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Napoleons Europa: Durch Expansion zur Einheit

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Die Französische Revolution des Jahres 1789 wurde ihrem Namen gerecht: revolvere, umdrehen, das Untere nach oben spülen, die Verhältnisse auf den Kopf stellen, im sozialen Sinn genauso wie in Fragen der politischen Herrschaft. Sie war die Antithese zu allen vorher erdachten Europavisionen. Von einer herbeigewünschten »christlichen Einheit« konnte keine Rede mehr sein; das Prunkstück der französischen Gotteshäuser, die allerchristlichste Notre Dame de Paris, diente als Lagerhalle für Lebensmittel und Waffen; und selbst den auf Jesu Geburt datierten Kalender ersetzte man durch eine neue Zeitzählung. Der selbstherrliche Sonnenkönig Ludwig XVI. starb unter der Guillotine, die Volkssouveränität trat an seine Stelle. Der Begriff Europa kam in den revolutionären Texten nicht vor, stattdessen berauschte sich das Volk am nationalen Hochgefühl, die absolutistische, ausbeuterische Schreckensherrschaft der Monarchie abgeschüttelt zu haben. Dass man selbst bald daran ging, mit der Guillotine auch Fraktionskämpfe auszutragen, blieb der Nachwelt als Grausamkeit in Erinnerung.

Die revolutionäre Friedensidee unterschied sich entscheidend von der vorrevolutionären, die den inneren Frieden nur durch die Bezwingung eines äußeren Feindes denken konnte. »Ich glaube«, meinte der jakobinische Revolutionär Maximilien de Robespierre in einer seiner Ansprachen an die französische Nationalversammlung am 15. Mai 1790, »daß ihr lieber den Frieden wahrt, als euch in einen Krieg einzulassen, dessen Gründe ihr nicht kennt.«40 Er forderte das Volk auf, sich nicht für fürstliche Erweiterungspläne abschlachten zu lassen, mit welchen Argumenten auch immer sie vorbereitet, ausgerufen und geführt werden.

Demokratie und Menschenrechte – freilich nur gültig für Männer in Frankreich und nicht in den Kolonien – waren die Leitlinien der modernen Verfassung, wie sie 1791 in der Nationalversammlung festgelegt wurden und bis heute als »europäisch« definiert werden, ohne allerdings damals diesen Anspruch gehabt zu haben. Es sollte nicht lange dauern, bis beide nichts mehr wert waren. Postrevolutionäre Fraktionskämpfe nehmen schaurige Ausmaße an. Das sogenannte Direktorium, die letzte Regierungsform der Französischen Revolution, putscht am 27. Juli 1794 gegen die parlamentarische Versammlung, weist die Forderung nach sozialer Gleichheit zurück und beendet damit die radikale Phase der Revolution. Ein 24-jähriger Korse, der kurz zuvor in revolutionären Diensten die von England unterstützten Royalisten in Toulon geschlagen hatte, rückt im Oktober 1795 gegen Aufständische in den Pariser Vororten aus und lässt sie zusammenschießen. Napoléon Bonapartes Aufstieg beginnt.41

In den späten 1790er-Jahren trieb er oft schlecht ausgebildete Soldatenhaufen in Feldzüge gegen Italien und Ägypten; seine Motivationskraft bescherte ihm Ruhm und Ehre in Militärkreisen. Am 9. November 1799 erklärt sich Napoléon zum Ersten Konsul und die Revolution für beendet. Fünf Jahre später krönt er sich selbst in Paris zum Kaiser. In Austerlitz schlägt er 1805 die österreichischen Habsburger (bereits zum zweiten Mal), erleidet allerdings im selben Jahr eine Niederlage gegen die englische Flotte bei Trafalgar. Nun verhängt der Selbstherrscher die Kontinentalsperre gegen England, das erste große Handelsembargo der neuzeitlichen Geschichte. England soll mit wirtschaftlichem Boykott ruiniert werden. Als sich Zar Alexander I. diesem Embargo nicht anschließen will, marschiert Napoléon am 24. Juni 1812 mit einer halben Million Soldaten in Russland ein. Der Rest ist Niederlage: vor Moskau und nahe Waterloo.

