Читать книгу Die Egomanin - Hannelore Wulff - Страница 4
Auch sie war nicht unsterblich
ОглавлениеEs war noch sehr früh an diesem Sonntagmorgen. Der wolkenlose Himmel versprach einen noch heißeren Tag, als der gestrige es war. Hans Hausschild, nur mit einem leichten T-Shirt und Shorts bekleidet, stand auf seinem Balkon und schaute in den unter ihm gelegenen Garten, der ihm zwar gehörte, doch zu dem er keinen Zutritt hatte. Und jedes Mal – nun schon seit Jahren – wenn er dieses schöne, leider so verwahrloste Fleckchen Erde sah, überkam ihm eine grenzenlose Wut. Der nach Wasser schreiende Rasen müsste gemäht, die Sträucher und Bäume beschnitten werden. Aber Madame, zu deren Mietvertrag der Garten gehörte, ließ alles verkommen, und er war machtlos. Gerne hätte er heute am Sonntag etwas länger geschlafen, doch das unaufhörliche Gebell eines Hundes ließ es nicht zu. Er schaute nach allen Richtungen, um zu erkunden, woher das Gekläff kam, doch nirgendwo war ein Hund zu erblicken. Seine Frau, die inzwischen auch aufgewacht war, richtete sich auf und rief: „Mein Gott noch mal, kann man denn hier nicht einmal in Ruhe ausschlafen? Muss man dabei immer die Fenster geschlossen halten? Hans, das geht zu weit. Du musst mit dieser Frau endlich Tacheles reden. Die kann doch nicht immer nur machen, was sie will.“
Ohne zu antworten bückte sich der Mann über das Geländer seines Balkons und sah, dass die Terrassentür der unteren Wohnung geöffnet war und der kleine Yorkshire zwischen der Tür und Terrasse bellend hin und her lief. „Ich werde gleich mal runter gehen und sehen, was los ist, irgendwas stimmt da nicht“, sagte er zu seiner Frau, zog sich provisorisch eine Hose an und schlüpfte in seine Sandalen.
„Meinst du nicht auch, dass es sich nicht lohnt? Von der kriegst du ja doch nur eine Abfuhr, die wird dir wieder die Tür vor der Nase zuschlagen“, sagte die Frau und stand ärgerlich auf. Ihr Mann hörte erst gar nicht hin. Er war bereits im Treppenhaus, ging die Stufen runter und klingelte an der Tür der unteren Wohnung. Es rührte sich nichts. Er klingelte noch mal, diesmal Sturm. Wieder nichts, alles still, nur der Hund war bis zu der Wohnungstür gekommen und kratzte jaulend dagegen. Der Mann zögerte nicht lange, sondern schloss die Haustür auf und ging die Stufen zum hinteren Garten runter. Er ging über den Rasen, die kleine Treppe hoch auf die Terrasse und stand unmittelbar vor der offenstehenden Tür zum Schlafzimmer seiner Mieterin. „Hallo“, rief er, „hallo Frau Bolle, sind Sie okay?“ Nichts rührte sich, nur der Hund lief winselnd um ihn herum. Er versuchte, sich bemerkbar zu machen und wäre beinahe über einen Kleiderständer gestolpert, als er die Frau regungslos im Bett liegen sah. Er stand wie versteinert in unmittelbarer Nähe des Bettes und wusste, dass vor ihm eine Tote lag. Er zögerte nicht lange, drehte sich um und lief so schnell er konnte zurück um die Ecke ins Treppenhaus zu seiner Wohnung. Die Tür stand offen, seine Frau befand sich im Bad, als er tief Luft holte, in sein Arbeitszimmer ging, nach dem Telefon griff und 110 wählte.
