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Zukünftige Vergangenheit

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Wie der spinner und die skeleton screens ist auch die digitale Literatur ein Platzhalter der Zukunft, deren eigene Vergangenheit stets unmittelbar bevorsteht. Nichts veraltet so schnell wie das Futurum der Gegenwart. Dass diese Literaturform daher ihre Geschichte immer wieder neu schreiben muss, ist ebenso klar wie die Schwierigkeit, sie auf Dauer zu stellen.

Das ist vor allem ein Problem für die üblichen Konsekrationsinstanzen und Sammelinstitutionen, die dieses Feld literarischer Praxis oft nicht oder zu spät und unvollständig erfassen. Die Tradierung und Theoretisierung digitaler Literatur ging daher in der Regel von den Akteur*innen selbst aus. Am einschlägigsten sind wohl die Electronic Literature Organization (ELO) mit ihrer Electronic Literature Collection, der Electronic Book Review sowie die Net Art Anthology, außerdem die p0es1s-Reihe und die ELMCIP- und ADEL-Datenbanken. Seiten wie netzliteratur.net und das Open Source-Organ »Dichtung Digital« dagegen sind mittlerweile weitgehend inaktiv oder in einer reinen Archivfunktion online. Digitale Werke und die Kontexte ihrer Entstehung – dafür stehen HyperCard und Flash nicht anders als »Dichtung Digital« – sind aber besonders ephemer, weshalb ihre Bewahrung und Überlieferung für zukünftige Forschung zentral sein muss.45

Es gibt Bemühungen etablierter Sammlungsinstitutionen: Das Innsbrucker Zeitungsarchiv erfasst digitale Literaturmagazine, -blogs und Autorenhomepages, während das Deutsche Literaturarchiv Marbach in einem Pilotprojekt »Literatur im Netz« archivierte; derzeit baut es zusammen mit der Universität Stuttgart ein »Science Data Center für Literatur« auf, das digitale Literatur nachhaltig für die Forschung sichern soll.46 Freilich sind viele Initiativen noch von einem aus der ersten und zweiten ›Generation‹ stammenden Begriff digitaler Literatur geprägt, der mit seiner eigenen Genealogie auch eigene Ein- und Ausschlusskriterien in Anschlag bringt. Die gegenwärtige Entwicklung wird man immer nur mit einiger Latenz begleiten können.

Es ist daher nicht nur theoretisch angebracht, in Zukunft den Begriff der digitalen Literatur ökumenisch offen zu halten, sondern auch praktisch wahrscheinlich, dass sie sich eher in weniger organisierten Formen fortspinnt – auf GitHub-Repositorien, Reddit-Threads und Twitter-Diskussionen – als in scharf umgrenzten Institutionen. Es kann dabei Beachtungskonjunkturen geben, es mögen sich ihr die Türen von Suhrkamp und des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs öffnen und Klett-Cotta mag die Experimente veröffentlichen, die etablierte, ›konventionelle‹ Autoren wie Daniel Kehlmann mit KI anstellen.47 Letztlich aber bleibt sie als immer futurische Form nur in ihrer jeweiligen Gegenwart fassbar, sodass ihre Zukunft nicht abzusehen ist. Es ist gut möglich, dass ein dritter TEXT+KRITIK-Band in weiteren 20 Jahren etwas ganz anderes unter ›digitaler Literatur‹ verstehen wird – oder der Begriff, als völlige Exekution des Postdigitalen, im Jahre 2041 dann gar keinen Sinn mehr ergibt. Bis dahin unternimmt der vorliegende Band die nötige Momentaufnahme, um ihr auch eine Vergangenheit zu sichern.

