Читать книгу TEXT + KRITIK Sonderband - Digitale Literatur II - Hannes Bajohr - Страница 6

Platzhalter der Zukunft: Digitale Literatur II (2001 → 2021) Fortsetzung und doch zugleich wieder nur Momentaufnahme

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Die voranschreitende Digitalisierung macht auch vor der Literatur nicht halt. Heute ist nicht nur die Rezeption, sondern auch jeder Schritt der Literaturproduktion – die sich nicht mehr auf den klassischen Betrieb beschränkt – nahezu ausnahmslos von digitaler Technik bestimmt. So ist Literatur stets so digital wie die Gesellschaft, in der sie stattfindet. Damit ist die Ausgangssituation 2021 eine andere als 2001, da der erste TEXT+KRITIK-Band »Digitale Literatur« erschien. Getragen von der Aufbruchsstimmung der 1990er Jahre galt ›das Digitale‹ seinerzeit noch immer als das Kommende. Gerade das literarische Feld betraf das erst in einem sehr begrenzten Bereich. Heute dagegen stehen wir mitten in einer Gesellschaft, die sich, im Partizip Perfekt, als bereits »digitalisierte« versteht.1

TEXT+KRITIK hat die Wechselwirkung von Literatur und Digitalität früh erkannt. Der von Roberto Simanowski herausgegebene Band ist weiterhin ein wichtiges Dokument der Auseinandersetzung mit digitaler Poetik und Praxis. Doch weil sich Wandel im Digitalen nicht nur technisch, sondern auch konzeptuell und poetologisch besonders schnell vollzieht, sind 20 Jahre ein Quantensprung, der es nahelegt, dieser Ausgabe eine zweite folgen zu lassen. Sie nimmt zum einen die Entwicklungen der letzten zwei Dekaden in den Blick. Zum anderen führt sie den Beweis, dass die »Hochphase digitaler Literatur« keineswegs, wie jüngst ein Rezensent meinte, »in den 1990er Jahren« lag und »Dissertationen zum Thema (…) ihren Gegenstand schon als einen historisch gewordenen erscheinen« lassen.2 Weniger ist die digitale Literatur historisch geworden als vielmehr ein bestimmter Begriff von ihr und ein damit bezeichnetes, eher enges Feld literarischer Produktion und literaturwissenschaftlicher Beobachtung. Der Auseinandersetzung mit den poetischen Möglichkeiten des Digitalen konnte die eingeschlafene akademische Diskussion nichts anhaben – wie die reiche Textgrundlage dieses Bandes beweist, floriert sie heute mehr denn je.

Zugleich liegt auf der Hand, dass in einem solch dynamischen Umfeld auch der vorliegende Band nur eine Momentaufnahme des technischen und ästhetischen state of the art sein kann. Sinnbild dieses Selbstverständnisses als Dokument einer fluiden literarischen Landschaft ist einerseits die Aufnahme künstlerischer Positionen in diese Ausgabe: Sie repräsentieren ausgewählte Tendenzen des Feldes und vertiefen das Spektrum der literaturwissenschaftlichen Analysen; ihre Auswahl soll weniger eine historische Entwicklung abdecken als den Moment gegenwärtiger digitaler Literaturproduktion darstellen. Für diesen transitorischen Charakter steht andererseits auch das Ladezeichen, das den Titel dieses Bandes ziert. Das spinner genannte (und normalerweise animierte) Symbol zeigt an, dass eine Anwendung geladen wird. Es markiert so ein besonderes Gegenwartsverhältnis – ein Jetzt, das auf eine unmittelbar zu erwartende, gewissermaßen infradünne Zukunft verweist.


Gregor Weichbrodt: »Loading Book«, Berlin 2018, o. S. Foto: Andreas Bülhoff.

Inspiriert ist die Titelgestaltung von Gregor Weichbrodts »Loading Book« (2018), das in der Tradition visueller und konzeptueller Poesie steht und eben jene transitorische Zeitlichkeit von Interfaces zum Thema hat; es zeigt gleichfalls einen spinner auf dem Titel. Im Buchinneren greift Weichbrodt – der im vorliegenden Band mit einem weiteren künstlerischen Beitrag vertreten ist – auf eine zweite Interface-Gestaltung zurück, die sogenannten skeleton screens (vgl. Abb.). Diese oft grau gehaltene, stilisierte Darstellung von Inhaltselementen mahnt die User nicht nur zur Geduld, sondern imitiert abstrakt das Layout der zu ladenden Webseite oder Applikation und nimmt so das Kommende vorweg. Skeleton screens erwecken den Eindruck, dass die Anwendung schneller lädt als sie es tatsächlich tut, und intensivieren so noch einmal den Zeitbezug des Ladezeichens. Beide sind Platzhalter der Zukunft, die den Moment eines bevorstehenden Wandels visuell als stetigen Übergang gestalten. Damit ist auch das Feld digitaler Literatur bestens illustriert, das gleichfalls im ständigen Wandel begriffen ist und zwischen Entwürfen von Zukünftigkeit vermittelt. Dass Weichbrodt dieses Sinnbild digitaler Zeitverhältnisse zurück in die klassische, gedruckte Buchform holt, ist dabei freilich ein eher postdigitaler als ›nur‹ digitaler Schachzug, der über den bewussten Medienwechsel die Spezifik von Analogem und Digitalem gegenüberstellt und ihre Verwobenheit betont.

TEXT + KRITIK Sonderband  - Digitale Literatur II

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