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2. Die Vorgeschichte Europas ideologisches Substrat: Die Verschmelzung von Antike und Christentum

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Griechisches Altertum und Christianisierung sind die beiden Grundpfeiler, auf denen europäisches Sein und Bewusstsein errichtet wurden. Römisches Rechtsempfinden und ein universalistisches Weltbild entpuppten sich als wesentliche Zutaten. Ihr hegemonialer Anspruch begründete den expansiven Charakter des Europäertums.

»Die Griechen erfanden die Freiheit des Einzelnen«, definiert der Historiker Rolf Hellmut Foerster den Ursprung der europäischen Identität und setzt fort: »Der Schritt von verschleiertem Allgefühl zum klaren Weltbewußtsein ließ einen neuen Begriff vom Menschen entstehen. (…) Hier wurzelt unsere Wissenschaft, unsere Philosophie und folglich auch unser Staatsdenken.«10 Der antike griechische (eleutheria) und römische (libertas) Begriff von Freiheit hat mit seiner modernen Verwendung indes wenig zu tun. Im Weltbild von Aristoteles (350 v. u. Z.) war es in philosophischer Hinsicht die Freiheit des Denkens, die gemeint war, und politisch gesehen die Freiheit, »die staatliche Gewalt unter die Bürger des Landes aufzuteilen«, wie es Benjamin Constant schon 1819 beschrieben hat.11 Aus dieser proto-demokratischen Haltung speist sich, rückblickend, die Idee von einer griechisch-europäischen Identität.

Die große Mehrheit der Bevölkerung in der griechischen Antike konnte von Freiheit nicht einmal träumen. Wie das Verhältnis zwischen freien Bürgern und Sklaven war, lässt sich aufgrund fehlender systematischer Volkszählungen schwer schätzen. Einzig in der bevölkerungsreichen Region Attika gab es im 4. Jahrhundert unter Demetrios von Phaleron eine statistische Erhebung. Aus dieser geht hervor, dass dort 21.000 Bürger und 400.000 Sklaven lebten.12 Die antike Gesellschaft der griechischen Stadtstaaten zeichnete sich durch eine extreme soziale Differenz aus, was ihrer Inanspruchnahme als Ursprung europäischer Werte keinen Abbruch tat.

Es war die kulturelle Hegemonie über Küstenstriche, die Götterverehrung beispielsweise im Apollo-Kult, die über ganz Griechenland hinweg gemeinschaftsbildend wirkte. Sie äußerte sich ebenso in Pilgerfahrten nach Delphi. Foerster sieht in diesen kultischen Versammlungen Vorläufer von Bünden wie dem Attischen Seebund oder dem Peloponnesischen Bund, die zwischen den einzelnen Stadtstaaten Verträge schlossen und damit erste »europäische« Verbindungen darstellten.

Im Städtebund der pyläisch-delphischen Amphiktyonie waren seit dem 8. Jahrhundert v. u. Z. nicht zufällig zwölf Stämme zusammengeschlossen, galt doch die Zahl 12 den Griechen als heilig; so existierten zwölf olympische Götter und Herkules musste zwölf Aufgaben erfüllen, um den Mord an seiner Frau und drei Kindern zu sühnen. Im Laufe der Zeit erweiterte sich der Bund auf 30 Mitgliedsstaaten, die sich – dies war der heiligen Zahl geschuldet – die zwölf Stimmen auf gemeinsamen Versammlungen teilen mussten. Ob über 2000 Jahre später in Brüssel der Verantwortliche daran dachte, als er einem Grafikbüro die Aufgabe erteilte, eine Fahne für die Europäische Gemeinschaft zu entwerfen?

Die christlichen Wurzeln haben sich tief ins europäische Sein und Bewusstsein gegraben. Galten den Griechen des Altertums in erster Linie die Perser als Feinde, die sie ihr eigenes, später als europäisch interpretiertes Selbstbild prägen ließen, so betrachtete das christliche Europa die Muslime als entscheidendes Gegenbild. In vorislamischer Zeit dienten noch (germanische) Barbaren bzw. der Kampf gegen diese der christlichen Selbstfindung. Die Zerstörung Roms durch das Gotenheer Alarichs im Jahr 410, dem sich Hundertschaften von entlaufenen Sklaven anschlossen, hinterließ eine traumatisierte frühchristliche Gesellschaft, die sich in Selbstzweifeln aufzugeben drohte. Es war der lateinische Kirchenmann Augustinus (354−430) mit seinem Monumentalwerk »De civitate Dei« (»Über den Gottesstaat«), der der Christenheit wieder Mut einflößte. Augustinus entwickelte einen göttlichen Heilsplan zur Wiedererrichtung eines christlichen Roms und rettete damit – laut Foerster – die Idee Europa, die freilich erst in der Neuzeit als solche auftauchte.13 Augustinus’ Schrift gegen den Untergang, in der er auch den notwendigen, gottgefälligen Krieg preist, gilt seit damals als früh-europäischer Schlüsseltext. Das darin bestimmende christliche Element wurde also erst nachträglich in ein europäisches umgedeutet.