Warum uns diese Eroberungszüge des kleinen Korsen, die ihm zwischenzeitlich allerlei Königs- und Fürstentitel eingetragen und im Jahr 1806 auch zum Ende des Heiligen Römischen Reiches geführt hatten, im Zusammenhang mit Europabildern interessiert? Weil Napoléon seine multiplen europäischen Kriegsgänge am Ende seines Lebens, als Gefangener auf St. Helena, als großen Plan zur Föderalisierung Europas dargestellt hat. »Es war unser Ziel«, schrieb er im Nachhinein bzw. ließ er schreiben, »ein großes europäisches Föderationssystem zu schaffen. (…) Um es zu vervollkommnen und ihm die größtmögliche Ausdehnung und Stabilität zu geben, haben wir die Errichtung einiger innenpolitischer Institutionen befohlen, die besonders geeignet waren, die Freiheit der Bürger zu schützen.«42 Und an anderer Stelle liest sich sein Lieblingsplan einer europäischen Föderation folgendermaßen: »Europa (…) würde auf diese Art bald wahrhaft nur ein Volk gebildet haben, und jeder würde auf seinen Reisen überall sich in einem gemeinschaftlichen Vaterland befunden haben.«43 Der Russland-Feldzug, so versicherte Napoléon, würde die letzte militärische Aktion gewesen sein. Dann hätte er gemeinsame Maßeinheiten, ein allgemein gültiges Gesetzbuch, den Code civil, ein europäisches Münzwesen sowie ein einheitliches Steuer- und Finanzwesen eingeführt. Hätte er in Russland gesiegt, so sein heute zynisch anmutender Kommentar aus der Gefangenschaft, dann wäre ein »Europa freier Völker« entstanden. »Einer meiner großen Gedanken«, so spinnt er ihn weiter, »war die Verschmelzung und Konzentration aller Völker, die geografisch zu einer Nation gehören und durch Revolution oder durch die Politik zerstückelt worden waren.«44 Dieser imaginierten europäischen Nation rechnete er 30 Millionen Franzosen, 15 Millionen Spanier, 15 Millionen Italiener und 30 Millionen Deutsche zu. Dazu musste er, wie er ohne jeden Ansatz von Selbstkritik schreibt, »Europa mit den Waffen zähmen (…).« Und weiter: »Ich habe Frankreich und Europa neue Ideen eingepflanzt, die (…) Europa durch unauflösliche Föderativbande wiedervereinen, überall in der Welt, wo heute Barbaren wohnen, wovon Wohltaten des Christentums und der Zivilisation verkünden: darauf müssen alle Gedanken meines Sohnes gerichtet sein, das ist die Sache, für die ich als Märtyrer sterbe.«45

Gestorben sind für Napoléons Europa-Idee jedoch Hunderttausende auf den Schlachtfeldern. Und am Höhepunkt seiner Macht zeigte sich auch, anders als in den Schriften am Ende seines Lebens, wie er sich die Herrschaft über den Kontinent konkret vorstellte. Alle Macht ging von seiner Person aus und er administrierte die in Besitz genommenen Länder nach patriarchalisch-großfamiliärer Art und Weise, nahm zahlreiche Titel wie die Königswürde von Italien selbst an und versorgte seine engsten Familienmitglieder mit satten territorialen Pfründen. Seinen Brüdern streute er Herrscherwürden über ganz Europa: Joseph erhielt Spanien, Louis wurde König von Holland, ein weiterer Bruder, Jerôme, erhielt das Königreich Westfalen und sein Schwager Joachim Murat das Königreich Neapel. Nepotismus paarte sich mit Despotie.

Nichtsdestotrotz gelten seine Versuche, die Verwaltungspraxis in seinem »Europa« zu vereinheitlichen, also zu zentralisieren, manchen Historikern auch heute noch als Vorläufer späterer Europapläne. Wolfgang Schmale z. B. hält ihm zugute, dass er »ein Stück europäische Integration (…) durch die Verbreitung seines Zivilgesetzbuches schaffte«,46 weist aber zugleich auf die hegemoniale Struktur des Unternehmens Napoléon hin, dem eine »wirkliche Europaphilosophie fehlte«;47 und der britisch-italienische Historiker Stuart Woolf48 unterstreicht den napoleonischen Beitrag zur Integration Europas.

Den endgültigen Sieg über den Korsen feierten die drei Monarchen Österreichs, Russlands und Preußens zur Jahreswende 1814/1815 auf dem Wiener Kongress. Die dort von Wien, Moskau und Berlin aus der Taufe gehobene »Heilige Allianz« war ein reaktionäres Bündnis, ein Zurück zum Status quo vor der Französischen Revolution. Kaiser Franz I., Zar Alexander I. und König Friedrich Wilhelm III. stellten die alte europäische Ordnung wieder her, gaben ihr allerdings einen neuen Anstrich. De facto erschöpfte sich diese Allianz in gegenseitiger militärischer Unterstützung im Fall revolutionärer Aufstände im Inneren.

