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Utopien und Friedensprojekte

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Den bisher besprochenen Europaplänen war – trotz sehr unterschiedlicher geopolitischer Ausrichtungen – eines gemeinsam: sie bauten sich an einem Feindbild auf, das durchgehend anti-osmanisch/türkisch/muslimisch geprägt war und sich bis auf eine Ausnahme (Leibniz) auch gegen Russland wandte. Im Übrigen beruhten die französischen oder deutschen Europaträume auf einem einheitlichen Raum, dessen Erweiterungs- oder Konsolidierungspläne auf Kosten des jeweils anderen umgesetzt werden sollten. Um derlei Europaphantasien ins Werk zu setzen, galt Krieg als zentrales Mittel.

Dass es auch Europaideen ganz anderer Art gab, soll hier nicht verschwiegen werden, wenngleich utopische und pazifistische Projekte von der meisten Literatur mangels Durchsetzungsfähigkeit oft nicht ernst genommen und nicht unter dem Stichwort »Europa« vermerkt werden.

Eine frühe Idee eines friedlichen Zusammenlebens in Europa, für dessen Zustandekommen auch kein Krieg akzeptiert oder gar eingefordert wird, verdanken wir Erasmus von Rotterdam. Der in den späten 1460er-Jahren in den Niederlanden geborene Theologe und Philosoph folgte seinen von ihm selbst postulierten humanistischen Idealen in kompromissloser Art und Weise. Seine Friedensrufe gründen im Bewusstsein, dass alle Menschen gleich sind. »Alle haben denselben Stammvater, denselben Religionsstifter, alle sind sie durch das gleiche Blut erlöst, durch dieselbe Taufe geweiht … alle gehören derselben Kirche an.«57 Dieser Text entstand kurz bevor Martin Luther am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen an der Schlosskirche von Wittenberg anschlug, wodurch bald nicht mehr alle in Westeuropa derselben (katholischen) Kirche angehörten.

Auch dem grassierenden Türkenhass setzte Erasmus seine auf Latein verfasste Schrift »Klage des Friedens« entgegen, in der er den Krieg grundsätzlich ablehnt. Erasmus’ unerschütterlicher Pazifismus hielt ihn auch davon ab, Europa groß zu denken. Er wollte ein friedfertiges Europa und wandte sich deshalb dezidiert gegen Erweiterungspläne und Grenzverschiebungen. In seiner heute naiv anmutenden Sprache will er die Fürsten darauf verpflichten, ihrem Land treu zu bleiben und ihre Macht nicht auszudehnen. Er wendet sich auch gegen das in der Hocharistokratie übliche weltweite Heiratskarussell, wenn er schreibt: »Durch solche wechselseitigen Heiraten geschieht es, daß einer, der in Irland geboren ist, jetzt in Indien regiert, oder wer neulich in Syrien herrschte, bald König von Italien ist. So kommt es, daß keines von beiden Ländern einen Fürsten hat; denn er verließ sein früheres Land und wird in dem späteren nicht anerkannt, weil er dort unbekannt ist.«58 Ein solches Bild von Europa würde heute in der Brüsseler Bürokratie wenig Anhänger finden; umso erstaunlicher ist es, dass ausgerechnet Erasmus’ Name im universitären Milieu für das Gegenteil von dem in Gebrauch ist, wofür der niederländische Humanist stand. »Erasmus-Programme« hetzen Generationen junger Studierender von Universitätsstadt zu Universitätsstadt, um ihnen ein »europäisches« Gefühl zu vermitteln, das so gar nicht nach dem Geschmack des Namensgebers war.

Einen Plan zur totalen europäischen Brüderlichkeit legte zur Mitte des 17. Jahrhunderts der tschechische Theologe und Philosoph Jan Amos Komenský vor. Für den 1592 in Mähren geborenen späteren Bischof der Böhmischen Brüder war die Schlacht am Weißen Berg (1620) das einschneidendste Erlebnis seines Lebens. Habsburgs Sieg über die protestantischen Stände löste nach 1620 eine umfassende gegenreformatorische Repressionswelle aus. Komenský selbst verbrachte Jahre auf der Flucht. Unter diesem Eindruck stehend, verfasste er 1645 einen »Allgemeinen Weckruf«, in dem er Europa nicht als ein von Reichen gebildetes Konstrukt sieht, sondern eine gemeinsame politische Kultur ins Zentrum seiner utopischen Vorstellungen stellt. »Da wir alle Mitbürger einer Welt sind, was hindert uns, in einem Gemeinwesen unter gleichen Gesetzen zusammenzufinden«,59 wünscht sich Komenský eine Welt bzw. einen Kontinent ohne religiöse und politische Verfolgung. Für den Historiker Rolf Hellmut Foerster gehören Ideen wie jene von Komenský nicht in die europäische Schublade, er sieht in den Texten des tschechischen Philosophen eine »Mischung aus panchristlicher Gläubigkeit und Naturlehre« und diffamiert sie als »unerträgliche Traktätelei«.60

