Читать книгу Netz der Gewalt - Hannes Wildecker - Страница 10

3. Kapitel

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Forstamtmann Marek hatte ich in der Hektik ganz vergessen. Eigentlich wollte ich schon am Morgen mit ihm geredet haben. Also suchte ich ihn gleich jetzt auf. Als ich meinen Wagen abstellte, sah ich ihn schon auf der Wiese neben seinem Haus. Er saß auf seiner Ruhebank, vor ihm stand auf den Hinterläufen sein Jagdhund, ein Beagle, ein sehr schönes Tier. Als der Hund mich sah, kam er auf mich zugelaufen und sprang an mir hoch. Marek pfiff und rief: „Beagy, hierher. Platz!“ Beagy, auch ein schöner Name, mal etwas Anderes. Zwar nicht fantasiereich, aber dennoch nicht ganz ohne Logik.

Marek stand auf und kam mir entgegen.

„Ich muss mich entschuldigen, dass ich den Termin heute Morgen versäumt habe“, sagte ich, doch Marek winkte ab.

„Das ist kein Problem. Ich habe sowieso den ganzen Tag arbeiten müssen. Die Holzlisten, wissen Sie. Heute ist man ja nicht mehr nur Förster. Die so genannte Produktleitung nimmt sehr viel Zeit in Anspruch. Holzverkäufe, Organisation, Management und so weiter. Aber damit möchte ich Sie nicht belästigen. Darf ich Ihnen etwas anbieten?“

Bei einem kühlen Bier erzählte mir Marek dann, wie es ihn in der Nacht wie ein Schock befallen hatte. Er schien aber wieder gut erholt und ich glaubte, er schämte sich etwas.

Ich notierte mir seine Aussage, die mir vorerst nicht unbedingt dienlich für die weiteren Ermittlungen erschien und verabschiedete mich. Nach Hause wollte ich eigentlich noch nicht. Lisa würde nicht vor zwanzig Uhr bei mir eintreffen. Dann erst schlossen die Geschäfte.

In Forstenau angekommen, stellte ich meinen Kombi vor der Wohnung ab und verschloss ihn. Es war inzwischen dunkel geworden. Kein Fenster der von mir bewohnten zweiten Etage war erleuchtet und ich hatte absolut keine Lust, mich dort alleine vor dem Fernseher rumzuflegeln. Ich zog den Kragen meines Mantels bis unter die Nase und schob ab.

Im „Hochwald-Stübchen“ wurde ich vom Stammtisch aus mit Hallo empfangen. Bis auf einen waren alle da, ungewöhnlich für diese Zeit, aber verständlich. Wo konnte man nach einem Ereignis wie dem im Wald von Waldhausen mehr erfahren als in einer Kneipe?

Da war der Pfarrer Adalbert Schaeflein, mit „ae“ wie wir wissen. Er hatte seine Soutane heute zu Hause gelassen und war ganz in Zivil. Dass er ein Geistlicher war, erkannte man lediglich an dem weißen Kragen, der für ihn obligatorisch war, wenn er ohne seine geistliche Kleidung das Pfarrhaus verließ.

Rechts neben ihm saß der Ortsbürgermeister der Gemeinde Forstenau, Detlef Hildebrandt. Mit vierzig Jahren war er ein verhältnismäßig junges Oberhaupt seiner Gemeinde. Protegiert durch seine Partei, das wusste jeder. Ihm machte das jedoch nichts aus. Aber er war im Ort beliebt. Stets hilfsbereit dem Bürger gegenüber, aber ebenso auf seine Partei schwarzer Couleur fixiert, ohne die er kaum eine Entscheidung traf. Doch von der Politik alleine kann man auch heute noch nicht leben, nicht in der kleinen Kommunalpolitik. Als ehemaliger Schreiner hatte er seinen Betrieb, wie so viele seiner Berufskollegen, aufgegeben. Es hatte sich einfach nicht mehr rentiert, einen Zwei-Mann-Betrieb aufrechtzuerhalten. Expandieren war ihm zu riskant und so verdiente er seinen Unterhalt als Leichenbestatter. „Ein Beruf mit Zukunft“, wie er stets zu sagen pflegte.

