Читать книгу Die Egomanin - Hannelore Wulff - Страница 13
Recherche
ОглавлениеAnnette hatte es sich einfacher vorgestellt, nach dem Kind von Ella zu forschen. Sie hatte bei ihren Recherchen dort angefangen, wo Ella aufgehört hatte, im Krankenhaus. Telefonisch ging da gar nichts. Also machte sie sich auf und fuhr mit der Straßenbahn bis zur anderen Seite der Alster zum Allgemeinen Krankenhaus St. Georg. Absichtlich wählte sie die Zeit für Besucher und kam so ohne angehalten zu werden am Pförtner vorbei. Obwohl alles ausgeschildert war, war es nicht einfach auf dem riesigen Gelände die Entbindungsstation zu finden, zumal im Laufe der Jahre sich vieles verändert hatte. Nach etlichen Fragen von einem barackenähnlichen Bau zum anderen laufend, zeigte man auf ein großes, altes Backsteingebäude, in dem die Entbindungsstation untergebracht war. Und nach vielem hin und her, rauf und runter, der Fahrstuhl war kaputt, befand sie sich in einem büroähnlichen Raum, in dem weit und breit niemand zu sehen war. Und gerade als sie sich vor dem Zimmer auf einen Stuhl setzen wollte, wurde sie von einer um die Ecke kommenden Krankenschwester angesprochen. „Kann ich Ihnen helfen? Sind Sie Besucherin?“ „Nein, ich möchte nur eine Auskunft; aber vielleicht könnten Sie mir dabei behilflich sein?“ „Zwar bin ich nur die Vertretung der Oberschwester, aber wenn Sie mir sagen, worum es geht . . .?“ Annette nestelte an ihrer Handtasche und war sich durchaus nicht schlüssig, ob sie sich dieser Krankenschwester in ihrer Angelegenheit anvertrauen sollte, die ja auch nur in Vertretung hier arbeitete. Aber irgendwo musste sie ja anfangen, also gab sie sich einen Ruck und sagte: „Es handelt sich um eine Entbindung im Jahre 1946.“ Die Schwester begab sich in die als Büro eingerichtete Abseite und legte ihre Unterlagen ab. „Das ist lange her; haben Sie selbst damals entbunden?“ Die Art und die Stimme dieser Schwester klangen so vertraulich, dass Annette ihre anfänglichen Bedenken fallen ließ und außerdem wäre ja auch noch nichts Konkretes preisgegeben, also erwiderte sie entrüstet: „Um Gottes willen, nein, ich habe keine Kinder; aber eine Bekannte von mir hat mich beauftragt, nachzuforschen, ob . . .?“ Die Schwester ließ sie gar nicht erst ausreden und sprach in einem nicht mehr so liebenswürdigen Ton: „Gute Frau, nicht nur ich, sondern auch die Verwaltung wird Ihnen keine Angaben diesbezüglich machen können. Grundsätzlich ist es dem gesamten Klinikum untersagt über Entbindungen beziehungsweise Geburten Auskunft zu geben.“
Für Annette war das, was sie soeben zu hören bekam, von vornherein klar. Niemand, weder bei den Behörden noch in Waisenhäusern und schon gar nicht in Krankenhäusern würde sie auch nur annähernd Auskunft erhalten über eine, man kann schon sagen: Kindesaussetzung, die 16 Jahre zurückliegt. Im Gegenteil. Es könnte sogar möglich sein, dass der Schuss nach hinten losgeht, falls sie zum Beispiel beim Jugendamt auf jemanden stößt, der sich noch erinnern kann. Aber gab es 1946 überhaupt schon ein Jugendamt? Was hat Ella sich dabei gedacht, sie loszuschicken um nachzuforschen? Sie hat sich strafbar gemacht, das steht nun mal fest. Das weiß sie auch. Deshalb hat sie all die Jahre nichts unternommen. Aber warum auf einmal jetzt? Und dann noch anonym? Weil sie feige ist. Weil sie einen Jungen haben möchte, den andere bereits erzogen haben und der ihr später zum Vorteil sein könnte. Immer dasselbe bei Ella Bolle. Menschen, mit denen sie Umgang hat, müssen von Nutzen sein. Annette nahm die Straßenbahn, um zurück in die Willistraße zu kommen.