Wesentlich konkreter als die obigen idealistischen Vorstellungen eines friedlichen Zusammenlebens in Europa äußerte sich der 1644 in London geborene William Penn. Sein 1692 veröffentlichter europäischer Einigungsplan sah einen tatsächlich ganz Europa umfassenden europäischen Staatenbund mit einem Reichsrat vor. Penn stammte aus einer der reichsten Familien Englands. Von seinem Vater erbte er im Alter von 37 Jahren drei Dutzend Schuldtitel gegen König Karl II. Um diese Schuld zu tilgen, vermachte ihm König Karl II. ein riesiges Landstück in Nordamerika, das dieser in Erinnerung an seinen erblassenden Vater Penns Waldland, Pennsylvania, nannte. Zuvor hatte William Penn als Jugendlicher wegen seiner Mitgliedschaft bei den Quäkern zwei Mal Bekanntschaft mit englischen Gefängnissen gemacht, die Religionsfreiheit war auf den britischen Inseln nicht besonders ausgeprägt. Protestantische Ethik und unermesslicher Reichtum paarten sich bei Penn zu einem liberalen, toleranten und auch pazifistischen Weltbild. Seine amerikanischen Besitzungen, die heutigen Bundesstaaten Pennsylvania und Delaware, spiegelten dies modellhaft wider. Anstatt die indianischen Bewohner zu verjagen und zu töten, wie dies an anderen Orten üblich war, handelte Penn mit ihnen Verträge aus, die sowohl zugezogenen Weißen wie Ureinwohnern persönliche Freiheit zusicherten. Penns Credo der Religionsfreiheit machte zudem aus Pennsylvania einen Ort der Zuflucht für in Europa verfolgte religiöse Minderheiten wie Hugenotten, Böhmische Brüder oder Juden, die er auch persönlich zur Emigration ermutigte. Nach Konflikten innerhalb der Verwaltung Pennsylvanias entschloss sich Penn im Jahr 1712, das Land wieder an die englische Krone zu verkaufen.

Schon zuvor hatte William Penn 1692 sein politisches Vermächtnis in Form einer viel gelesenen Schrift hinterlassen: »Essay über den gegenwärtigen und zukünftigen Frieden in Europa«. Und dieser Essay hat es in sich. Erstmals wird Europa nicht mehr von einer religiösen, politischen und Friedensidee aus gedacht, sondern als wirtschaftliche Einheit, wobei explizit auch der sogenannte »gerechte Krieg« abgelehnt wird. Penn will keinen Fürstenbund mehr, sondern ein Parlament. »Die souveränen Fürsten müßten (…) aus dem gleichen Grund, der die Menschen ursprünglich dazu bewog, sich zu einer Gesellschaft zusammenzuschließen, nämlich aus Friedens- und Ordnungsliebe, übereinkommen, durch ihre bevollmächtigten Vertreter einen allgemeinen Reichstag, eine Generalversammlung oder ein Parlament zu bilden.«61 Das Soldatenhandwerk will Penn gänzlich abschaffen, stattdessen soll die Jugend zu Kaufleuten, Ingenieuren und Bauern erzogen werden.

Die Rechtsgleichheit, die Penn schon in Amerika zwischen Weißen und Indianern ausprobiert hatte, will er auch in »seinem« Europa verwirklicht wissen. Dies entsprach auch einer in seinen Kreisen verbreiteten protestantisch-bürgerlichen Ethik. Logischerweise beinhaltete dies auch die Vision einer Reisefreiheit, die jedem Mann einen Pass garantieren müsse, »der durch die Liga des Friedensstaates legitimiert wird«.62

Das sensationell Neue, bislang historisch nie Dagewesene am Penn’schen Europaplan war, dass er den ganzen Kontinent umfassen sollte. Sein Reichstag bzw. sein Parlament sollte sich aus folgenden Vertretern zusammensetzen: Zwölf aus dem Heiligen Römischen Reich (deutscher Nation), je zehn aus Spanien, Frankreich, dem Osmanischen Reich und Russland, acht aus Italien, sechs aus England, je vier aus Schweden, Polen und den Niederlanden, je drei aus Venedig, Dänemark und Portugal und je einem aus Holstein und Kurland. Türken und Russen im 77 Plätze umfassenden Europaparlament! Dieser Gedanke war revolutionär. In den kommenden 330 Jahren bis heute sollte er kaum je wieder auftauchen, wenn von einem Zusammenschluss Europas die Rede war (und ist).

