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Gegen den drohenden Hegemonieverlust: Paneuropa

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Im Völkerschlachten des Ersten Weltkrieges zerstoben – vorerst – alle Europaideen. Zwischen der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien am 28. Juli 1914 und der Waffenstillstandsvereinbarung vom 11. November 2018 starben geschätzte 20 Millionen Menschen unmittelbar an den Folgen des erbarmungslosen Hauens und Stechens. Die Hälfte von ihnen waren Zivilisten, die andere Hälfte Soldaten. Die Entente (Russland, Frankreich, das Vereinigte Königreich und Verbündete) beklagte fünf Millionen getötete Kämpfer, die Mittelmächte (Österreich-Ungarn, Deutsches Reich, Osmanisches Reich und Bulgarien) knapp vier Millionen. Dazu kamen nochmals 21 Millionen Verletzte auf allen Seiten.74 Europa war tot, und mit ihm auch die Idee davon.

Und doch wieder nicht. Denn mitten im blutigsten Jahr der Schlachtengänge, 1915, schrieb der evangelische Theologe und Mitglied des deutschen Reichstages, Friedrich Naumann, ein Programm für eine mitteleuropäische Wirtschaftsgemeinschaft unter dem Titel »Mitteleuropa«.75 Er wollte bewusst einer Nachkriegsordnung vorgreifen: »Während ich dies schreibe, wird im Osten und Westen gekämpft. Absichtlich schreibe ich mitten im Krieg, denn nur im Krieg sind die Gemüter bereit, große umgestaltende Gedanken in sich aufzunehmen.«76 Naumanns Mitteleuropa war ein deutsch geführtes. Er sprach von einem »Zusammenwachsen derjenigen Staaten, die weder zum englisch-französischen Westbunde gehören noch zum russischen Reiche«, vor allem aber vom »Zusammenschluß des Deutschen Reiches mit der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie«.77 »In dieser heraufziehenden Geschichtsperiode (…) ist Preußen zu klein und Deutschland zu klein und Österreich zu klein und Ungarn zu klein.«78 Was Bismarck verabsäumt hatte, die großdeutsche Lösung, Naumann propagierte sie: Zwei Kaiserreiche mit all ihren Rand- und Erweiterungsgebieten sollten bis weit nach Osten die Fahnenstange Mitteleuropas setzen. »Mitteleuropa wird im Kern deutsch sein, wird von selbst die deutsche Welt- und Vermittlungssprache gebrauchen, muß aber vom ersten Tag an Nachgiebigkeit und Biegsamkeit gegenüber allen mitbeteiligten Nachbarsprachen zeigen, weil nur so die große Harmonie emporwachsen kann, die für einen allseitig umkämpften und umdrängten Großstaat nötig ist.«79 So hörte sich mitten im Völkerschlachten die damals vorherrschende Version des Multikulturalismus an.

Schon eine Woche nach dem Waffenstillstand gründete Naumann die »Deutsche Demokratische Partei« (DDP), die sich nach einer Fusion mit einer weiteren liberalen Kleinpartei »Deutsche Staatspartei« nannte. Dem deutschen Staat war Naumann Zeit seines Lebens – so unterschiedlich seine Ausprägungen vor und nach 1918 auch gewesen sein mögen – treu ergeben. In der wilhelminischen Epoche unterstützte er den preußischen Militarismus und die Kolonialpolitik des Kaisers, nach Kriegsende engagierte er sich anfangs, auch finanziell, im Rahmen der sogenannten »Antibolschewistischen Liga« gegen das kommunistische Russland und setzte sich mit seiner Vision eines Mitteleuropa für ein geopolitisches Konstrukt ein, das gerade eben erst unter der Führung dreier Monarchen einen Krieg verloren hatte.

Anfang der 1920er-Jahre betrat dann der promovierte Philosoph Richard Coudenhove-Kalergi die politische Bühne. Der japanisch-österreichische Graf mit tschechoslowakischer und später französischer Staatsbürgerschaft warf den Begriff Paneuropa in die Debatte. Das Präfix »pan« leitet sich vom Griechischen für »alles« bzw. »total« ab. So wollte der in Tokio geborene Kalergi auch sein Europa verstanden wissen, als er 1923 im Alter von 29 Jahren »Das pan-europäische Manifest«80 veröffentlichte. Anders als viele weiter oben beschriebene friedenspolitisch inspirierte Ideen des 19. Jahrhunderts setzte Coudenhove-Kalergi nicht auf Gesellschaftsveränderungen oder gar revolutionäre Kräfte. Sein Paneuropa machte bereits in seiner Symbolik auf dem Umschlag der Broschüre klar, woher die Inspiration kam und wohin das Projekt gehen sollte. Das rote Kreuzritterkreuz auf gelbem Grund wurde auch zum Logo der Paneuropa-Bewegung, deren Flagge heute zusätzlich zwölf goldene (EU)-Sterne zieren.