Parallel zu dem seit dem 7. Jahrhundert einsetzenden, wahrlich epochalen christlich-muslimischen Kulturkampf spaltete sich die Christenheit in zwei Lager. Rom und Byzanz/Konstantinopel standen sich bald feindlich gegenüber. Es entstand eine innereuropäische »›Antemurale Christianitatis‹ (Vormauer der Christenheit, d. A.) zwischen dem fränkisch-germanischen, römisch-katholischen ›Westen‹ auf der einen und dem überwiegend süd- und ostslawischen, griechisch-orthodoxen ›Osten‹« auf der anderen Seite.14 Das große Morgenländische Schisma von 1054, das der (west)römische Papst Leo IX. durch die Exkommunikation seines oströmischen Rivalen Michael I. Kerularios in die Wege leitete, vollzog die innerchristliche Scheidelinie formal – sie ist bis heute in Kraft. Nach der Plünderung Konstantinopels durch katholische Kreuzfahrer im Jahr 1204 wartet die Ostkirche bis heute auf eine Entschuldigung Roms. Patriarch Bartolomeos I. forderte eine solche 800 Jahre später anlässlich einer Einladung zum Gedenken an die massenmörderische Tragödie im Festsaal der Wiener Akademie der Wissenschaften. Eine Antwort bekam er nicht, nahm doch sein katholischer Gegenspieler, Papst Johannes Paul II., an der von der kirchlichen Arbeitsgemeinschaft Pro Oriente ausgerichteten Konferenz nicht teil.15

Ein bis in unsere Tage betriebener Europa-Mythos ist mit dem fränkischen König und späterem römisch-deutschen Kaiser Karl (dem Großen) verbunden. In der Geschichtswissenschaft kursiert über seine Wirkungsmacht eine eigene, sogenannte Translationstheorie. Der zufolge ging mit der Krönung Karls zu Weihnachten des Jahres 800 das byzantinische Kaisertum auf den Franken über, womit die Grundlage für das Heilige Römische Reich (später: deutscher Nation) geschaffen worden sei. Dieses bis 1806 bestehende Imperium gilt vielen als historisch bedeutendste Ausprägung einer europäischen Idee, weil seine Staaten-übergreifende Klammer sich als Vorbild für die Europäische Union interpretieren lässt.

Tatsächlich schlitterte der Frankenkönig Karl mitten hinein in eine innerrömische Intrige, von einer Belebung des (römischen) Reichsgedankens oder einer abendländischen Einheit, die ihm Generationen von nachgeborenen Europäern unterstellen, wollte er nichts wissen. Die Geschichte begab sich so: Papst Leo III. hatte Streit mit einem kirchlichen Rivalen, der Rom bürgerkriegsähnliche Zustände bescherte. Um den Rivalen auszuschalten bzw. wegen welcher Delikte auch immer schuldig sprechen zu können, bedurfte es eines kaiserlichen Schiedsspruchs. Doch der Kaiser saß in Byzanz und der Bosporus war weit weg, zudem herrschten winterliche Verhältnisse, die es nicht erlaubten, einen Sendboten in den Osten zu schicken. Also bat Papst Leo III. seinen damaligen Schutzherrn Karl nach Rom, lockte ihn in den Dom und krönte ihn zum Kaiser. Karl versicherte anschließend, dass er nicht in die Kirche eingetreten wäre, hätte er von dem Vorhaben gewusst.16 Papst Leo III. bekam seinen Schiedsspruch und wurde seinen Widersacher los – während Karl nicht zum Schöpfer eines gesamteuropäischen Reiches aufstieg. Im Gegenteil: In weiten Teilen Europas herrschten um das Jahr 800 anarchische Zustände; Spanien, England und Schottland spürten von der Macht des Kaisers ebenso wenig wie Polen, Skandinavien oder Ungarn. Im Jahr 814 erstreckte sich der Fränkische Reich im Westen bis Nantes, im Süden bis Rom und umschloss im Osten Bayern.

Umso verwunderlicher ist es, dass es ausgerechnet jener Karl ist, der dem wichtigsten und renommiertesten Preis »für die europäische Einigung« seinen Namen gibt. Der Karlspreis wird seit 1950 in Aachen vergeben, sein erster Preisträger war der alt-österreichische Adelige Richard Coudenhove-Kalergi (für seine Idee einer paneuropäischen Union; den Adelstitel hatten seine brabantinischen Vorfahren pikanterweise für die Teilnahme am Kreuzzug 1099 erhalten), es folgten u. a. 1952 Alcide De Gasperi (für den italienischen Einsatz zur Gründung der NATO), 1957 Paul Henri Spaak (für das Zustandebringen der Staatengemeinschaft Benelux), 1958 Robert Schuman (für die Gründung der Montanunion), 1963 Edward Heath (für die britischen Beitrittsverhandlungen), 1987 Henry Kissinger (für sein Verdienst um die Entspannungspolitik, zu der die Ausweitung des Vietnam-Krieges und der Putsch gegen Chiles Präsidenten Salvador Allende gehörten), 1988 François Mitterrand und Helmut Kohl (für die deutsch-französische Zusammenarbeit), 1991 Václav Havel (für die Verdienste um das Ende der kommunistischen Herrschaft in der Tschechoslowakei), 1995 Franz Vranitzky (für das Zustandekommen des EU-Beitritts Österreichs), 2000 Bill Clinton (offiziell für das Lancieren der irischen Friedensgespräche, inoffiziell für den Krieg gegen Jugoslawien), 2002 Wim Duisenberg als persönlicher Vertreter des »Euro« (für die Herstellung einer gemeinsamen Währung), 2006 Jean-Claude Juncker (für sein EU-europäisches Engagement), 2018 Emmanuel Macron (für seine Neubegründung des europäischen Projektes, wo immer die Jury ein solches gesehen haben mag).