Zumindest mit dem Russland Peters des Großen wollte es auch der französische Sozialphilosoph und Publizist Charles de Saint-Pierre (1658−1743), genannt Abbé de Saint-Pierre, versuchen. Ab 1712 entwickelte er einen Plan für einen »ewigen Frieden in Europa«, der in relativ unlesbaren Traktaten bis 1717 erschien. Wieder wird ein Staatenbund vorgeschlagen, der diesmal 24 Mitglieder inklusive Russland umfassen soll. Ein solcher Bund wäre, so Saint-Pierre, in der Lage, mit den Osmanen ein Schutzbündnis zu schließen. Ein permanent tagendes Schiedsgericht sollte darüber wachen, »den Kriegszustand in einen ewigen Frieden (zu) verwandeln«.63 Als dann in den 1740er-Jahren der preußisch-österreichische Krieg um Schlesien ausbrach, sah sich Saint-Pierre veranlasst, den Preußenkönig Friedrich II. aufzufordern, ein solches Schiedsgericht, das freilich noch nicht existierte, zur Schlichtung anzurufen. Geworden ist daraus nichts. Stattdessen ist ein Brief von Friedrich II. an Voltaire bekannt, in dem sich dieser über Saint-Pierre lustig macht. Der deutsche König schreibt darin: »Der Abbé de Saint-Pierre (…) hat mir ein schönes Werk über die Art und Weise, wie in Europa der Frieden wiederhergestellt und für immer gesichert werden könnte, zugesandt. Die Sache ist sehr praktisch, um sie zustande zu bringen fehlt weiter nichts als die Zustimmung Europas und einige andere Kleinigkeiten dieser Art.«64 Die Friedensidee von Saint-Pierre zerbrach an der Wirklichkeit.

Jean-Jaques Rousseau machte dann die Gedanken Saint-Pierres lesbar, interpretierte sie später neu und erweiterte sie um soziale Aspekte. Im Auftrag seiner Arbeitgeberin Madame Dupin verfasste der große Aufklärer im Jahr 1756 die Schrift »Extrait du project de paix perpetuelle de Monsieur l’Abbé de Saint-Pierre« (Auszug aus dem Plan eines ewigen Friedens von Herrn Abbé de Saint-Pierre). Darin greift er die Idee eines europäischen Fürstenbundes auf, in dem religiöse Toleranz, völkerrechtliche Gleichheit und gemeinsamer Handel die Fundamente einer friedlichen europäischen Zukunft sein sollen.65 Seinem Weltbild entsprechend, das er kurz darauf im »Contract social« (Gesellschaftsvertrag) publizierte, forderte Rousseau eine Rückbesinnung auf den natürlichen Urzustand des Menschen. Der freie Wille des Einzelnen müsse (wieder) in Übereinstimmung mit der Ausgestaltung der Gesellschaft gebracht werden. Für Rousseaus Europaidee bedeutete dies, dass er von den Trägern des Fürstenbundes auch »sittliche Grundsätze« einforderte, wobei ihm klar war, dass »kein Staatsoberhaupt sich freiwillig zur Gerechtigkeit finden« würde.66 Er sah also nicht, wie Saint-Abbé, nur die politischen Machtgelüste einzelner Fürsten als Hindernis für einen europäischen Zusammenschluss, sondern auch ihre »Geldgier«. Mithin stellt Rousseau auch die soziale Frage und denkt darüber hinaus, dass ihre Lösung einer revolutionären Umwälzung bedarf. Während Saint-Pierre also die politische Umgestaltung propagiert, geht Rousseau einen wesentlichen Schritt weiter und spricht von der Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Umwälzung, um eine friedfertige europäische Zukunft zu erlangen. Sein Skeptizismus gebietet es ihm, einem Staatenbund, der sich auf rein politischer Ebene durch Absprache der Fürsten bildet, kritisch bis ablehnend zu begegnen, wenn er meint: »Man sieht, daß sich föderative Bündnisse nur durch Umwälzungen bilden; und wer von uns könnte infolgedessen zu sagen wagen, ob dieser europäische Bund zu wünschen oder zu fürchten ist? Er würde vielleicht mit einem Schlag mehr Unheil anrichten, als er für Jahrhunderte verhindern könnte.«67 Rousseaus Europa war nicht jenes der Fürsten, sondern eines der Völker.

