Читать книгу Netz der Gewalt - Hannes Wildecker - Страница 7
1.Kapitel
ОглавлениеDas dürre Geäst knackte und brach unter seinen unsicheren Schritten, die Dunkelheit nahm ihm die Sicht und seine Hände waren ständig damit beschäftigt, den Schwung der ihm entgegen peitschenden elastischen Zweige abzufangen und so zu verhindern, dass sie ihm ins Gesicht schlugen. Der Herbst hatte die meisten Blätter schon auf dem Waldboden verteilt, die raue Luft blies etwas heftiger als noch vor einigen Tagen durch die lichten Bäume.
Förster Uwe Marek, genauer gesagt, Forstamtmann Marek, fluchte leise vor sich hin. Es waren nicht nur die Zweige, die ihm entgegenpeitschen, nicht nur die Dunkelheit und die Kälte der mitternächtlichen Zeit, die er in Ausübung seines Berufes mehr als gewohnt war, nein, da war mehr. Es war eine gehörige Portion Ärger, die sich in den letzten Wochen in ihm aufgestaut hatte. Schon in seiner Kindheit war es sein sehnlichster Wunsch gewesen, den Beruf des Försters zu ergreifen, mit dem er Freiheit, Natur und die Tiere des Waldes verband. Doch was hatte man heute daraus gemacht? Eine gänzlich neue Berufsbezeichnung war bei der letzten Reform kreiert worden. Der Produktleiter.
„Produktleiter“, seufzte Marek und verharrte in seinem Vorwärtsstreben, da er mit seinem rechten Fuß geradewegs an einen Baumstumpf gestoßen war. Mit einem weiteren Seufzer ließ er sich darauf nieder, was ihm gar nicht so einfach fiel. Die Natur hatte es nicht unbedingt gut mit ihm gemeint. Sein dicker Bauch spannte sich unter seinem grünen Jägerhemd, das bei so viel Volumen keine Gelegenheit mehr hatte, darunter in der Hose zu verschwinden.
Auf dem Baumstumpf angekommen, streckte er seine beiden kurzen Beine aus, setzte den grünen Försterhut, dessen Krempe auf der rechten Seite nach oben zeigte, ab und rieb sich durch die verschwitzten schwarzen Haare. Noch kein einziges graues Haar! Darauf ist Marek stolz.
Trotz seiner sechsundfünfzig Jahre hatte er ein zwar rundes, aber glattes Gesicht, das eingerahmt war in einen dichten schwarzen Bart, der seine klugen Augen richtig zur Geltung kommen ließ. Wer sich Marek aus der Nähe betrachtete, der konnte unter dem dichten Wirrwarr ein gütiges und sympathisches Gesicht erkennen. Und wenn sich dann aus der unteren Mitte des Bartes die sonore Stimme Mareks ihren Weg suchte, war man geneigt, an seinen Lippen zu hängen und den beruhigend wirkenden Worten zu lauschen. Doch heute Nacht, im dunklen Wald, wo Marek alleine seinen Gedanken nachhing, klangen seine Worte doch etwas anders.
„Produktleiter!“ Die Bezeichnung ließ ihm keine Ruhe. „Ich bin Förster“, murmelte er vor sich hin und starrte in die dunkle Nacht und dachte an die alten Zeiten, in denen er mit den Holzhauern im Wald Bäume zeichnete, die dann gefällt und verkauft wurden. Da begab er sich morgens früh zum Ansitz, beobachtete das Wild und schoss auch schon mal einen kapitalen Hirsch, einen Bock oder einen abschussreifen Spießer. Das nahm seine Zeit nicht so in Anspruch, wie es in Zukunft sein würde. Produktleiter! Das bedeutete richtig Arbeit. Der Schwerpunkt sollte wegen des dominanten Kosten-anteils auf dem Holztransport liegen. Transportorganisation, die Navigation im Wald und die zentrale Informationsverwaltung würden erhebliche Mengen von Zeit erfordern. Und wie hieß es dann noch im schönsten Beamtendeutsch: ‚Dazu sind technische Lösungen zu erproben, um durch die Unterstützung von Dispositionsverfahren den dominanten Anteil der Logistikkosten in der Beschaffungslogistik zu senken. Das fördert die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit. ’
Mit einem letzten tiefen Seufzer schob Marek die unangenehmen Gedanken zur Seite. Heute, am späten Abend, hatte er sich aufgemacht, um seinem Wald, seiner Natur nahe zu sein, ohne, dass er dafür besondere Leistungen erbringen musste. Er atmete den Duft des Waldes tief in sich ein. Fichten, Moos und trockenes Gehölz vermischten sich zu einem Aroma, das ihm köstlicher erschien als das teuerste Parfum.
Der Mond schob sich hinter einer dunklen Wolke hervor und tauchte den Wald in einen zarten Silberschein. Marek rappelte sich von seinem Baumstumpf hoch und streckte sich. Sein Rucksack, den er für alle Fälle geschultert hatte, und der außer einer kleinen Wegzehrung nichts enthielt und die Flinte, ein Drilling, in alter Weidmannsmanier gleich einer Schaukel am Riemen nach unten über die Schulter gehängt, mit dem Lauf nach vorne und den Unterarm darauf stützend, waren dabei leicht hinderlich.
Ein Blick auf seine Armbanduhr sagte ihm, dass es inzwischen zwei Uhr war. Eine Stunde noch, dann wollte er seinen Streifzug beenden. Kein Stück Wild hatte er in den vergangenen Stunden gesehen. Wie auch, bei dieser Dunkelheit. „Ich hätte heute erst gar nicht rausgehen sollen“, dachte er. Noch ein paar hundert Meter, dann würde er wieder auf lichtem Gelände sein, dort, wo er sein Fahrzeug, einen kleinen Pick-up-Geländewagen, abgestellt hatte.
Doch kaum hatte er die ersten Schritte hinter sich gebracht, verschwand der Mond wieder hinter einer Wolke und tauchte den Wald erneut in eine fahle Dunkelheit. Leise fluchend tastete sich Marek weiter. Ein Ast fegte ihm den Hut vom Kopf, den er fluchend und tastend schließlich auf der Erde wiederfand.
Gebückt schlug er den Hut gegen seine Beine, auf seine lederne Bundhose über den stabilen Wanderschuhen, um ihn vom Schmutz zu befreien. Der Mond hatte inzwischen die kleine dunkle Wolke durchwandert und tauchte an deren Ende nun wieder hervor, ein gelblichweißes Licht verbreitend. Mit einer schwungvollen Geste wollte sich Marek seinen Hut aufsetzen, doch er verharrte mitten in dieser Bewegung. Das, was sich ihm aus seiner gebückt verharrenden Stellung erschloss, ließ sein Herz verkrampfen und alles Blut aus seinem Kopf entweichen. Für einen Moment glaubte Marek, sämtliches Leben würde aus ihm mit einem Ruck entfliehen. Denn was er dort vor sich sah, jagte ihm, dem erfahrenen Jägersmann, einen grausigen Schauer über den Rücken.