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Die Strasse vom Tonalepass herab den Tauernbergen zu war die letzten drei Tage durch ein Reiter mit mehrmaligem Pferdewechsel gegen Nordost gerast. Er trug die Uniform der kaiserlichen Kuriere. Als er in die steirischen Berge kam, war es zum vierten Male Nacht geworden, und der Kurier war über eine Hochfläche geritten, als ihm ein anderer Reiter entgegengekommen war, und das war zur rechten Zeit gewesen. Denn das Pferd des Kuriers war über eine Baumwurzel gefallen, mit zuckenden Flanken und gebrochenen Vorderbeinen hatte es auf dem Boden gelegen, während der Kurier sich aus Sattel und Bügel befreit hatte. Dann war er mit gezogener Pistole dem anderen Reiter entgegengelaufen, hatte ihn angebrüllt: „Absitzen! Kaiserlicher Eilkurier! Mein Pferd ist gefallen, gebt mir das Eure!“

Mit einem schafsdummen Gesicht war der so Angehaltene vor Angst aus dem Sattel gefallen, der Kurier hatte dessen Pferd bestiegen und dem Abgesessenen eine der Sattelpistolen gereicht: „Geben Sie meiner armen Zenta dort den Gnadenschuss! Sie hat beide Vorderbeine gebrochen!“

Dann war der Kurier weiter gerast, immer gegen Nordosten, noch einen ganzen trüben, nassen Tag lang.

*

In den Wäldern am Südrand des Semmerings hatten kuruzische Banditen, die während der Nacht über die Grenze bei Friedberg eingebrochen waren, dem Kurier nachgeschossen und getroffen. Bis zu seinem letzten Atemzug hatte der Mann im Sattel gehangen und war bis zur kaiserlichen Relaisstation vor Schottwien gekommen.

Dort hatte er der wartenden Stafette just noch ein kleines Päckchen übergeben können und einen Fluch auf die „Schanddirne“ gesagt, deren Launen seine Stute Zenta aufgeopfert werden musste, dann hatte der Tod seinen Leib langgereckt. Die Stafette war weitergerast, über den Semmeringpass in die Ebene des Steinfeldes und dann über die Höhen des Laaerberges hinab an der „Spinnerin am Kreuz“ vorbei, wo die Richtstätte Wiens stand und im ersten Morgenlicht ein Gehenkter am Hochgericht schwankte. Ein zweiter, bei dem das Hängen nicht genügt hatte, lag mit gebrochenen Gliedern aufs Rad geflochten.

Strahlend war über der ungarischen Tiefebene die Sonne hochgestiegen, als die Stafette in rasendem Galopp auf das Bollwerk am Stubentor zugeritten war. Knapp vor den Pallisaden war auch ihr Pferd zusammengebrochen. Zum Glück war ein Pikett Dragoner auf Wache gegen die Kuruzen geschickt worden. Von denen bekam der atemlose, völlig erschöpfte Kurier ein Pferd, auf dem er, gerade als des Kaisers Lever zu Ende war, in den inneren Burghof ritt.

Die Stallknechte, die schon lange im Hofe warteten, die kaiserlichen Hatschiere, die herumlungernden Lakaien und Holzträger liefen herzu, denn seit dem Ausritt der ersten Stafette war in der Hofburg von wenig anderem die Rede gewesen als von dem Gewaltritt nach Mailand, mit dem eine freche Laune der Marquise de Valais befriedigt werden sollte. Nun war die letzte Stafette pünktlich eingetroffen. Es war eine Meisterleistung der kaiserlichen Eilkuriere, auf die jeder Stallpage nun stolz sein konnte. Was niemand für möglich hielt, die Stafette hatte „das Hemd der Marquise“ pünktlich nach Wien gebracht. Man half dem Erschöpften unter grossem Lärm aus den Steigbügeln. Die Kuchelmädeln reichten ihm die Weinkrüge, die sie zum Empfang bereitgehalten hatten. Doch der Kurier wehrte sie ab. Angst war in seinen Zügen. Kam er noch rechtzeitig genug? Die Strafen für Ungehorsam waren am Habsburger Hofe tatarisch grausam.

*

Die Kaiserin liess sich von ihrer Hofdame ihr strenges, tiefschwarzes Kleid schliessen, als im Hofe der Rumor entstand, den die Ankunft des Kuriers verursachte. Ihre Majestät stand vor ihrem so nüchternen Bett mit dem schwarzen Baldachin, der in starren Falten herabfiel. Ihre Gedanken waren wie immer bei himmlischen Dinge, sie musste sie erst für die irdischen sammeln.

