch immer küssend, ihren Rücken streichelnd und den Reißverschluss suchend. Kaum hatte ich ihn gefunden und ohne nennenswerten Widerstand geöffnet, legte ich sie auf die Couch, beugte mich, auf dem Boden knieend, über sie und begann, ihren Hals und ihr wie bei allen Rothaarigen weiß-zartes Dekolletee, die kleinen festen Brüste mit meinen Händen fassend, zu küssen und an ihren Ohrläppchen zu saugen. Sie ließ sich alles gefallen, was ich so notwendig brauchte. Auch wenn sie nicht aktiv wurde, so war ich doch ihrer Zustimmung sicher- Wir sprachen nichts. Ich hatte wahrlich ausreichend Gespräche hinter mir und begehrte zu handeln.
Ich weiß nicht, wie und wodurch es geschah, aber plötzlich drückte sie mich sanft, aber energisch von sich weg und sagte freundlich-sachlich: "Tut mir leid, ich habe meine Tage."