Ihm zur Rechten, am Kopf des Tisches, hatte sich Dieter Lauheim niedergelassen. Lauheim ging auf die Siebzig zu, die man ihm beim besten Willen nicht zutraute. Auf seine gleichmäßig grauen dichten Haare konnte man schon fast neidisch sein, weniger auf seinen kräftigen Bauch, den er stets mit einem riesigen Jackett kaschierte. Als Kulturbeauftragter des Landkreises und politisch Aktiver in fast allen Gremien hatte er seit Jahren eine Vision. Den Tourismus in Forstenau zu etablieren und zu expandieren, dafür machte er sich stark, und wie kein Zweiter kannte er sich mit den geografischen Begebenheiten und dem ländlichen Leben im Hunsrück aus. Es gab kaum eine Frage, die Lauheim unbeantwortet lassen musste.

Und schließlich Florian Glasheber, Förster im Bereich des Osburger Hochwalds und Produktleiter, ebenso wie sein Kollege Uwe Marek, der seine Tätigkeit im so genannten Forstamt Saar-Hochwald wahrnahm. So kamen sich die beiden nicht in die Quere. Eines hatten sie dennoch gemeinsam. Die neue Forstreform wollte beiden nicht so richtig schmecken.

Einer fehlte in der Runde. Es war der Gastwirt des „Hochwald Stübchens“, Siggi Vollmann. Wenn es die Zeit und die Gäste zuließen, setzte er sich zu uns und so war er mit der Zeit ein Teil unseres Stammtisches geworden. Hinter der Theke spülte seine Frau, die Liesel, Gläser. Sie nickte mir kurz und freundlich zu, trocknete ihre Hände in ihrer Schürze ab und stellte ein paar Gläser bereit, um Bier zu zapfen.

„Da kommt er ja, unser polizeilicher Aufklärer“, rief Schaeflein. „Hat unser Freund einen Erfolg zu verbuchen? Schreckliche Sache, das im Waldhausener Forst. Ein Bürger aus Forstenau. Einer von uns. Möge der Herr ihn da oben bei sich aufnehmen.“

„Kommen Sie, setzen Sie sich. Ein weiteres Glas für unsere Spürnase“, tönte Florian Glasheber, dem man ansah, dass er heute schon länger Gast in der Kneipe war. Trotz unserer regelmäßigen Stammtischabende waren wir alle immer noch beim „Sie“ geblieben.

Nur Hildebrandt und Lauheim fühlten sich durch mein plötzliches Erscheinen nicht aufgeschreckt. Sie unterhielten sich angeregt, wobei Lauheim intensiv auf den Ortsbürgermeister einredete.

Ich bestellte eine Runde und prostete den anderen zu.

„Was war dieser Riedelmeier eigentlich für ein Mensch?“, fragte Schaeflein. „Ich kann mich nicht erinnern, ihn schon mal in der Kirche gesehen zu haben.“

„Rietmaier“, verbesserte ich den Pastor. „Ich weiß es wirklich nicht, das heißt, noch nicht.“

Lauheim unterbrach sein Gespräch mit Hildebrandt und rückte näher zu mir. „Sie wissen wirklich nichts über Rietmaier? Sie beide sind doch ungefähr ein Alter. Also, vielleicht kann ich Ihren grauen Hirnzellen zu etwas Vergangenheitsbewältigung verhelfen.“

Lauheim rückte noch dichter zu mir und auch die übrigen Stammtischbrüder reckten ihre Hälse in unsere Richtung.

„Also“, hub Lauheim umständlich an. „Der Willi, der Rietmaier, alle Welt nannte ihn damals Charly, warum weiß keiner, ist eigentlich ein echter Forstenauer Junge mit einer familiären Herkunft, wie wir beide sie sicher nicht besser nachweisen können. Aber, er hat nichts daraus gemacht“, verkündete er mit angewinkelten Armen, die diese Tatsache bestärken sollten. „Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass er damals schon, in seiner Jugend, einen Hang zum Extravaganten hatte. Große Hüte, Seidenschals und schnelle Autos -weiß der Himmel, wie er sich die leisten konnte- waren damals sein Faible. Besonders der Weiblichkeit war er sehr zugetan. Und dann sind wir eigentlich bei dem Punkt angekommen, über den Sie doch schon Bescheid wissen müssten, oder?“