Christentum und Russlandfeindschaft waren die ideologischen Geburtshelfer der Paneuropa-Bewegung, die vor allem zwei drohenden Gefahren entgegentreten wollte: dem Krieg christlicher Staaten untereinander und einem Russland, gleich ob es nach 1918 unter bolschewistisch-roter oder unter reaktionär-weißer Führung wiedererstarken würde. Noch ganz unter dem Eindruck der verheerenden Waffengänge des Ersten Weltkriegs warnt Kalergi vor einem neuerlichen »europäischen Vernichtungskrieg (…), der unseren Erdteil in einen Friedhof verwandeln würde«.81 Sein Ton ist pathetisch, seine Botschaft »pan«, total: »Europas Schicksalsstunde schlägt«, heißt es im Manifest. »In europäischen Fabriken werden täglich Waffen geschmiedet, um europäische Männer zu zerreißen, in europäischen Laboratorien werden täglich Gifte gebraut, um europäische Frauen und Kinder zu vertilgen. (…) Europas Politik steuert einem neuen Krieg zu. (…) Dieser drohende Krieg bedeutet den gründlichen Untergang Europas, seiner Kultur und Wirtschaft. (…) Die zweite Gefahr, der ein zersplittertes Europa entgegengeht, ist: die Eroberung durch Rußland (…). Unter Führung eines roten oder weißen Diktators könnte Rußland, durch gute Ernten, amerikanisches Kapital und deutsche Organisation sich schneller aufrichten, als Europa ahnt. Dann werden die zersplitterten und uneinigen Kleinstaaten Europas der einigen russischen Weltmacht gegenüberstehen. (…) Vor dieser Gefahr gibt es nur eine Rettung: den europäischen Zusammenschluß. (…) Darum werft, Europäer, die europäische Frage in alle Debatten. Zwingt eure Mitmenschen, sich zu entscheiden für oder gegen den europäischen Gedanken. Macht es allen klar, daß es hier um alles geht.«82

Wie mit Zweiflern oder Gegnern seiner Paneuropa-Idee umzugehen sei, auch da machte Graf Coudenhove-Kalergi klar, dass er aufs Ganze gehen und jeden Widerspruch im Keim ersticken wollte: »Die, welche aus Blindheit Antieuropäer sind – klärt auf! Die es aus Wahnsinn sind – bekämpft! Die es aus Profitsucht und Ehrgeiz sind – vernichtet!«83 Europa, Wahnsinn oder Tod, lautete Kalergis Devise, Alternativen existierten für ihn keine. Er war vom Wettlauf zwischen Europas Einigung und Russlands Wiederaufrichtung überzeugt. Eine Brücke dazwischen sah er nicht und wollte sie, ganz in der Tradition spätmittelalterlicher Europabilder, nicht sehen.

Geographisch durchschnitt das Kalergi’sche Paneuropa den Kontinent in seiner Mitte, die Grenze sollte von Finnland bis zum Schwarzen Meer verlaufen, oder genauer »die Luftlinie, die Königsberg mit Odessa verbindet« darstellen, wie der Paneuropäer es in seinem später erschienen Buch »Weltmacht Europa«84 definierte. Die britischen Inseln und Irland sollten aus der Paneuropa-Idee ausgespart bleiben. Dies entsprach auch der Selbsteinschätzung weiter Kreise in Großbritannien. So fasste der nach 1945 zum »Europäer« mutierte Winston Churchill Anfang 1930 in einem Zeitungskommentar den Zugang der britischen Bourgeoisie zu einem Europa-Projekt folgendermaßen zusammen: »Wir sehen nur Gutes und Hoffnungsvolles in einer reicheren, freieren und zufriedeneren europäischen Gemeinschaft. Aber wir haben unseren eigenen Traum und unsere eigene Aufgabe. Wir sind mit Europa, aber nicht in Europa; mit ihm verbunden, aber nicht eingeschlossen.«85 Damit brachte das liberal-konservative Aushängeschild der herrschenden Klasse im Vereinigten Königreich die Sonderstellung der Inseln perfekt zum Ausdruck.