1 Vgl. etwa Felix Stalder: »Kultur der Digitalität«, Berlin 2016 oder Armin Nassehi: »Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft«, München 2019. Vgl. den Beitrag von Elias Kreuzmair. — 2 Philipp Hartmann: »Über Arbeiten zur digitalen Literatur«, in: »Arbitrium« 38, 2 (2020), S. 403–406, hier S. 404 f. Für eine brauchbare aktuelle Darstellung der Geschichte digitaler Literatur, vgl. Scott Rettberg: »Electronic Literature«, Cambridge 2019. — 3 Dass sich digitale Literatur von anderen literarischen Spielarten abgrenzen lässt, stand damals außer Zweifel. Von Anfang an umstritten war allerdings ihre geeignete Bezeichnung. Neben »digitaler Literatur« wurden etwa vorgeschlagen: »Electronic Literature«, »E-Poetry«, »digital literary art«, »ergodic literature«, »cybertext«, »Netzliteratur«, »digitale Dichtung«, »Internetpoesie«. Aus pragmatischen Gründen verzichten wir auf die genaue Diskussion dieser Terme, glauben aber, dass »digitale Literatur« ihre wesentlichen Bedeutungsschnittmengen abzudecken vermag. — 4 Hannes Bajohr / Kathrin Passig / Philipp Schönthaler: »Nichts als Hybride. Ein Gespräch über ›Digitale Literatur‹«, in: »Transistor« 2, 2 (2019), S. 18–29, hier S. 22. — 5 Vgl. Kim Cascone: »The Aesthetics of Failure. Post-Digital Tendencies in Contemporary Computer Music«, in: »Computer Music Journal« 4 (2000), S. 12–18. — 6 Florian Cramer: »What is Post-Digital?«, in: »APRJA« 3, 1 (2014), S. 8; zuvor auch ders.: »Post-Digital Writing« in »electronic book review«, 2012, http://electronicbookreview.com/essay/post-digital-writing (15.4.2021). — 7 Vgl. N. Katherine Hayles: »Intermediation«, in: »New Literary History« 38 (2007), S. 99–125. — 8 Vgl. Lori Emerson, »Reading Writing Interfaces«, Minneapolis 2014, S. 184. Damit steht die Rückkehr zum analogen Medium oft im Zeichen einer »aesthetic of bookishness«, die nicht nur Werkzeug von Avantgardeliteratur ist, sondern auch Eingang in das Programm großer Publikumsverlage gefunden hat (etwa J. J. Abrams /Doug Dorst: »S.«, New York 2013). »At the moment of the book’s foretold obsolescence because of digital technologies« steht dann »the emergence of a creative movement invested in exploring and demonstrating love for the book as symbol, art form, and artifact.« Jessica Pressman: »Bookishness. Loving Books in the Digital Age«, New York 2020, S. 1. — 9 Vgl. Nelson Goodman: »Sprachen der Kunst«, Frankfurt / M. 1995, S. 115–121. — 10 Vgl. z. B. Jens Schröter / Alexander Böhnke: »Analog / Digital. Opposition oder Kontinuum? Zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung«, Bielefeld 2004; Heinz Hiebler: »Die Widerständigkeit des Medialen. Grenzgänge zwischen Aisthetischem und Diskursivem, Analogem und Digitalem«, Hamburg 2018, S. 384–386; Florian Cramer: »Exe.cut[up]able statements. Poetische Kalküle und Phantasmen des selbstausführenden Texts«, Paderborn 2011, S. 9–10. Vgl. für eine andere Problematisierung dieser Kategorien Kathrin Passig / Aleks Scholz: »Schlamm und Brei und Bits«, in: »Merkur« 798 (2015), S. 75–81. — 11 Roberto Simanowski: »Autorschaften in digitalen Medien. Eine Einleitung«, in: Heinz Ludwig Arnold / Ders.: (Hg.): TEXT+KRITIK. H. 152: »Digitale Literatur«, München 2001, S. 3–21, hier S. 4. — 12 So vor allem bei George Landow: »Hypertext. The Convergence of Contemporary Theory and Technology«, Baltimore 1992 und Jay David Bolter: »Writing Space. Computer, Hypertext, and the Remediation of Print«, London, New York 1991. Vgl. dazu Uwe Wirth, »Der Tod des Autors als Geburt des Editors«, in: Arnold / Simanowski (Hg.): »Digitale Literatur«, a. a. O., S. 54–64. Zugleich hatte dieser Fokus einen Einfluss auf die historisch orientierte Literaturwissenschaft, die hypertextuelle Referenzverfahren etwa in Vladimir Nabokovs »Pale Fire« und Lawrence Sternes »Tristram Shandy« aufzuspüren vermochte, vgl. Kurt Fendt: »Leser auf Abwegen. Hypertext und seine literarisch-ästhetischen Vorbilder«, ebd., S. 87–98. Einflussreich war auch die Begriffsprägung der »ergodic literature«, die ebenfalls eine Genealogie nichtdigitaler Vorbilder konstruierte, vgl. Espen Aarseth: »Cybertext. Perspectives on Ergodic Literature«, Baltimore 1997. Für einen apologetischen Rückblick auf diese Gattung, vgl. Stuart Moulthrop: »Hypertext Fiction Ever After«, in: Dene Grigar / James O’Sullivan (Hg.): »Electronic Literature as Digital Humanities. Contexts, Forms, & Practices«, New York 2021, S. 150–162. — 13 Vgl. Peter Gendolla / Jörg Schäfer: »Auf Spurensuche. Literatur im Netz, Netzliteratur und ihre Vorgeschichte(n)«, in: Arnold / Simanowski (Hg.): »Digitale Literatur«, a. a. O., S. 75–86. Freilich war, wie Kathrin Passig zeigt, auf Kritiker*innenseite der Widerstand gegen das Netz als Ort von Literatur von Anfang an groß, vgl. Kathrin Passig, »Vielleicht ist das neu und erfreulich«, Graz 2019, S. 5–17. Dass der Begriff Netzliteratur weiter in Gebrauch ist, heute aber vor allem den sozialen Raum des Web meint, zeigt etwa Kathrin Lange / Nora Zapf (Hg.): »Screenshots. Literatur im Netz«, München 2019. — 14 Vgl. Stefan Porombka: »Hypertext. Zur Kritik eines digitalen Mythos«, München 2001; Florian Cramer: »Warum es zuwenig interessante Netzdichtung gibt. Neun Thesen«, 27.4.2000, https://www.netzliteratur.net/cramer/karlsruher_thesen.html (15.4.2021); Michel Chaouli: »How Interactive can Fiction be?«, in: »Critical Inquiry« 31 (2005), S. 599–617. — 15 Vgl. Florian Cramer: »sub merge {my $enses; ASCII Art, Rekursion, Lyrik in Programmiersprachen«, in: Arnold / Simanowski (Hg.): »Digitale Literatur«, a. a. O., S. 112–123. — 16 N. Katherine Hayles: »Electronic Literature. New Horizons for the Literary«, Notre Dame, Ind. 2008, S. 7. — 17 Vgl. Leonardo Flores: »Third-Generation Electronic Literature«, in: Grigar / O’Sullivan (Hg.): »Electronic Literature«, a. a. O., S. 27–41. — 18 Vgl. Christopher Funkhouser: »Prehistoric Digital Poetry. An Archaeology of Forms, 1959–1995«, Tuscaloosa 2007. Für eine Geschichte früher digitaler Literatur aus eher europäischer Sicht, vgl. Saskia Reither: »Computerpoesie. Studien zur Modifikation poetischer Texte durch den Computer«, Bielefeld 2003. — 19 Vgl. Christiane Heibach: »Ins Universum der digitalen Literatur. Versuch einer Typologie«, in: Arnold / Simanowski (Hg.): »Digitale Literatur«, a. a. O., S. 31–42, hier S. 32; ausführlicher dies.: »Literatur im elektronischen Raum«, Frankfurt / M. 2003, S. 32–65. — 20 Moulthrop: »Hypertext Fiction«, a. a. O., S. 152. — 21 Friedrich W. Block: »Website. Zum Ort digitaler Literatur im Netz der Literaturen«, in: Simanowski / Arnold (Hg.): »Digitale Literatur«, a. a. O., S. 99–111, hier S. 106 f. — 22 Eine frühe Ausnahme bildet Geert Lovink / Pit Schultz (Hg.): »Netzkritik. Materialien zur Internet-Debatte«, Berlin 1997. — 23 Mark Amerika: »Grammatron«, 1997, http://www.grammatron.com; Kris Ligman: »You are Jeff Bezos«, 2018, https://direkris.itch.io/you-are-jeff-bezos (15.4.2021). — 24 Vgl. Bas Böttcher: »Looppool«, 1998, http://www.looppool.de, und Young-Hae Chang Heavy Industries: https://www.yhchang.com/ (15.4.2021). — 25 Simanowski: »Autorschaften in digitalen Medien«, a. a. O., S. 4; vgl. v. a. Cramer: »sub merge«, a. a. O. — 26 Vgl. Heibach: »Ins Universum«, a. a. O., S. 39, und dies.: »Literatur im elektronischen Raum«, a. a. O. — 27 Vgl. Funkhouser: »Prehistoric Digital Poetry«, a. a. O.; Reither: »Computerpoesie«, a. a. O.; Matteo D’Ambrosio: »The Early Computer Poetry and Concrete Poetry«, in: »MatLit« 6, 1 (2018), S. 51–72; Hannes Bajohr, »Schreibenlassen: Texte zur Literatur im Digitalen«, Berlin 2022. — 28 Simanowski: »Autorschaften in digitalen Medien«, a. a. O., S. 13. — 29 Vgl. https://nanogenmo.github.io. — 30 Vgl. Kate Compton: https://tracery.io; Gregor Weichbrodt: http://plauder.app; George Buckenham: https://cheapbotsdonequick.com. — 31 Vgl. Nick Srnicek: »Platform Capitalism«, Cambridge 2016. — 32 Block: »Website. Zum Ort digitaler Literatur im Netz der Literaturen«, a. a. O. — 33 Holger Schulze: »Ubiquitäre Literatur. Eine Partikelpoetik«, Berlin 2020, S. 11. — 34 Vgl. Hannes Bajohr (Hg.): »Code und Konzept. Literatur und das Digitale«, Berlin 2016. — 35 Hannes Bajohr: »Halbzeug. Textverarbeitung«, Berlin 2018, S. 105. — 36 Vgl. Alvaro Seiça: »Digital Poetry and Critical Discourse. A Network of Self-References?«, in: »MatLit« 4, 1 (2016), S. 95–123; vgl. auch Hanna Engelmeier: »Was ist die Literatur in ›Digitale Literatur‹«, in: »Merkur« 823 (2017), S. 31–45. — 37 Vgl. für einen Ansatz, der vor allem die erste und zweite »Generation« betraf, Florian Hartling »Der digitale Autor. Autorschaft im Zeitalter des Internets«, Bielefeld 2009. — 38 Gregor Weichbrodt zit. n. Elias Molle: »The Publishing Sphere. Session 2 – Protocols«, 14.6.2017, https://www.epitext.hkw.de/the-publishing-sphere-session-2-protocols (15.4.2021). — 39 Vgl. Annette Gilbert: »Im toten Winkel der Literatur. Grenzfälle literarischer Werkwerdung seit den 1950er Jahren«, Paderborn 2018. — 40 Vgl. Annette Gilbert: »Die Zukünfte des Werks. Kleiner Abriss der Gegenwartsliteratur mit Blick auf die Werkdebatte von Morgen«, in: Dies. / Lutz Danneberg / Carlos Spoerhase (Hg.): »Das Werk. Zum Verschwinden und Fortwirken eines Grundbegriffs«, Berlin, Boston 2018, S. 495–550; Hannes Bajohr: »Publishing / Publicking«, in: Annette Gilbert / Lionel Ruffel (Hg.): »The Publishing Sphere. Ecosystems of Contemporary Literatures. Reader«, Berlin 2017, S. 229–232. — 41 Vgl. Brit Kelley: »Loving Fanfiction. Exploring the Role of Emotion in Online Fandoms«, London 2021. — 42 Stefanie Sargnagel: »Statusmeldungen«, Reinbek 2018; Sarah Berger: »Match Deleted. Tinder Shorts«, Berlin 2017. — 43 J. Gordon Faylor: »Dateitypen als Publikationstaktik. Ein Gespräch von Hannes Bajohr«, in: »Kunstforum International« 256 (2018), S. 166–171. — 44 Harry Burke: »Page Break«, in: »Texte zur Kunst« 98 (2015), S. 119–123, online https://www.textezurkunst.de/98/burke-page-break-de (15.4.2021). — 45 Vgl. https://collection.eliterature.org; https://electronicbookreview.com; https://anthology.rhizome.org; http://www.p0es1s.net; https://elmcip.net; https://adel.uni-siegen.de; https://www.netzliteratur.net; http://www.dichtung-digital.de (22.6.2021). Die Problematik der Archivierung digitaler Literatur wird periodisch immer wieder thematisiert, vgl. Nick Montfort / Noah Wardrip-Fruin: »Acid-Free Bits. Recommendations for Long-Lasting Electronic Literature«, 2004, https://eliterature.org/pad/afb.html (15.4.2021); Florian Hartling / Beat Suter: »Archivierung von digitaler Literatur. Probleme – Tendenzen – Perspektiven«, in: »SPIEL« 29, 1–2 (2010); Dene Grigar: »Archiving Electronic Literature. Selection Criteria, Methodology, and Challenges«, in: »Journal of Archival Organization«, 15, 1–2 (2018), S. 20–33; Grigar zeichnet für das Projekt »The Next« verantwortlich, das neue Schaufenster der ELO. — 46 Vgl. http://dilimag.literature.at und http://literatur-im-netz.dla-marbach.de; siehe dazu Jutta Bendt (Hg.): »Netzliteratur im Archiv. Erfahrungen und Perspektiven«, Marbach 2017; https://sdc4lit.org. — 47 Bajohr: »Halbzeug«, a. a. O.; Jörg Piringer: »kuzushi«, 2020, https://bachmannpreis.orf.at/stories/3047340 (22.6.2021); Daniel Kehlmann: »Mein Algorithmus und ich. Stuttgarter Zukunftsrede«, Stuttgart 2021.

TEXT + KRITIK Sonderband  - Digitale Literatur II

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