Der Königsberger Philosoph Immanuel Kant erweiterte 30 Jahre später, immer noch am Vorabend der Französischen Revolution, in seiner »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht«68 Rousseaus europäisches Gesichtsfeld um das einer Weltfriedensordnung. Ihm ging es ausdrücklich nicht um Europa, sondern um »alle Staaten«. Er sprach von einem »Föderalismus freier Staaten«, die er sich ausschließlich als Republiken vorstellen konnte. Die Menschen, so Kant, müssten bereit sein, »aus dem gesetzlosen Zustand der Wilden hinauszugehen und in einen Völkerbund treten, wo jeder, auch der kleinste Staat, seine Sicherheit und Rechte (…) nach Gesetzen des vereinigten Willens erwarten könnte.«69

Den vielleicht letzten großen Visionär eines vereinten, friedlichen, ja pazifistischen Europa kennt die Welt fast ausschließlich als Schriftsteller. Doch Victor Hugo war mehr. Der 1802 im französischen Beşancon geborene Publizist war auch politisch als Abgeordneter des Senats aktiv und trat mehrfach bei internationalen Kongressen auf. Dort schmetterte er den politischen Herrschern seine Ideen von der Abschaffung der stehenden Heere, der Einführung eines allgemeinen Wahlrechts, der Versammlungs- und Pressefreiheit und »der Freiheit der Arbeiter ohne Ausbeutung«70 entgegen. Dafür und wegen seiner Opposition zu Bonaparte, der sich 1852 als Napoléon III. zum Kaiser ausriefen ließ, wurde er für 20 Jahre aus Frankreich verbannt.

Noch vor seiner Verbannung hatte er auf dem Friedenskongress von Paris im August 1849 von den »Vereinigten Staaten von Europa« gesprochen. In seiner Eröffnungsrede sehnt er jenen Tag herbei, »an dem ein Krieg zwischen Paris und London, zwischen Petersburg und Berlin, zwischen Wien und Turin ebenso absurd und unmöglich erscheinen wird, wie heute bereits ein Krieg zwischen Rouen und Amiens, zwischen Boston und Philadelphia absurd und unmöglich ist.«71 Noch empathischer bekräftigte Hugo sein Bild eines zukünftigen Europa anlässlich der Pariser Weltausstellung 1867, die er vom Londoner Exil aus beobachtete und kommentierte: »Im zwanzigsten Jahrhundert wird es eine außergewöhnliche Nation geben (…), sie wird mehr als eine Nation, sie wird eine Zivilisation, sie wird eine Familie sein. Einheit der Sprache, Einheit der Währung, der Maße, der Zeit, der Gesetze … überall werden Schwerter zu Pflugscharen. (…) Diese Nation wird Paris als Hauptstadt haben, und sie wird nicht Frankreich heißen, sie wird sich Europa nennen.«72 Teile der Hugo’schen Vorstellungen haben sich erfüllt, doch von den zu Pflugscharen umgeschmiedeten Schwertern und der Freiheit der Arbeiter ohne Ausbeutung ist das Brüsseler Europa des 21. Jahrhunderts weit entfernt.

In den 1830er-Jahren gründeten Künstler und Intellektuelle in vielen europäischen Staaten Sammelbewegungen, die Ideen einer nationalen Wiedergeburt mit revolutionären Ansätzen verknüpften, wobei dem Wiedergebären meist eine imaginierte Nation zugrunde lag. So entstanden im Gefolge der französischen Julirevolution 1830 das »Junge Deutschland« als Literatenklub (mit u. a. Heinrich Heine und Heinrich Laube) und das »Junge Italien« (mit Giuseppe Mazzini) als wesentlich politischere Einrichtung als ihr deutsches Pendant. Kurzfristig existierte auch ein Zusammenschluss unterschiedlicher national und/oder bürgerlich revolutionär gesinnter Gruppen, die das Bulletin »Junges Europa« herausgab. Darin erschien im Jahr 1845 ein Aufruf zu einer demokratischen Umgestaltung des Kontinents, beschrieben als »europäische Assoziation, eine Föderation von Völkern auf dem Prinzip der nationalen Souveränität«.73 Die darin enthaltene Losung »Heilige Allianz der Völker« muss als revolutionärer Gegenentwurf zur reaktionären Heiligen Allianz gelesen werden, die 1815 zwischen den Monarchen Russland, Österreichs und Preußens geschlossen wurde.

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