Für das Europabild des 19. Jahrhunderts wichtiger als die »Heilige Allianz« war der ebenfalls auf dem Wiener Kongress gegründete »Deutsche Bund«. Als größter Staatenbund, den der Kontinent bis dato gesehen hatte, umfasste er sämtliche deutschen Fürstentümer, große Teile der Habsburgermonarchie, die bis 1806 zum Heiligen Römischen Reich gehört hatten, die Niederlande und Dänemark. Als eine Art völkerrechtlicher Vertrag sollte er für die innere und äußere Sicherheit der Mitgliedstaaten sorgen. Neben einem Rat der elf größten Staaten und einem Plenum existierte ein ständig tagender Gesandtenkongress in Frankfurt/Main, der sogenannte Bundestag.

Die Kernaufgabe des »Deutschen Bundes« bestand darin, jegliche revolutionäre Strömung im Keim zu ersticken. Das Trauma der Französischen Revolution saß den Fürsten Europas noch in den Knochen. Deshalb wurde der Informationsaustausch im Polizei- und Spitzelwesen großgeschrieben und auch die einzelnen staatlichen Zensurbehörden miteinander verknüpft. Im Bundesbeschluss vom 20. September 1819 über die Maßregelung von Universitäten, die als potenzielle Brutstätten revolutionärer Umtriebe gefürchtet waren, kommt dies anschaulich zum Ausdruck. Darin werden die einzelnen Mitgliedsstaaten des »Deutschen Bundes« aufgefordert, bei jeder Universität entsprechend aufmerksame »Curators«, Spitzel, einzustellen, um über die Vorgänge an den Ausbildungsstätten stets informiert zu sein. »Die Bundesregierungen«, heißt es wörtlich, »verpflichten sich gegeneinander, Universitäts- und andere Lehrer, die durch erweisliche Abweichung von ihrer Pflicht, (…) durch Mißbrauch ihres rechtmäßigen Einflusses auf die Gemüther der Jugend, durch Verbreitung verderblicher, der öffentlichen Ordnung und Ruhe feindseliger oder die Grundlagen der bestehenden Staatseinrichtungen untergrabender Lehren, ihre Unfähigkeit zur Verwaltung des ihnen anvertrauten wichtigen Amtes an den Tag gelegt haben, von den Universitäten und sonstigen Lehranstalten zu entfernen.« Und um sicher zu gehen, dass einmal enttarnte revolutionäre Subjekte nicht anderswo umtriebig werden, heißt es abschließend: »Ein auf solche Weise ausgeschlossener Lehrer darf in keinem anderen Bundesstaate bei irgend einem öffentlichen Lehr-Institut wieder angestellt werden.«49 Die suprastaatliche Einrichtung des »Deutschen Bundes« funktionierte als Repressionsinstrument gegen republikanische Gesinnung bis nach den Revolutionen des Jahres 1848 und zerbrach dann am preußisch-österreichischen Gegensatz um die Führung, der sich 1866 in der Schlacht von Königgrätz entlud.

Nichtsdestotrotz diente der »Deutsche Bund« manch einer weiter gedachten europäischen Idee als Folie. So entwarf der Leiter der dänisch-königlichen Reichsbank, Conrad Friedrich von Schmidt-Phiseldek, ein Projekt eines wirtschaftlich geeinten europäischen Bundes, der auf dem »Deutschen Bund« aufbauen und wie dieser Frankfurt/Main als Zentrum ausweisen könnte. Als Banker fürchtete er um die Konkurrenzfähigkeit Europas gegenüber dem erstarkenden Nordamerika. Der europäische Kontinent sei ökonomisch zersplittert, durch gegenseitige Ein- und Ausfuhrverbote, Hafen- und Flusssperren sowie in einzelnen Staaten monopolistisch agierende Handelskonzerne geschwächt; er müsse sich, so Schmidt-Phiseldek, »endlich als ein Staatsganzes begreifen«.50 Die Vereinigten Staaten von Amerika sieht der Däne im Jahr 1820 durch »Eintracht und gesetzlich freie Entwicklung« geprägt, ein Vorbild für Europa. Die Tatsache, dass sich Amerika in jenen Jahren am Höhepunkt der ethnischen Säuberungen befand, die zur Auslöschung der indianischen Urbevölkerung führten, übersah er – ganz der Idee von der »White Supremacy« verhaftet – nonchalant.

