Читать книгу TEXT + KRITIK Sonderband - Digitale Literatur II - Hannes Bajohr - Страница 9
Reflexiv: Bezug auf das Digitale
ОглавлениеSoweit die Einordnung digitaler Literatur in ihre historischen Linien, der sicher noch einige hinzuzufügen wären und die sich weiter ausdifferenzieren ließen. Sofern digitale Literatur aber auch darüber definiert werden kann, wie sie ihre eigene – technische wie soziale – digitale Bedingtheit reflektiert, lässt sich auch eine andere Systematisierung versuchen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit scheinen uns drei Idealtypen hervorzustechen: Die rein inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Digitalen, die Verortung in digitalen Produktions- und Rezeptionsumgebungen und die Verarbeitung wesentlich auf der Prozess- und Codeebene.
Was man das ›digitale Inhaltsparadigma‹ nennen kann, begreift digitale Technik, Kultur und Gesellschaft vor allem als Gegenstand narrativer Schilderung. Im Gegenwartsroman, der im Beitrag von Elias Kreuzmair untersucht wird, lässt sich von einer Widerspiegelung der Realität mit besonderem Fokus auf der Digitalisierung unserer Lebenswelt in der Literatur sprechen, in der ihr mimetischer Grundzug zum Tragen kommt. Hier fließen Diskurse oder Realien der digitalen Welt als Inhalt in die Literatur ein, während die Erzählform auf bewusst literarische Traditionslinien setzt und die »Zukunft der Gegenwart« verhandelt.
Als das ›digitalsoziologische Paradigma‹ – dem man als Unterart das ›Plattform-Paradigma‹ zurechnen kann – wären solche Spielarten digitaler Literatur zu bezeichnen, in denen die Affordanzen und sozialen Dynamiken neuer textlicher Partizipationsmöglichkeiten, zumal im Netz und darin überwiegend auf den privatwirtschaftlich kontrollierten Plattformen,31 auch neue Schreibweisen hervorbringen. Das digitalsoziologische Paradigma betont vor allem die Oberflächen, Kontexte und Stätten der Veröffentlichung und Rezeption für die Klassifizierung als digitale Literatur. Anders aber als noch bei der je eigenen Website als »Ort digitaler Literatur«, die 2001 Friedrich Block behandelte,32 ist heute durch die Einfügung vermittelnder Plattformen ein exponentieller Zugewinn an Verbreitung und Popularität sowie Sichtbarwerdung literarischer Produktion zu verzeichnen, die vorher oft höchstens im Halböffentlichen verblieb.
Die größte Verschiebung in diesem Bereich besteht wohl in der flächendeckenden Verbreitung und Popularisierung sowie dem enormen Zuwachs an Nutzerzahlen auf der Rezeptions- wie der Produktionsseite. Beides ist Ausdruck jenes ›Always-on‹, das aus der Ubiquität internetfähiger Geräte, der Entwicklung ansprechender Nutzungsangebote durch Unternehmen und Plattformen sowie der Ausbildung entsprechender digitaler Kompetenzen und Praktiken folgt. Nicht umsonst spricht Holger Schulze von »Allgegenwartsliteratur« und »ubiquitärer Literatur«,33 was Christiane Frohmann in ihrem Beitrag zu diesem Band um die Idee einer »instantanen Literatur« ergänzt. Dezidierte Plattformliteratur – das Schreiben auf Twitter, Instagram oder Reddit – wird in den Beiträgen von Berit Glanz und Niels Penke vorgestellt. Das Zusammenspiel von Trends in Populär- und Meme-Kultur mit den Bedingtheiten der Plattformen wirkt dabei oft selbst genrebildend.
Als ›digitalontologisches Paradigma‹ – oder als ›genuin digitale Literatur‹ – wäre schließlich jene dritte Spielart digitaler Literatur zu bezeichnen, die auf dem bewussten Einsatz von Computern, Codes, Algorithmen sowie der automatisierten Verarbeitung von Textkorpora als Schreibmethode beruht. Dass dabei das Ausgabemedium nicht notwendig digital sein muss, sondern auch die traditionelle Buchform annehmen kann, ist Folge der angesprochenen postdigitalen Verschiebung der Gegenwart. Insofern gerade generative Literatur, wie wir diese Form weiter oben genannt haben, auch auf Plattformen stattfinden oder ihr Material auf diesen finden kann, sind zwischen der zweiten und dritten Spielart Überschneidungen auszumachen.
Da die genuin digitale Literatur ihre Poetik von allen drei Formen am engsten am verwendeten technischen Substrat ausrichtet, sind die Umbrüche von Programmier- und Datenparadigmen hier am schnellsten zu spüren und in allerjüngster Zeit anzusiedeln: War das generative Schreiben seit den 1950er Jahren bis etwa um 2014 in sequenziellen Algorithmen, also menschenlesbaren Regelschritten implementiert, erschien mit der weiten Verbreitung des konnektionistischen Modells – auf neuronalen Netzen beruhendes Deep Learning – zum ersten Mal eine ernsthafte Alternative. Da es keine Regeln, sondern nur noch statistische Verteilungen produziert, reduziert sich hier die Menschenlesbarkeit drastisch, wie Hannes Bajohr in seinem Beitrag erklärt.
Parallel dazu hat sich, so zeigt Alexander Waszynski, in Zeiten von Big Data auch die Menge verfügbarer (Text-)Daten potenziert, die ihrerseits Gegenstand literarischer Verarbeitung werden, sodass auch hier eine Zäsur in der Geschichte generativer Literatur nachzuzeichnen ist. Nicht unwesentlich für den Auftrieb, den diese Form in den letzten Jahren erfahren hat, dürften schließlich auch die wechselseitigen Befruchtungen mit anderen literarischen und diskursiven Strömungen wie dem Conceptual Writing oder der Appropriation Literature gewesen sein,34 wie Karl Flender in seinem Beitrag im vorliegenden Band erläutert. Darüber hinaus prägt »big data lit«35, so sie für die Allverfügbarkeit, Veralltäglichung und Normalisierung eines Schreibens und Lesens mit Maschinen steht, neben der digitalen Literatur auch neuere Forschungsansätze.