Karl dem Großen wird jedenfalls bei jeder dieser Verleihungen Unrecht getan, erst seine Instrumentalisierung durch spätere Europabegeisterte auf ihrer Suche nach europäischen Ursprüngen machte ihn zum »Pater Europae«.

Ähnlich erging es den ottonischen Nachfolgern auf dem Kaiserstuhl. Ihre gewaltsam betriebene Christenmission der Slawen und Ungarn verliehen Otto I. (936−973) und Otto III. (980−1002) lange nach deren Tod »europäische« Würden. »Mit dem Sieg am Lechfeld«, schreibt der Historiker Michael Gehler in Anspielung auf die blutige Auseinandersetzung mit dem ungarischen Heer im Jahr 955, »der Slawenmissionierung und der Übernahme der Königsmacht in Oberitalien bekam sein (Ottos, d. A.) Königreich europäische und imperiale Züge.«17 Tatsächlich handelte es sich bei dem für die weitere Geschichte des Kontinents entscheidenden Kriegsgang um eine Konsolidierung Westeuropas, um eine apostolische Mission. Denn der ungarische Heerführer Bulscú war ein christlich getaufter »Patricius« des (ost)römischen Reiches, versehen mit byzantinischen Insignien. Auf dem Lechfeld standen sich also die lateinische und die griechische Welt im Herzen des europäischen Kontinents gegenüber. Otto I. ließ den besiegten Bulcsú unmittelbar nach dem Ende der Schlacht aufhängen, um ihn symbolhaft und weithin sichtbar seiner aus Byzanz mitgebrachten christlichen Heilkraft, die die Taufe mit sich bringt, zu berauben.18 Die Ungarn wechselten daraufhin ins römisch-katholische System. Diese »Heimholung« byzantinisch-orthodox getaufter Christen unter die Fittiche des römischen Papstes wiederholte sich in der späteren Geschichte übrigens immer dann, wenn orthodoxe Gläubige durch territoriale Machtausdehnung in ein weströmisches Umfeld gelangten.19 Die griechisch-katholischen Unierungen seit dem 16. Jahrhundert erfassten weite Teile Osteuropas.

Der bekannte polnische Historiker Oskar Halecki nimmt die Zeitenwende des Jahres 1000 in den europäischen Blick und stellt fest, dass neben der Unabhängigkeit Polens das »neubekehrte Ungarn« sowie die »Bekehrung zum Christentum der drei skandinavischen Königreiche zu selbstständigen Mitgliedern der europäischen Gemeinschaft« die großen Zäsuren jener Tage waren, die als »Enddatum im Aufbau Europas angesehen werden« können.20 Mit dem Begriff des »neubekehrten Ungarn« wird die ausschließliche Anerkennung einer europäischen Identität als eine (west)römische unterstrichen. In Byzanz Getaufte galten schon in der Schlacht am Lechfeld 955 nicht als wahre Christen, wurden 1054 im Zuge des großen Schismas exkommuniziert und während des Kreuzzugs 1204 massakriert. Die Konstruktion des europäischen Selbstverständnisses als ein exklusiv weströmisches, dessen Zentrum sich über die Jahrhunderte von Rom weg oftmals verlagert hatte und aktuell in Brüssel festgemacht werden kann, hat sich seither nicht substanziell verändert. Wir erinnern uns noch an den Fall des Eisernen Vorhanges, der von Politik und Medien im Westen unter dem Stichwort »Rückkehr nach Europa« abgefeiert wurde. Diese euphorisch gebrauchte Wortsentenz, die das Ende der kommunistischen Epoche im Osten des Kontinents beschrieb, stieß sich nicht daran, dass die Rückkehr der osteuropäischen Länder historisch streng genommen eine in die vorkommunistischen Zeiten war, also in die Zeit der Herrschaft von deutschem Nationalsozialismus, italienischem Faschismus und deren osteuropäischen Handlangerregierungen. Dies war mit dem Bild der Rückkehr freilich nicht gemeint, man hatte damit länger Gültiges, Universelles im Sinn, auch wenn dies auf die partikulare Situation in Osteuropa niemals zutraf: die Zugehörigkeit zu einem vom Westen dominierten Europa, dessen Wurzeln in der Verschmelzung von Antike und weströmischem Christentum liegt.

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