Zurück zur Paneuropa-Bewegung. Organisatorisch war sie als Verein organisiert, der mit großen Namen auf der Mitgliederliste kokettierte. Ihr Gründungskongress fand im Herbst 1926 in Wien unter der Schirmherrschaft des radikal-katholischen Prälaten und Bundeskanzlers Ignaz Seipel statt, der aus seiner Sympathie für die Militarisierung seiner christlich-sozialen Partei keinen Hehl machte. Unter den 2000 Delegierten fanden sich tatsächlich eine erquickliche Zahl prominenter Namen wie der frühere deutsche Reichskanzler Joseph Wirth, der amtierende tschechoslowakische Außenminister Edvard Beneš und der spätere französische Finanzminister Joseph Caillaux. Anfangs unterstützten auch Persönlichkeiten der politisch linken Reichshälfte die Paneuropa-Idee, so der Franzose Léon Blum, der Portugiese José Ortega y Gasset oder Albert Einstein. Eine Massenbasis blieb der Paneuropa-Union verwehrt, finanziell konnte sie sich hingegen über oft hohe Zuwendungen aus den Beständen des reichen Blut- und Geldadels – wie Coudenhove-Kalergi die alten und neuen Eliten genannt haben würde – nicht beschweren. Die erste Großspende kam in Form von 60.000 Goldmark vom Hamburger Banker Max Warburg.86

Die Paneuropa-Union besteht bis zum heutigen Tag. Mitte 2020 wird sie vom französischen Gaullisten Alain Terrenoire präsidiert, spielt aber politisch keine Rolle. Eine kurze Hochphase hatte sie im August 1989, als sie nahe der Grenze zu Österreich auf der ungarischen Seite ein sogenanntes »paneuropäisches Picknick« abhielt. Der damalige Präsident der Organisation, der CSU-Abgeordnete und Sohn des letzten österreichischen Kaisers Otto Habsburg, richtete diese Demonstration gemeinsam mit der ungarischen »Partei des demokratischen Forums« (MDF) aus. Flugblätter zur Teilnahme am Picknick wurden auf Campingplätzen rund um den Balaton an UrlauberInnen aus der DDR verteilt. Im Gefolge schlüpften 600 Ostdeutsche in den Westen. Die erste Massenflucht aus der DDR fand unter Anleitung der Paneuropa-Union an der ungarisch-österreichischen Grenze statt.

Einer der wenigen hochrangigen Politiker der Linken, die sich dem paneuropäischen Gedanken verpflichtet sahen, war der Franzose Aristide Briand. Als mehrfacher Ministerpräsident führte er die Sozialisten politisch in die Mitte. Als Außenminister unterzeichnete er 1925 mit seinem deutschen Gegenüber, dem nationalliberalen Gustav Stresemann, die Verträge von Locarno, die unmittelbar eine Entmilitarisierung des Rheinlandes bewirkten und mittelfristig eine deutsch-französische Aussöhnung herbeiführten. Diese war nach dem von Berlin als »Schandfrieden« bezeichneten Versailler Vertrag von 1919 keine Selbstverständlichkeit. Briand und Stresemann erhielten dafür im Jahr 1926 den Friedensnobelpreis. Mit der deutsch-französischen Annäherung verfolgte Stresemann allerdings, was in der Rezeption dieses Ausgleichs vielfach vergessen wird, geopolitische Interessen. Er wollte damit eine Verständigung Frankreichs mit Großbritannien auf der einen und/oder mit Russland bzw. der Sowjetunion auf der anderen Seite verhindern.87 Zu sehr stand Berlin noch unter dem Schock der anti-deutschen Allianz von vor dem Ersten Weltkrieg.

Mit seinem Memorandum vom 17. Mai 1930 (»L’organisation d’un régime d’union féderale européenne«) ging Aristide Briand noch einen Schritt weiter. Im Rahmen des 27 Mitglieder umfassenden Völkerbundes wollte er eine »Europäische Konferenz« einrichten, die der »Aufstellung des Grundsatzes zur moralischen Einheit Europas und zur feierlichen Bekräftigung der zwischen europäischen Staaten geschaffenen Solidarität«88 verpflichtet sein sollte. Im Briand’schen Europakonzept blieb die nationale Souveränität oberstes Gebot, es stand »auf der Grundlage des Gedankens der Einigung, nicht der Einheit«89, wie es dazu hieß. Die Mitgliedsstaaten des Völkerbundes zeigten sich höflich daran interessiert, außer der deutschen und der tschechoslowakischen Zustimmung ereilte das Memorandum allerdings das Schicksal vieler gut gemeinter Ratschläge; es landete im Papierkorb. Die Folgen der Weltwirtschaftskrise 1929–1931, die erst langsam alle Branchen erfasste, sowie die kalte Schulter, die London dem Unterfangen zeigte, hatten dieser wohl wichtigsten Europa-Initiative der Zwischenkriegszeit den Todesstoß versetzt. Als dann am 31. Juli 1932 die NSDAP als Siegerin aus den Reichstagswahlen in Deutschland hervorging, war es mit der Idee einer auf friedlichem Wege hergestellten europäischen Einheit für lange Zeit vorbei.

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