„Hier spricht Hans Hausschild aus der Abteistraße. Bitte kommen Sie schnell. Ich habe meine Mieterin tot aufgefunden. Ich erwarte Sie vor der Hausnummer 28.“
Inzwischen war seine Frau aus dem Bad gekommen. Sie stand im Morgenmantel an der Tür gelehnt und starrte ihren Mann ungläubig an. Er war zuerst sprachlos. Dann stand er abrupt auf, ging auf sie zu, umarmte sie und sagte: „Ja, du hast richtig gehört. Sie ist tot. Endlich.“ Dann ging er ins Bad, putzte sich die Zähne, holte ein Hemd aus dem Schrank, zog es über und merkte erst jetzt, dass der Hund die ganze Zeit hinter ihm herlief.
Seine Frau benahm sich, wie ein aufgescheuchtes Reh. Sie lief, ohne zu wissen, was sie eigentlich wollte, in der Wohnung hin und her, bis ihr Mann etwas ungehalten sagte:
„Nun zieh dir etwas über, die Polizei wird gleich hier sein.“ Und schon hörte man von weitem die Sirenen der herankommenden Polizeifahrzeuge.
Die Straße wurde nicht nur vom Bereitschaftsdienst der Polizei sondern auch noch von Einsatzwagen der Feuerwehr umstellt. Eine Notarzt-Ambulanz tauchte auch noch auf und verschaffte sich einen Weg auf dem Bürgersteig. Hans Hausschild fasste sich an den Kopf und sagte zu seiner Frau, die nun doch neugierig mit dem zitternden Hund auf den Arm mit runter kam: „Kannst du mir das erklären, was dieser ganze Aufwand soll? Ich habe doch nur die Polizei gerufen?“ Er öffnete die Haustür, blieb auf der obersten Stufe der Treppe stehen und wartete auf die sich nähernden Beamten. Außer den beiden uniformierten von der Bereitschaft kamen ihm zwei Herren in Zivil entgegen:
„Ich bin Kommissar Berger von der Kriminalpolizei“, sagte der Ältere von beiden und zückte seinen Ausweis. Der hinter ihm stehende jüngere zeigte ebenfalls seinen Ausweis und fügte hinzu: „Und mein Name ist Pfeiffer, Kriminalassistent vom Kommissariat Wiesendamm, PK 33, und wer sind Sie?“
„Mein Name ist Hans Hausschild“, und mit der Hand hinter sich zeigend „und das ist meine Frau Gerda. Wir sind die Besitzer dieses Hauses. Die Tote, Frau Bolle, ist, eh, war meine Mieterin der Wohnung im Hochparterre. Aber, ich weiß nicht, was es soll. Die Dame ist gestorben, sie war bereits über neunzig Jahre alt. Ich glaube nicht, dass die Kriminalpolizei dafür zuständig ist? Nun gut, folgen Sie mir bitte, wir müssen durch den Garten gehen.“
Inzwischen war auch der Notarzt mit seinen Helfern angekommen, die eine Trage mit sich führten. Sie folgten Hans Hausschild die Treppe zum Garten runter, über den Rasen zur Terrasse hoch, durch die offene Tür und standen unmittelbar im Schlafzimmer der Toten. Der Arzt war der erste, der eintrat und sich der Toten annahm. Routinegemäß fühlte er ihren Puls, leuchtete in die Augen, besah oberflächlich ihre Arme und Hände und sprach zu Kommissar Berger gewandt:
„Tja, meines Erachtens ist die Dame ermordet worden. Vermutlich erstickt“, und er zeigte auf das auf dem Boden liegende Kissen, „sie hat sich mit letzter Kraft noch gewehrt, wurde aber festgehalten, man kann die Abdrücke an ihren Schultern und Armen noch erkennen. Der Täter muss Handschuhe getragen haben. Der Tod ist so wie ich es sehe vor zirka drei Stunden eingetreten. Die genaue Zeit sowie Ursache erhalten Sie per Bericht.“
