Читать книгу Weißes Gift - Hannes Wildecker - Страница 10
Kapitel
ОглавлениеDer kommende Tag sollte hektischer und noch weniger aufschlussreich werden als der Vorabend. Leni und ich hatten uns im Hotel „Bergkristall“ einquartiert. Der Name des Hotels war bezeichnend, denn in Idar-Oberstein ist das deutsche Edelstein-Handwerk zuhause. Die Zahl der Edelstein - Schleifereien scheint unendlich zu sein. Entlang der Edelstein – Straße gibt es zahlreiche Edelstein- und Schmuckbetriebe. In viele darf man hineinschauen, darf bei der Bearbeitung zusehen. Und, natürlich, auch edles Gestein kaufen.
Früher wurden Am Steinkaulenberg bei Idar-Oberstein Edelsteine zutage gefördert. Das hat sich alles geändert. Heute ist es wirtschaftlicher, die Steine zu importieren und nur zu bearbeiten. Das Suchen überlässt man jetzt den Touristen. Und die finden tatsächlich immer wieder kleine Brocken von Achat, Jaspis oder Amethyst entlang der so genannten Deutschen Edelsteinstraße, einer rund 70 Kilometer langen Themenstraße rund um Idar-Oberstein
In dieser Nacht konnte ich kaum ein Auge zumachen und stand schon vor Aufgehen der Morgensonne vor Lenis Zimmer. Ich wollte zaghaft klopfen, um festzustellen, ob sie noch schliefe, doch im gleichen Moment öffnete sich die Zimmertüre, so dass der Knöchel meines Zeigefingers Leni beinahe ins Auge getroffen hätte.
„Isch kann auch net schlafen“, entfuhr es ihr in ihrem Adenauer Dialekt und man sah ihr ebenfalls eine durchwachte Nacht an.
„Also auf zu frischen Taten!“
Am Frühstückstisch schmiedeten wir den Ablauf des heutigen Tages, Eine halbe Stunde konnten wir uns noch Zeit lassen. Was zur Gefahrenabwehr erforderlich war, hatten wir noch gestern erledigt. Kollege Emmerich hatte uns dabei tatkräftig unterstützt.
„Also, die Filialen der Lebensmittelkette ‚Gutkauf’ sollten jetzt Deutschland weit informiert sein und ihre Bestände überprüfen“, ging ich mit Leni noch einmal alles durch.
„Die Polizeidienststellen haben alle Kenntnis und schließen sich mit den Filialen, in denen verunreinigte Lebensmittel auftauchen werden, kurz und veranlassen alles Notwendige wie Sicherstellung, Untersuchung durch die Chemischen Labore und so weiter.“
„Das bedeutet, wir können uns voll auf unsere Arbeit hier in Idar-Oberstein konzentrieren“, meinte Leni. „Aber siehst du das nicht auch so? Ohne einen entscheidenden Hinweis haben wir doch keinerlei Anhaltspunkt, wo wir mit den Ermittlungen ansetzen können. Wer macht so etwas, das mit den Lebensmitteln? meine ich. Welche Motive haben solche Menschen?“
„Vielleicht hat ja die Herstellerfirma jemandem irgendwann einmal auf die Füße getreten. Vielleicht hat er irgendwann bei den ‚Hunsrück – Milchwerken’ gearbeitet und wurde gefeuert. Wir werden dort ansetzen.“
„Und was ist mit Piefke?“
Ach ja, Piefke. Den hatte ich schon ganz vergessen.
„Um den kann sich Emmerich kümmern. Aber mehr als gestern Abend wird Piefke ihm auch nicht erzählen können.“
Ich wählte auf dem Handy die Nummer von Emmerichs Büro und sagte dem Kollegen, was wir vorhatten. Dann fuhren wir los in das sechzig Kilometer entfernte Weilersberg. Schon von weitem erkannten wir anhand der riesigen Werbung, wo unser Ziel lag. Eine riesige Leuchttafel mit der Aufschrift „Hunsrück-Milchwerke“ machte uns sozusagen den Weg frei.
Der Pförtner, ein älterer Herr im Rentenalter, mit schlohweißem Haar, meldete uns telefonisch an.
„Sie möchten sich einen Moment gedulden“, sagte der Mann in unverkennbar moselfränkischem Dialekt. „Es kommt gleich jemand zu Ihnen.“
Dann widmete er sich wieder seinen Zeitungen und ich sah, dass er dabei war, ein Kreuzworträtsel auszufüllen. Auch nicht gerade die Erfüllung, so ein Job, dachte ich. Leni sah sich derweil gelangweilt durch die Fenster die Außenwelt der Milchwerke an.
Nach etwa zehn Minuten öffnete sich die Verbindungstüre zur Pförtnerloge und ein Mann, Mitte Vierzig, die Haare auf eine Länge kurz geschnitten und gekleidet in einem dunklen Anzug, als käme er gerade von einer Beerdigung, steuerte auf uns zu.