„Gräfin Mansfeld“, sagte sie mit ihrer tiefen, ruhigen Stimme. „Sehen Sie nach, wer da so lärmt!“

Die Obersthofmeisterin Gräfin Mansfeld verbeugte sich tief und trat ans Fenster. „Unten steigt ein Kurier von einem schaumbedeckten Pferd“, meldete sie dann. „Der Kammerherr Graf Lamberg kommt die Treppe herabgelaufen und nimmt dem Kurier einen kleinen Pack ab.“

„Es ist der Eilkurier, den der Kaiser nach Mailand sandte!“ sprach die Kaiserin, und ihre grossen Augen wurden klein. „Trachten Sie zu erfahren, was er gebracht hat.“

Doch ihre Neugierde erschreckte sie allsogleich, und sie versank wieder in die geistliche Vorbereitung zur morgendlichen Erbauungsstunde.

Die Gräfin Dietrichstein, ihre erste Hofdame, in gleiches strenges Schwarz gekleidet, schmückte ihre Herrin jetzt mit einer fast nonnenähnlichen Haube. Das kühle Antlitz der Kaiserin bekam dadurch einen noch herberen Zug. Die Düsterkeit ihrer Kleidung war durch keine Farbe unterbrochen, nur in der Hand hielt die Kaiserin neben ihrem Erbauungsbuch ein weisses Spitzentüchlein.

Auch der Kreis der übrigen Hofdamen war in die Farbe der Weltabkehr gehüllt. Kein Schmuckstück zierte ihre Weiblichkeit, die den Tag in Gebeten und Bussübungen zubrachte.

„Jeder Gedanke an weltliche Lust muss im Umkreis Ihrer Majestät erstickt werden.“ So hatte die Gräfin Dietrichstein der kleinen siebzehnjährigen Nadassy Ilona gesagt, als diese gestern zum erstenmal ihren Dienst in den innersten Gemächern Ihrer Majestät antrat. „Du musst dich bemühen, immer auszusehen, als wärst du stets von einem schlechten Gewissen bedrückt! So sehen nämlich alle hier aus! Die meisten von uns haben sogar wirklich ein schlechtes Gewissen!“

„Haben sie dieses schlechte Gewissen, weil sie auf alle weltliche Lust verzichten? Oder verzichten sie darauf nur, weil sie ein schlechtes Gewissen haben?“

So hatte die kleine süsse Ilona zurückgefragt, und die Dietrichstein gab ihr lächelnd zur Antwort: „Das war eine ebenso vorlaute wie geschickte Frage. Ja, mein Kind! Es mag schon sein, dass unser schlechtes Gewissen davon stammt.“

Die Gräfin Mansfeld, die sich auf Befehl in die Vorzimmer des Kaisers begeben hatte, trat wieder ein. Sie näherte sich der Kaiserin und machte die tiefe Reverenz.

„Was gibt es also?“ fragte die Kaiserin, aus ihren frommen Betrachtungen erwachend.

Die Obersthofmeisterin verblieb länger als üblich in der Kniebeuge. Sie sammelte offensichtlich ihre Gedanken, um sie in die richtigen Worte zu bringen.

„Majestät“, sagte sie endlich verlegen, „es war in der Tat der Eilkurier aus Mailand.“

„Und was brachte dieser Eilkurier aus Mailand?“ forschte die Kaiserin. Ihre monotone Stimme drang der Obersthofmeisterin unbarmherzig ins Hirn. Sie trat einen Schritt näher. „Er brachte ein Geschenk“, erwiderte sie sehr leise.

Der Blick der Kaiserin ruhte jetzt voll auf der Obersthofmeisterin und forderte sie gebieterisch zum Weitersprechen auf. Gräfin Mansfeld erbleichte.

„Es ist ein Geschenk für ... für ... die ... die ...“ Gräfin Mansfeld verstummte. Der Blick der Kaiserin wurde starr. Unter dem Zwange dieser eisigen Augen fuhr die Gräfin mit dem Mute der Verzweifelten fort: „... für die ... für die ... Marquise ...“ flüsterte sie, und ihre Stimme erstarb.

Die Kaiserin jedoch richtete sich noch steiler auf und fragte laut: „Wer hat der Marquise ein Geschenk durch den Eilkurier gemacht?“

Jetzt war die Obersthofmeisterin am Ende ihrer Kraft. Unter den kalten Blicken, die auf ihr ruhten, wünschte sie in die Erde zu versinken. Aber keine mildtätige Öffnung verschluckte sie, und sie musste der Majestät Rede und Antwort stehen.