„Also sind wir doch zuständig“, äußerte sich Kommissar Berger, dabei blickte er Hans Hausschild und seine Frau herausfordernd an. „Ich möchte Sie bitten, sich für ein vorläufiges Verhör bereitzuhalten. Ach ja, was ich vorerst wissen muss? Haben Sie beim Auffinden der Toten irgendetwas berührt? Sind Sie hier im Zimmer gewesen? Ans Bett gegangen?“ Und ehe Hausschild antworten konnte, wandte er sich an die Beamten der Bereitschaftspolizei und orderte: „Nehmen Sie bitte mit dem Revier Kontakt auf und sorgen dafür, dass alles weitere in die Wege geleitet wird. Spurensicherung, und so weiter!“ Und zum Notarzt gerichtet, sagte er: „Doktor, sorgen Sie bitte dafür, dass die Tote zur Untersuchung in die Pathologie nach Eppendorf des Gerichtsmedizinischen Instituts gebracht wird.“
Unterdessen hatte sich Pfeiffer in der Wohnung umgesehen. Gerda Hausschild folgte ihm neugierig und betrachtete die mit Nippes, Kunstblumen und anderen Kinkerlitzchen ausgestattete Behausung. Bisher hatte sie nie Gelegenheit gehabt, sich in dieser Etage umzusehen und war über so viel Geschmacklosigkeit erschrocken. Die Wohnung war total zugemüllt. In einer Ecke stapelten sich meterhohe Berge von alten Zeitschriften und Katalogen. Die Chintz-Sofa-Ecke mochte vielleicht einmal schön gewesen sein, jetzt jedoch waren über die kaputten und schmutzigen Stellen ausgefranste Deckchen gelegt. Von der abgetretenen Auslegeware, auf der mit Hundekot und Urin befleckte Teppiche und Brücken lagen, strömte ein undefinierbarer, ekelhafter Geruch in die Nase. In der Küche quoll der Mülleimer über mit in Plastik eingewickelten Essensreste und leeren Dosen. Und gleich an der Eingangstür standen Hundenäpfe mit vergammeltem Fleisch und stinkendem Wasser. Es war nicht auszuhalten, überall, wohin man auch sah, nur Dreck. Dabei hatte sie doch angeblich Putzfrauen, die sich zwar alle naselang abwechselten, aber immerhin, die mussten doch auch manchmal sauber gemacht haben, oder? Und wo sind die „wertvollen Antiquitäten“, mit denen sie sich überall rühmte, geblieben? Denn was sie hier zu sehen bekam, war nichts als Sperrmüll. Gewiss, man mochte es auf ihr Alter zurückführen, aber noch gestern hatte man sie gesehen – aufgetakelt wie eine Jahrmarktsfigur – mit ihrem Hund in den Park oder sonst wo hinfahren. Also war sie noch gut drauf gewesen. Nun war sie tot. Jemand konnte es nicht abwarten und hatte ihr quasi den ´Hals umgedreht´. Nur, wo war das Motiv? Hier war doch nichts zu holen. Und plötzlich kam sie zu der erschreckenden Erkenntnis, dass in erster Linie sie, das heißt, sie beide, ihr Mann und sie, ein unausweichliches Motiv hätten und somit als Täter infrage kämen. Ihr schauderte. Es lief ihr kalt über den Rücken, als sie feststellen musste, dass Hans letzte Nacht eine Zeitlang nicht neben ihr im Bett gelegen hat. Wo war er gewesen?