Ich stellte mich dumm. „Die Ermittlungen beziehen sich derzeit mehr in Richtung Täter“, sagte ich etwas geistesabwesend, denn langsam dämmerte es mir. Charly! Charly Rietel, so nannten wir einen Jungen in unserem Alter. Als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, waren wir 19 oder 20 Jahre alt. Charly! Ich erinnerte mich immer mehr. Damals versah ich, frisch von der Polizeischule gekommen, meinen Dienst bei der Polizeidienststelle in Koblenz, wo ich ein Zimmer gemietet hatte und nur an den Wochenenden nach Hause fuhr. Ja, jetzt erinnerte ich mich genau. Es war das letzte Wochenende im August des Jahres und in Forstenau wurde Kirmes gefeiert. Schausteller hatten auf dem großen Kirchplatz ihre Fahrgeschäfte aufgebaut, an den Bier- und Weinständen ging es hoch her und entlang der Straße freuten sich die Kinder über die vielen Kirmesbuden mit all den Leckereien und Spielsachen.

Plötzlich ging es wie eine „La Ola“ durch die Menge und alle Köpfe zeigten in eine Richtung, auf die Straße zu.

…Und dann sah ich ihn.

Das heißt, zuerst sah ich nur sein Auto. Ein Riesenschiff. Oldsmobile oder Caddy, ich weiß das heute nicht mehr, auf alle Fälle ein amerikanischer Straßenkreuzer. Aber ich kann mich noch genau erinnern, dass es ein weißer Wagen war, ein Cabrio. Am Steuer saß Charly. Ganz in Weiß gekleidet, auf dem Kopf einen weißen Krempen-hut und den linken Ellbogen lässig auf die Oberseite der Fahrertür abgelegt, fuhr er langsam die Straße entlang, als wollte er jedem zeigen, wie weit er es gebracht hat.

Zu was er es gebracht hatte, konnte man dann auch sofort erkennen. Auf dem Beifahrersitz räkelte sich eine blonde Schönheit im kurzen Sommerkleid und tiefem Dekolletee, die langen Haare in ein seidenes Kopftuch eingeschlagen und das gleiche Bild zeigte sich auf der Rückbank gleich zweimal. Und so ließ sich Wilhelm „Charly“ Rietmaier von den Bewohnern seines Heimatortes feiern, zumindest schien er das zu glauben. Und irgendwie war es auch so. Er, der Forstenauer Junge, war in die Welt hinausgezogen und zeigte heute allen, dass er in seinem Leben etwas Anderes getan hat als alle übrigen. Und so war die Show auch mit etwas Bewunderung für ihn verbunden, die er offensichtlich genoss.

„Spürmann, Spürnase, hallo…“ Die sonore Stimme von Schaeflein holte mich wieder in die Gegenwart.

„Ja, ich erinnere mich jetzt“, sagte ich zu Lauheim, dessen Gesicht sich immer noch in der Nähe des meinigen befand. „Jetzt weiß ich wieder, wer dieser Charly ist, oder besser gesagt, wer er war!“

„Hey Lissy“, rief Hildebrandt der Wirtin zu. „Wo bleibt denn eigentlich Siggi? Unser Stammtisch ist noch nicht komplett.“

Elisabeth Vollmann, von ihrem Ehemann „Lieschen“ und von den meisten Gästen „Lissy“ genannt, stellte die abgetrockneten Biergläser in den Glasschrank hinter sich und trocknete sich die Hände erneut ab. „Siggi hat sich hingelegt. Er fühlt sich heute nicht sehr wohl. Ich glaube, bei ihm ist eine Grippe im Anzug.“

„Das tut mir leid“, rief ich zu Lissy hinüber. „Dann war er wohl deshalb gestern nicht bei Schaefleins Geburtstag?“

„Ja, gestern Abend ging es ihm auch schon nicht gut. War da auch schon früh im Bett.“

Mein Handy klingelte. Es war Lisa, wie ich auf dem Display erkannte.

„Henni, ich bin einsam. Wann kommst du?“ klang eine enttäuschte Stimme am anderen Ende der Leitung. Henni sagte sie selten zu mir. Eher nannte sie mich wie die anderen „Spürnase“ oder Heiner. Wenn sie Henni sagte, war sie traurig.

„Ich bin gleich bei dir“, antwortete ich. „In zehn Minuten.“

Netz der Gewalt

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