„Sie sind die Herrschaften von der Kripo? Seien Sie herzlich willkommen. Mein Name ist Dr. Miroslaw Kubicka. Ich bin hier der Leitende Ingenieur.“
Ich stellte Leni und mich vor und kam sofort zur Sache.
„Sie haben unsere Mitteilungen bezüglich der Milchverunreinigungen in der Lebensmittelkette ‚Gutkauf’ erhalten, davon gehe ich aus. Wie ist der jetzige Stand?“ Ich wollte von Kubicka einfach hören, was von Seiten der Produktionsfirma unternommen wurde. Es kam schließlich auf jede Minute an.
„Ich habe persönlich heute Morgen bei Arbeitsbeginn sofort mit der Direktion von ‚Gutkauf’ telefoniert. Mir wurde zugesichert, dass sofort damit begonnen würde, in den Filialen mit der Separierung der betreffenden Milchbehältnisse zu beginnen“, berichtete der Ingenieur, der auf mich einen aufgeschlossenen und hilfsbereiten Eindruck machte. Nun konnte eigentlich kaum noch etwas schieflaufen. Druck genug war jetzt eigentlich auf die Direktion von „Gutkauf“ ausgeübt worden. Die Filialen wussten Bescheid, die Fernseh- und Radiosender müsste Kollege Emmerich inzwischen benachrichtigt haben. Eine Aufklärung der Bevölkerung war nun erste Priorität.
Während wir mit Kubicka den Bürotrakt durchschritten und er uns in sein Büro führte, konnte ich feststellen, dass ihm die Angelegenheit doch sehr naheging. Dachte er nun an die Menschen, die möglicherweise in Lebensgefahr schwebten oder hatte er Sorge um das Image seiner Firma? Oder deren Existenz?
Wir betraten das großräumige Büro, das ausgelegt war mit einem samtzarten Veloursteppichboden in dezentem Beige. Die Sonne, die durch die überdimensionalen Fenster in den Raum schien, brachte eine wohlige Wärme. Ich betrachtete die Fotos an den Fenstern der gegenüber liegenden Wand.
„Unsere Firmenchefs seit der Gründung“, beantwortete Kubicka meine ungestellte Frage. "Milch ist mittlerweile weltweit ein gefragtes Lebensmittel. Zurzeit sind wir mit den Hunsrück-Milchwerken die Nummer drei in Deutschland und liegen europaweit unter den 20 größten Molkereien“, erklärt uns Kubicka stolz, wie weit es die Firma gebracht hat.
„Inzwischen sind wir bei knapp 1,2 Milliarden Euro angekommen und peilen die Marke von zwei Milliarden Kilogramm Milch an. Damit wären wir bei den größten europäischen Milcherzeugern angekommen. Es gibt längst keine Milchseen und Butterberge mehr in der Europäischen Union. In Weilersberg rechnet man sich auf dem freien Weltmarkt zukünftig gute Chancen aus. Wir wollen bald schon bei 40 Prozent Exportanteil sein.“
Kubicka beendete sein Referat und drückte auf einen Knopf an der Sprechanlage auf seinem Schreibtisch.
„Frau Krabbe, bringen Sie doch bitte drei Kaffee in mein Büro. Danke!“ Und zu uns gewandt: „Wie geht es jetzt weiter?“
Bevor ich etwas antworten konnte, hatte Leni bereits die Initiative ergriffen.
„Also, die Frage ist doch: Wie kommt das Gift, ich nenne die Substanz einfach einmal so, in die Milch? Wir sehen da verschiedene Möglichkeiten. In einer dieser Theorien kommt, und dafür werden Sie sicherlich Verständnis haben, auch Ihre Firma vor.“
„Wurden in letzter Zeit Arbeiter aus Ihrer Firma entlassen?“ fragte ich Kubicka. „Haben Sie sich beispielsweise uneinig von einem Ihrer Angestellten getrennt? Hat irgendjemand einen Grund, Ihnen auf eine solche Art und Weise mitzuspielen?“
Kubicka griff zum Telefon, wählte eine zweistellige Nummer und gab eine knappe Anweisung.
„Bringen Sie bitte die Abgänge des vergangenen Jahres zu mir.“
Es klopfte und eine junge attraktive Dame, blond mit langen Beinen, an denen hochhackige Pumps den zarten Teppich des Raumes eindrückten, offensichtlich Kubicka`s Sekretärin, brachte Kaffee. Sie schenkte lächelnd ein und verließ wortlos den Raum.
Der Kaffee tat gut. Um diese Zeit hatte ich meist schon die dritte Tasse intus und den ganzen Tag über brachte ich es schon auf acht bis zehn Tassen. Eine kleine Sucht, pflegte Lisa dann zu sagen. Offenbar hatte sie Recht.
Der Kaffee schmeckte richtig gut und er tat wohl. Ich setzte die Tasse ab und sah Kubicka an.
„Welche Möglichkeiten gäbe es in Ihrem Betrieb, um die Milch zu verunreinigen? Gibt es Kontrollen oder Untersuchungen des Produkts vor dem Versand?
