Читать книгу Weißes Gift - Hannes Wildecker - Страница 13
6. Kapitel
Оглавление„Spürmann, was ist denn da bei Ihnen los? Erst ein Toter durch eine Lebensmittelvergiftung und jetzt noch ein Toter im Stausee Talbrück. Aber davon wissen Sie ja noch nichts! Aber, Sie sind doch da oben in der Gegend. Es steht noch nicht fest, ob es ein Suizid ist oder ob Fremdverschulden vorliegt. Übernehmen Sie den Fall. Vielleicht spielt er ja in Ihre Ermittlungen hinein. Wenn nicht, schicke ich Ihnen noch heute Abend jemand vorbei, der sich um die Sache kümmert. Sie melden sich auf jeden Fall im Laufe des Abends bei mir. Ist das klar?“
Ja, Chef, das ist klar. Doch ich muss mir doch erst selbst mal ein Bild machen. Wenn der Tote in meine, ich meine in unsere Ermittlungen hineinspielt, dann wird es morgen hier in Idar-Oberstein richtig rundgehen. Aber ich sehe bislang keinen Zusammenhang. Ich melde mich.“
„Wie weit sind Sie denn nun mit Ihren Ermittlungen? Die Presse sitzt mir im Nacken und Staatsanwalt Rödel nervt bereits und will Erfolge, Sie kennen ihn ja. Verdammt, die will ich in absehbarer Zeit aber auch sehen. Es kann doch nicht wahr sein, dass es bei der ganzen Ermittlungsarbeit keinerlei Anhaltspunkte, geschweige denn Beweise gibt!“
Willibald Wittenstein wirkte außerordentlich ungeduldig. Es gab zwar noch keinen Grund dafür, aber er verlor sich in Vorwürfe, wie er es eigentlich immer tat. Und wie immer ließ ich ihn gewähren und hielt den Hörer ein gutes Stück von meinem Tinnitus gequälten Ohr entfernt. Doch wenn Wittenstein tobte, das wussten wir alle, war bald wieder Ruhe im Karton. Diese kleine Schwäche gönnten wir ihm alle, denn er kam schnell hinter seine eigene Luft, wie man auf dem Lande sagt. Will heißen, beim Reden verausgabte sich Wittenstein meist so sehr, dass er sich keine Zeit zum Luft holen einräumte. Den Rest besorgte seine Allergie, deren Ursache einfach nicht gefunden werden konnte. Die letzten Worte seines Satzes verebbten so immer mehr in einem knirschenden See des Schweigens, gefolgt von hektischen Atemzügen, die ihm die verausgabte Kraft langsam wieder zurückgaben.
Aber Wittenstein war schon in Ordnung. In seiner Position –er war immerhin der Leiter aller Kriminalinspektionen zusammen und somit Chef der Kriminaldirektion, wie sich seine Funktion in der Hierarchie genau bezeichnete- hatte oftmals schon massivem Druck von außen Stand halten müssen.
Da war die Staatsanwaltschaft, die übergeordnete Behörde der Polizei und damit weisungsbefugt, da war die Presse, die, wenn es ihr passte, auch einmal das schrieb, was nicht unbedingt in den Wahrheitsrahmen passte und da war natürlich auch sein Vorgesetzter, der Polizeipräsident, der wiederum seinem Chef dem Innenminister Rechenschaft ablegen musste. So pflanzte sich der Druck von oben nach unten fort, bis er das kleinste Rad im Getriebe erreicht hatte. Das war momentan meine Wenigkeit, denn ich war der Ermittler in diesem Fall, oder, wie man im Beamtendeutsch zu sagen pflegt, der Sachbearbeiter.
Ich setzte Wittenstein über die bisherigen Ermittlungen in Kenntnis und erzählte ihm alles bis in die Einzelheiten, die eigentlich keine waren. Bisher umgab mich nur ein grobes Geflecht von Tat und Opfer. Nicht die Spur eines Verdachts, nicht einmal die einer Vermutung.
Ich versprach Wittenstein, mich sofort wieder zu melden, wenn es etwas Aussagekräftiges gäbe.
„Na, denn man los!“ waren seine letzten Worte, bevor er auflegte.
Von Idar-Oberstein bis Talbrück waren es an die vierzig Kilometer. Leni und ich waren sofort nach Wittensteins Anruf losgefahren. Den Toten hatte man vor einer Stunde aufgefunden, dreißig Minuten würden wir noch brauchen, um vor Ort zu sein. Falls mein alter Opel Astra durchhalten sollte. Der TÜV hatte ihm kürzlich nach einem Werkstattaufenthalt auf „Intensiv“ noch einmal die Absolution für zwei Jahre erteilt, aber dennoch ächzte er in den Kurven und am Berg, dass es mir nur durch gutes Zureden gelang, ihn am Laufen zu halten. Glaubte ich jedenfalls. Wie einem doch so ein Stück Metall ans Herz wachsen kann!
„Sag mal, hast Du Lisa eigentlich angerufen, seit wir hier sind?“ fragte mich Leni plötzlich. Die Frage hatte etwas Scheinheiliges.