Konkret träumte Schmidt-Phiseldek von einem Europa mit einheitlichem Rechts- und Verkehrswesen, einer gemeinsamen Währung und einer bewaffneten Streitmacht und einem europäischen Kongress, der von allen souveränen Staaten beschickt werden sollte. Nur so könne dem »Weltteil in die Schranken getreten (werden), der mit stets wachsender Riesenkraft dem ganzen Europa die Fehde bietet.«51 Eine Europavision als Überholmanöver gegenüber der USA.

Etwas anders gelagert waren die Ideen des deutschen Nationalökonomen Friedrich List (1789−1846). Ihn trieb die ungleiche Entwicklung europäischer Staaten an, der er mit Schutzmaßnahmen für die deutschen Länder begegnen wollte. Die Niederlage Napoléons brachte im Jahr 1815 auch die Aufhebung der Kontinentalsperre mit sich, die für Kontinentaleuropa einen Schutz vor der Konkurrenz billiger englischer Fabrikprodukte gebracht hatte. Plötzlich überschwemmten englische Waren die wirtschaftlich ungeschützten 39 deutschen Staaten und setzten dort die erst im Aufbau befindlichen Industrien unter Druck. List, der wegen seines Eintretens für kommunale Selbstverwaltung in Württemberg politisch verfolgt wurde und in die USA ging, kam als reicher Kohlengruben- und Eisenbahnbesitzer in seine deutsche Heimat zurück und gründete 1819 den »Allgemeinen Deutschen Handels- und Gewerbeverein«. Dieser trat gleichzeitig für die Aufhebung von Binnenzollgrenzen und die Errichtung von Außenzollmauern ein, wie sie 1834 im Deutschen Zollverein umgesetzt wurden, dem die Habsburgermonarchie jedoch nicht beitrat. Auf diese Art wollte Friedrich List »eine gleichmäßige Stufe von Kultur und Macht erreichen«.52

Protektionismus sah er als notwendiges Mittel für eine nachholende Entwicklung an, weil deutsche Fürstentümer »in der Gewerbeindustrie, in Handel und Kolonien, in Schiffahrt und Seemacht noch so unendlich weit hinter England stehen.« Lists Idee eines ganz Deutschland umgebenden Schutzzolls wird bis in unsere Tage unterschiedlich interpretiert. Die einen sehen darin eine rein defensive Maßnahme zum Ausgleich unterschiedlicher nationaler Entwicklungsniveaus. Andere interpretieren in die versuchte Beseitigung nationaler Rückstände das Ziel eines geeinten imperialistischen Auftretens der westlichen Industrieländer gegenüber Kolonien und abhängigen Gebieten hinein. Es war wohl von beidem etwas. Denn List spricht sowohl von einer »Universalunion, welche der Wohlfahrt des menschlichen Geschlechts nur zuträglich sein kann«53, als auch von zu zivilisierenden Regionen im östlichen Mittelmeer und Nordafrika. Er ist also auf wirtschaftlichen Ausgleich in Europa bedacht und gleichzeitig Stichwortgeber für europäischen Imperialismus, zur Mitte der 19. Jahrhunderts keine ungewöhnliche Kombination.

Geradezu wegweisend für spätere Europaideen war der Orientalist und Mitglied der Académie française, Ernest Renan. Er machte sich vor allem als Nationen-Forscher einen Namen, indem er die Nation als eine historisch sich ändernde Solidargemeinschaft darstellte. Seinem berühmt gewordenen Ausspruch »Die Nation ist ein tägliches Plebiszit« fügte er den Wunsch hinzu, »das Nationalitätsprinzip durch das Prinzip der Föderation (zu) regulieren.«54 Mitten im preußisch/deutsch-französischen Krieg 1870/71 erhob Renan die Forderung nach einer europäischen Konföderation, die er »Vereinigte Staaten von Europa« nannte. Diese sollten multinational aus (dem erst im Entstehen begriffenen) Deutschland, Frankreich und England zusammengesetzt sein. Wie die allermeisten Vorstellungen von Europa verstand sich auch das Renan’sche Projekt in klarer Abgrenzung, wenn nicht Feindschaft zu fremden Integrationsräumen, die als bedrohlich empfunden werden. Die Gegner bzw. Konkurrenten seiner europäischen Einigungsidee sah er in Nordamerika, dem russischen Osten und dem Islam, den er als »vollkommene Negation Europas«55 begriff. Renan träumte vom »endgültigen Siegeszug Europas« und vom »Triumph des indoeuropäischen Geistes« als Zivilisationsprojekt. Das aus England, Frankreich und Deutschland herbeiphantasierte Dreigestirn sollte »die Welt, vor allem Rußland, mit den Mitteln des Geistes auf die Pfade des Fortschritts führen«.56

Europa

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