Und während sie über diese Möglichkeit nachdachte und es mit der Angst bekam, stand Pfeiffer hinter ihr und sagte: „Frau Hausschild, wissen Sie, ob Frau Bolle Verwandte hatte? Denn jemand wird nach den Ermittlungen für die Bestattung, Auflösung und behördlichen Wege zuständig sein müssen?“
„Leider, nicht dass ich wüsste Herr Kommissar, das hat immer alles mein Mann erledigt, wenn was war. Ich bin heute zum ersten Mal in dieser Wohnung. Zuvor hat sie mich nie reingelassen. Aber in ihrem Schreibtisch wird man mit Sicherheit etwas Konkretes finden können. Doch jetzt entschuldigen Sie mich bitte, mir ist schon ganz schlecht geworden. Die Luft hier und alles auf nüchternen Magen.“
„Ich verstehe“, sagte Pfeiffer und deutete nach hinten, „aber hier können Sie jetzt nicht raus. Sie müssen schon wieder durch den Garten zu Ihrer Wohnung gehen, denn hier muss erst die Spurensicherung alles durchsuchen und danach wird sowieso abgesperrt.“
Gerda Hausschild sah sich um und bemerkte: „Wo ist denn der Hund geblieben? Ich hatte ihn doch auf meinen Arm, als ich hierherkam. Und wer wird für das Tier aufkommen? Wir können ihn nicht nehmen, ich bin allergisch gegen Katzen- und auch Hundehaare.“
Pfeiffer folgte der Frau bis zur Terrasse, holte ein Tempo-Taschentuch aus seiner Jackentasche und tupfte sich die Schweißperlen von der Stirn. Tief Luft holend krächzte er mehr zu sich selbst: „Die hat doch weiß Gott noch die Heizung laufen.“
Nachdem soweit alles aufgenommen wurde, löste sich allmählich alles auf. Die Tote wurde von den Helfern des Amtsarztes abtransportiert und nach Eppendorf in die Uniklinik gebracht. Hans und Gerda Hausschild gingen nach oben in ihre Wohnung und Berger und Pfeiffer begaben sich vorerst zu ihrem Fahrzeug, das in der Einfahrt des Hauses stand. Berger machte sich Notizen und sagte so nebenbei zu Pfeiffer, der mit langgestreckten Beinen auf dem Beifahrersitz saß und den inzwischen eingetrudelten Menschenauflauf beobachtete:
„Wir müssen gleich noch mal hoch und uns den Schreibtisch der alten Dame vornehmen. Ich glaube, dass wir dort so manches vorfinden, das uns die Beweise für einen Mordmotiv liefert. Merkwürdig ist nur, dass der Täter nicht danach gesucht hat? Vielleicht wurde er gestört?“
„Daran dachte ich auch schon, als ich mich am Schreibtisch flüchtig umsah. Wir werden jede Menge Arbeit haben, um nach etwas Brauchbarem fündig zu werden. Die Wohnung ist total zugemüllt. Nicht nur von allerhand Krimskrams, sondern auch von Unterlagen, Belegen und Quittungen jeglicher Art. Sie scheint nichts weggeschmissen zu haben. Da stehen allein drei dicke Ordner mit Prozessunterlagen über die Gerichtsverhandlungen mit dem Hauswirt Hausschild. Sie muss viel Geld gehabt haben, um all die Jahre prozessieren zu können. Anwälte kosten eine Menge Geld, und das wollen sie im Voraus haben. Ich meine: Wenn jemand einen Grund hat, sie zu töten, dann ist es Hausschild.“
Sie gingen durch den gepflegten Vordergarten, die Stufen hoch und diesmal von vorne in die Wohnung im Hochparterre. Berger hatte den Schlüssel in einer Plastiktüte steckend. Beide trugen Untersuchungshandschuhe, um möglichst keine Fingerabdrücke zu hinterlassen.
„Heute können wir sowieso nichts mehr machen. Es ist Sonntag, die Spurensicherung kommt erst morgen und bevor die antanzen, werden wir längst hier sein. Jetzt werden wir hier vorne und hinten zum Garten alles abschließen und ein Siegel anbringen.“ Und während er das sagte, sich noch mal umblickte, kroch unten vom Sofa verängstigt der Hund hervor. „Ja, wen haben wir denn da“? beugte sich und hob das Tierchen hoch, „ ich denke, du bist oben bei Hausschilds, was sollen wir mit dir machen?“ Und zu Pfeiffer gewandt: „Ich denke die Hausschild hat ihn mitgenommen, wir können ihn doch nicht hier alleine lassen.“