„Ja, du lieber Gott, wann hätte ich das denn tun sollen. Bisher war doch ständig Stress. Ich hatte es mir eigentlich für heute Abend vorgenommen. Meinst du, sie ist sauer? Wir sind doch erst zwei Tage hier.“
Leni lächelte verschmitzt.
„Mach dir mal keine Sorgen. Während du mit Wittenstein telefoniert hast, habe ich mit ihr gesprochen. Lisa hat mich auf dem Handy angerufen, weil deines offensichtlich ausgeschaltet war.“
„Ja, und?“
„Nichts und! Viele Grüße und du sollst sie anrufen, sobald du Zeit hast.“
Da hatten sich zwei gesucht und gefunden. Bei unserem letzten Fall in Forstenau hatte sich Leni in unserem Haus einquartiert, um nicht jeden Tag nach Feierabend die weite Strecke nach Trier zu ihrer Wohnung fahren zu müssen. In den Tagen darauf hatten sich die beiden sehr gut verstanden und sich sogar angefreundet. Ich versprach Lisa in Gedanken, mich sofort bei ihr zu melden, wenn die Arbeit getan war.
Wir waren das größte Stück der Fahrt auf der Bundesstraße gefahren, die endete nun in eine Landstraße. Wir ließen Weilersberg mit seinen „Hunsrück-Milchwerken“ rechts liegen und fuhren ins Tal in Richtung Talbrück.
„Wetterleuchten ist das nicht.“ Leni sah krampfhaft nach vorne durch die Frontscheibe.
Aus der Ferne blinkte es uns schon in blauen und gelben Farben entgegen. Die Kollegen von der Polizeiinspektion und sicherlich die Feuerwehr warteten bereits auf uns.
„Da sind Sie ja“, wurden wir beide von einem Mann, Mitte fünfzig, in Zivil, begrüßt. „Ich bin Hauptkommissar Friedel Schrammer von der Kriminalinspektion Bernkastel-Wittlich. Ihr habt bisher nichts verpasst. Die Feuerwehr ist gerade eben eingetroffen und dabei die Leiche zu bergen. Wollen wir?“
Schrammer drehte sich um und ging voraus. Ich sah Leni von der Seite an. Doch die kümmerte sich nicht um mich, sondern steuerte mit schneller werdenden Schritten den Tatort an. Offensichtlich hatte sie das Jagdfieber gepackt. Diesen Ausdruck kannte ich inzwischen bei ihr. Ich musste meine Schritte vergrößern, um mitzuhalten.
Rund um den Stausee war inzwischen einiges los. Gaffer hatten sich eingefunden und die Kollegen der Schutzpolizei hatten alle Hände voll damit zu tun, den Tatortbereich freizuhalten. Auf der Straße oberhalb des Sees hupten Autos. Offensichtlich parkten diese vorwitzigen Menschen dort ihre Autos auch so rücksichtslos, wie sie sich hier unten verhielten.
Leni und ich suchten uns den Weg durch die Menge, immer dem Kollegen Schrammer nach. Dann endlich kamen wir in den Bereich, der nur der Polizei und ihren Ermittlungen gehörte. Zwei Feuerwehrleute hatten ein kleines Boot zu Wasser gelassen und waren dabei, eine Leiche an Bord zu hieven. Die Situation war schon makaber, denn so, wie sich die beiden Feuerwehrmänner anstellten, mutete sie doch schon etwas melodramatisch an.
Die beiden Männer auf ihrem Boot zerrten und zerrten, doch die Leiche ließ sich weder an Bord bringen, noch ließ sie sich in Richtung Ufer ziehen.
Offensichtlich hatte einer der Männer die Situation nun gecheckt.
„Es ist ein Mann! Aber er steht im Wasser und rührt sich nicht vom Fleck! Ich glaube, er hat sich am Boden im Gestrüpp verhakt. Wir brauchen einen Taucher zum Lösen!“
Am Ufer hatte man verstanden, worum es ging und ein Feuerwehrmann zog seine Oberbekleidung aus und zwängte sich in einen Neoprenanzug. Seiner Mimik konnte man entnehmen, dass er auf einen solchen Einsatz gerne verzichten würde. Feuerwehrleute wissen, was in einem solchen Moment auf sie zukommt. In unmittelbarer Nähe einer Wasserleiche zu arbeiten, von der man nicht weiß, wie lange sie schon im Wasser treibt und wie weit der Auflösungsprozess schon gediehen ist, darum reißt sich keiner.
So zog der Taucher die Kappe seines wasserdichten Anzugs soweit es ging, über den Kopf, streifte sich die Taucherhandschuhe über, deren Sitz er genauestens überprüfte. Seine Kollegen halfen ihm, die Atemluftflaschen wie einen Rucksack zu schultern. Das Mundstück fest in den Mund gedrückt und die Taucherbrille auf Dichtheit überprüft, ließ sich der Mann ins Wasser gleiten und schwamm langsam auf das Boot und seinen obskuren Auftrag zu. Am Boot wechselte er einige Worte mit seinen Kameraden und tauchte dann ab. Nach kurzer Zeit kam er wieder an die Wasseroberfläche und schüttelte den Kopf. Er sagte etwas zu seinen Kollegen und kam zurück zum Ufer geschwommen.