„Majestät“, flüsterte sie fast ohne Laut. „Das Geschenk war – ... war ...“

„Nun“, forderte die Kaiserin ihre unglückliche Obersthofmeisterin zur Vollendung ihrer Rede auf, „von wem also war dieses ominöse Geschenk?“

Jetzt war es der Obersthofmeisterin gleich; wenn die Kaiserin sie zwang zu sprechen, nun gut. Gräfin Mansfeld nahm ihren ganzen Mut zusammen und sagte, was sie in Erfahrung gebracht hatte: „Es war ein Geschenk Seiner Majestät, des Kaisers.“

„So!“ sagte die Kaiserin und schloss das Gebetbuch, das sie noch offen in der Hand gehalten hatte. „Und was hat Seine Majestät dieser Person geschenkt?“

Eine neue Schwierigkeit erhob sich vor der Gräfin Mansfeld. Die Art des Geschenkes war delikat; konnte sie einen solchen Gegenstand vor den Ohren Ihrer Majestät erwähnen? Ihre Lippen bewegten sich, aber sie brachte kein Wort hervor.

„Ein ... Kleidungsstück ...“ kam ihr endlich der rettende Gedanke.

„Ein Kleidungsstück also!“ meinte die Kaiserin nachdenklich. „Was für ein Kleidungsstück?“

Gräfin Mansfeld war in die Enge getrieben. „Ein Kleidungsstück aus feinster Seide ...!“

„Weiter, weiter!“ drängte die Kaiserin.

„Es ist ein Kleidungsstück, das bei Damen von leichter Tugend mehr der Verführung als der Verhüllung dient ...“

Jetzt hatte die Kaiserin die Sachlage erfasst. Starr wie eine Statue stand sie da. Tiefster Abscheu zuckte um ihren schöngeformten, aber herben Mund, der sich verbissen zusammenkniff.

„Also ein Hurenhemd!“ sagte sie laut und hart. Die Damen ihres Hofstaates zuckten zusammen. Die Obersthofmeisterin versank abermals in die tiefe Reverenz und hauchte: „Jawohl, Majestät!“

Die Wangen Ihrer Majestät überzogen sich mit einem leichten Rot. Zwischen den Zähnen sprach sie: „Wahrscheinlich auch noch verbrämt mit den teuersten venezianischen Spitzen.“

Die Gräfin Mansfeld, glücklich, das Verhör überstanden zu haben, erwidert fast fröhlich: „Jawohl, Majestät!“

Ein vernichtender Blick der Kaiserin traf sie. Mit grossen Schritten ging die Kaiserin durchs Zimmer, sie schien in tiefster Erregung zu sein, ihre dunklen Augen waren feucht, die Empörung entfaltete ihre schöne dunkle Stimme zu vollem Klang: „Meine Hemden sind aus böhmischem Leinen. Ich wechsle sie nur jeden Monat und flicke sie sogar selbst!“

Die Damen des Hofstaates unterdrückten einen Seufzer. Denn auch sie trugen ihre harten böhmischen Leinenhemden einen Monat und noch länger.

Die Kaiserin hatte mit zitternden Händen ihr Gebetbuch wieder geöffnet und stand im Gebet versunken. Auch ihr Hofstaat suchte die sündigen Gedanken zurückzudrängen und sich der Andacht hinzugeben. Aber die „weltliche Lust“ war mit ihrem aufreizenden Stachel in die fromme Schar gefahren, und Wünsche flatterten durch die frommen Worte, die nur mechanisch von den Lippen strömten.

„Gräfin Dietrichstein!“ erklang der Kaiserin tiefe Stimme von neuem.

Die erste Hofdame trat mit tiefer Reverenz vor.

„Rufen Sie Pater Ignatius!“ befahl die Kaiserin. „Nein, gehen Sie selbst zu ihm. Er soll Seiner Majestät ins Gewissen reden. Er soll ihm vorstellen, zu welchem Schaden der Seele seine Haltung führt. Seine Majestät soll Busse tun. Pater Ignatius soll dem Kaiser einen Bussgang auferlegen. Mit aller geistlichen Strenge. Sagen Sie das dem Pater Ignatius, Gräfin.‘

Die Gräfin Dietrichstein zog sich mit abermaliger Kniebeuge zurück, um dem Wunsche der Kaiserin zu willfahren.

Die Kaiserin sah ihre Damen im Kreise herum an.

„Auch wir werden in unserer Erbauungsstunde mit unseren Gedanken der Sühne fremder Vergehen dienen!“ sprach tonlos die Kaiserin. Manche der Damen verbarg in der Kniebeuge ihr Erröten, als Ihre Majestät jetzt vorüberschritt. Die steife schwarze Robe rauschte, und der eisige Hauch, der aus ihren Falten strömte, brachte das kleine, brennende Herz der schönen Ilona tief zum Erschauern.

Der liebe Augustin

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