„Eine direkte Antwort von mir: Ich kann mir nicht vorstellen, dass es in unserem Betrieb passiert ist. Sehen Sie, nachdem die abgefüllte Milch in die Vorratshallen kommt, werden Stichproben entnommen, die in unserem betriebseigenen Labor untersucht werden. Das soll ausschließen, dass Verunreinigungen, wie sie in einer Fabrik durchaus vorkommen könnten, natürlich nicht sollten, entdeckt und ausgeschlossen werden. Das bedeutet: Bis zu dieser Kontrolle kann nichts manipuliert werden.“
„Und danach?“
„Nach dieser Kontrolle wäre es durchaus möglich, der Milch etwas hinzuzufügen. Aber das wäre ausschließlich durch ein Injektionsverfahren möglich, das eigentlich nur in der Lagerhalle durchgeführt werden kann. Aber bedenken Sie: Milch ist nur begrenzt haltbar. Durch die fremde Substanz und die zwangsläufige Luftzufuhr würde sie spätestens beim Verbraucher verdorben ankommen. Es sei denn, die Öffnung würde tatsächlich wieder luftdicht verschlossen. Das wäre aber zu viel Aufwand für den Täter, glauben Sie nicht auch?“
Ich sah Kubicka, ohne etwas zu sagen, nachdenklich an.
„Sie glauben doch nicht, dass in unserem Betrieb…? Das kann doch auch in den einzelnen Läden passiert sein.“
„Da haben Sie wohl Recht“, gab ich zu. Aber wir müssen es herausfinden. Dazu gehören auch die Ermittlungen in Ihrer Firma. Denn theoretisch kann auch hier die Substanz der Milch beigegeben worden sein. Das müssen Sie doch einsehen!“
Es klopfte und ein Mann in Jeans und blauem Oberhemd trat ein, eine dicke Aktenmappe unter dem Arm.
„Darf ich vorstellen, unser Personalleiter, Herr Wiebert. Die Herrschaften sind von der Kriminalpolizei. Herr Wiebert hat die Daten über alle Neuzugänge und Entlassungen innerhalb des vergangenen Jahres mitgebracht. Herr Wiebert, bitte!“
Wiebert, der auf mich den Eindruck eines Musterbeispiels von einem Buchhalter machte –ihm fehlten lediglich die Ellbogenschoner- las die Namen der einzelnen Personen langsam und bedächtig vor, teilte die Daten der Entlassungen und der Gründe für das Ausscheiden aus der Firma mit und beobachtete nach jedem Namen durch seine dicke Hornbrille unsere Reaktion. Genauer gesagt, die Reaktion von Dr. Miroslaw Kubicka. Der schüttelte immer wieder den Kopf, bis der Name Claus Schäfers fiel.
„Warten Sie mal, Wiebert!“ Kubicka runzelte die Stirn, als ob er nachdächte. „Schäfers, Schäfers, das war doch der, den wir vor einem Dreivierteljahr wegen Unzuverlässigkeit entlassen mussten. Mit Unzuverlässigkeit meine ich, dass er seine Arbeit an der Bandmaschine nicht zuverlässig ausgeführt hat.“
„Ja, er hat mehrfach das Band verlassen, um sich mit Kollegen zu unterhalten, die sich ihrerseits wiederum gestört fühlten. Wir hatten ihn wegen dieser Vorfälle mehrfach ermahnt und schließlich hatten wir keine andere Wahl mehr. Sie sehen ja selbst, wohin das führen kann, wenn man die Sorgfalt schleifen lässt.“
„Glauben Sie, diese Entlassung war für ihn Grund, sich zu rächen? Wie sehen seine Familienverhältnisse aus? Kennen Sie seine Schwächen? Trinkt er? Hat er Schulden?“ fragte ich.
„Aus der Akte geht hervor, dass er geschieden wurde. Sein derzeitiger Familienstand ist uns nicht bekannt. Und was die Frage bezüglich einer Rache betrifft: Ich weiß es nicht. Gedroht hat er uns damals nicht. Ich erinnere mich, dass er sagte: ‚Ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt’. Aber das kann vieles bedeuten.“
„Darf ich um die Anschrift von diesem Schäfers bitten?“ warf ich ein. „Wir werden uns um den Mann kümmern.“
„Schäfers wohnt in… warten Sie mal.“ Wiebert blätterte in den Akten. „Da ist es schon. Also, Claus Schäfers, 42 Jahre alt, geschieden, wohnhaft in Weilersberg, Morbacher Straße 33. Ich erinnere mich, er wohnt in einem kleinen Haus, eher eine Art Hütte, einer Behausung, wie man so sagt.“
„Dann wollen wir mal“, sagte ich.
Doch dann geschah etwas, das die Überprüfung von Schäfers noch einige Zeit hinten anstellen ließ. Ein Vorfall, der auf den ersten Blick keinen Zusammenhang mit der Verunreinigung der Milchprodukte erkennen ließ. Doch in dieser Hinsicht sollten wir uns gewaltig täuschen.