„Sie werden es nicht glauben“, sagte er atemlos. „Aber die Leiche steht kerzengerade im Wasser. Die Gase, sie verstehen.“
„Warum haben sie die Leiche nicht mit hierhergezogen oder ihren Kollegen überlassen? Sie haben sie doch vom Gestrüpp befreien können?“ Schrammer wirkte ungeduldig.
„Da ist kein Gestrüpp. Das, was den Mann am Grund festhält, sieht jedenfalls nicht danach aus. Ich würde da eher auf einen Betonklotz tippen, so an die hundert Kilo.“
Schrammer und ich sahen uns an und Leni stieß einen spitzen Schrei aus und presste die Hand vor den Mund. „Dann wünsche ich frohes Bergen“, entfuhr es mir und der Taucher sah mich von unten herauf an, als wolle er mir an die Gurgel.
„Schon gut, schon gut“, beschwichtigte ich. „Aber Sie kommen mit Ihren Leuten nicht drum herum. Wohin soll die Leiche anschließend gebracht werden?“ Ich sah Schrammer fragend an.
„Ich schlage vor, dass die Feuerwehrleute den Betonklotz, soweit es geht, entfernen, Das Werkzeug dafür haben sie ja. Die Leiche kann dann vorerst in die Leichenhalle nach Weilersberg gebracht werden. Ich glaube nicht, dass sie dort jemand stehlen wird. Zudem wird alles gut verschlossen werden. Morgen wird sie dann nach Idar-Oberstein überführt werden, in die Räumlichkeiten des dortigen Krankenhauses.“
Ich nickte und sah Schrammer an.
„Sie kennen sich hier aus. Würden Sie einen Leichenwagen beauftragen, mit Zinksarg und so? Heute richten wir kaum noch etwas hier aus. Deshalb würde ich vorschlagen, dass wir uns morgen früh in der Leichenhalle treffen. Wären Sie damit einverstanden?“
Schrammer nickte. „Ja, es ist jetzt schon dunkel. An Ort und Stelle richten wir nichts mehr aus. Die Kollegen von der Schutzpolizei werden so lange hier bleiben, bis die Bergungsarbeiten beendet sind. Ich werde den Arzt ebenfalls für morgen früh bestellen. Sagen wir, so um Neun?“
„Um Neun!“
„Darf ich dabei sein?“ tönte es hinter mir und die Stimme kam mir erschreckend bekannt vor.
„Steiner, nicht Sie schon wieder!“ Der Pressemann stand tatsächlich neben uns und lächelte mich an. Seine dunkelblaue Baseball – Kappe war natürlich auch wieder dabei. Sie schien angewachsen. Vermutlich ging er damit auch zu Bett.
„Jetzt seien Sie aber mal ehrlich!“ quoll es aus seinem unschuldig anmutenden Gesicht. „Wenn ich eine solche Gelegenheit verpassen würde, hätte ich doch den falschen Beruf gewählt. Wissen Sie schon, wer der Tote da im Wasser ist? Wer hat ihn umgebracht? Es war doch Mord, oder?“
Ich musste Steiner loswerden, sonst schrieb er noch irgendwelche Dinge, die mir aufstoßen könnten.
„Schreiben Sie einfach, das, was Sie hier sehen und lassen Sie um Himmels Willen Vermutungen oder Ahnung weg. Die Polizei tappt noch im Dunkeln, das können Sie ausnahmsweise mal schreiben. Zu diesem Zeitpunkt ist diese Aussage für uns nicht schädlich.“
„Aber unsere Leser…!“
„Ihre Leser werden schon alles erfahren. Rufen Sie mich in den nächsten Tagen an. Wenn ich etwas Neues weiß und es vertreten kann, werde ich es Sie wissen lassen.“
„Heiner, wir dürfen Schäfers nicht vergessen“, sagte Leni, als wir zum Auto gingen. Claus Schäfers. Du weißt, der ehemalige Mitarbeiter der ‚Hunsrück-Milchwerke’. Ich glaube, morgen früh können wir uns Marschverpflegung einpacken.“
Ja, richtig, Schäfers. Dessen Wohnung mussten wir unbedingt aufsuchen, ihn befragen, gegebenenfalls vernehmen, im Zweifelsfall festnehmen. Langsam wurde die Sache stressig. Morgen würde es volles Programm geben. Erstens: die Leichenbesichtigung der Wasserleiche mit Schrammer und dem Arzt. Zweitens: die Ermittlungen bei Schäfers und drittens stand die Betriebsbesichtigung der „Hunsrück-Milchwerke“ noch aus.
„Auf, Leni, zurück ins Hotel, damit wir noch einige Stunden Schlaf bekommen!“