Читать книгу Grundbegriffe, Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft - Hans-Christoph Koller - Страница 7

1 Warum die Auseinandersetzung mit Grundbegriffen, Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft notwendig ist

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Wer Erziehungswissenschaft studiert, tut dies in der Regel, weil er oder sie einen pädagogischen Beruf ergreifen möchte: Die meisten Studierenden des Faches wollen Lehrerin oder Lehrer werden und müssen zu diesem Zweck neben Vorlesungen und Seminaren in ihren Unterrichtsfächern auch erziehungswissenschaftliche Lehrveranstaltungen besuchen. Andere streben eine pädagogische Tätigkeit im außerschulischen Bereich an und haben sich zu diesem Zweck in einem entsprechenden erziehungswissenschaftlichen (Hauptfach-)Studiengang eingeschrieben. Wenn Sinn und Zweck eines Studiums der Erziehungswissenschaft nicht nur in der Sache selbst, sondern auch und vor allem in der Vorbereitung auf eine pädagogische Berufstätigkeit liegt, so stellt sich die Frage, warum für eine solche Berufstätigkeit gerade die Kenntnis erziehungswissenschaftlicher Begriffe, Theorien und Methoden erforderlich sein soll. Wäre es nicht zweckmäßiger, Studierenden statt grundlegender theoretischer Erörterungen möglichst präzise Anweisungen für das ›richtige‹ pädagogische Handeln anzubieten, also eine Art Rezeptsammlung nebst einer Liste Was man auf keinen Fall tun sollte?

Diesem Buch liegt die Überzeugung zugrunde, dass für die Ausübung eines pädagogischen Berufs die Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Theorien und Methoden vor allem deshalb unverzichtbar ist, weil das, worauf es beim pädagogischen Handeln ankommt, sich nicht in der Anwendung rezeptförmiger Anweisungen erschöpft. Pädagogische Handlungskompetenz, also die Summe der für eine Berufstätigkeit als Pädagogin oder Pädagoge unentbehrlichen Kenntnisse und Fähigkeiten, lässt sich nicht einfach als ein Vorrat an Wissen begreifen, das man in Form von Verhaltensregeln formulieren und dann gleichsam mechanisch anwenden könnte. Für diese These (deren ausführliche Begründung eine eigene Theorie pädagogischen Handelns erfordern würde) lassen sich vor allem drei Gründe anführen.

Der erste Grund besteht in der Umstrittenheit des pädagogischen Wissens. In pädagogisch relevanten Fragen gibt es in der Regel nicht eine einzige anerkannte Position, sondern eine Vielzahl unterschiedlicher, oft sogar entgegengesetzter Ansichten, die alle mit mehr oder weniger guten Gründen vorgetragen werden. Es genügt also nicht, sich einfach einer Ansicht anzuschließen (wie man es tun müsste, wenn man rezeptförmigen Handlungsanweisungen folgt). Es kommt vielmehr darauf an, die unterschiedlichen Vorstellungen über die ›richtige‹ pädagogische Vorgehensweise zu vergleichen, ihre Voraussetzungen und Begründungen zu prüfen und durch Abwägen der Argumente zu einem eigenen Urteil zu gelangen. Über die bloße Aneignung von Wissen hinaus bedarf es also einer eigenen Urteilskompetenz, d. h. der Fähigkeit, pädagogische Konzepte selbstständig kritisch zu beurteilen. Für den Erwerb dieser Fähigkeit aber ist die Beschäftigung mit wissenschaftlichen Theorien die beste Voraussetzung, weil es zu den wesentlichen Merkmalen wissenschaftlicher Arbeit gehört, sich in kritischer Auseinandersetzung mit vorliegenden Positionen ein eigenes Urteil zu bilden.

Den zweiten Grund für die Unmöglichkeit, pädagogisches Handeln als Anwendung rezeptförmigen Wissens zu begreifen, stellt die Einzigartigkeit der Situationen und der Menschen dar, mit denen es Pädagoginnen und Pädagogen zu tun haben. Die Situationen, in denen sich pädagogische Handlungsfähigkeit erweisen und bewähren muss, unterscheiden sich voneinander vor allem durch die Individualität der Adressaten des pädagogischen Tuns: Kein Kind, kein Schüler und kein lernender Erwachsener gleicht dem anderen – und doch soll pädagogisches Handeln jedem von ihnen auf seine Weise gerecht werden. Zur pädagogischen Handlungskompetenz gehört deshalb auch die Fähigkeit, das relevante Fach- und Methodenwissen, das ja stets in allgemeinen Formulierungen vorliegt, auf je besondere, ja einzigartige Situationen und Menschen zu beziehen. Sofern diese Fähigkeit etwas mit dem Verstehen dieser Situationen und Menschen zu tun hat, kann man sie als hermeneutische Kompetenz bezeichnen.

Der dritte Grund schließlich liegt im Zukunftsbezug des pädagogischen Handelns. Zur Verdeutlichung dieser Überlegung mag ein kleines Gedankenexperiment dienen2: Gehen wir zu diesem Zweck von jungen Menschen aus, die im Jahre 2015 ein Studium der Erziehungswissenschaft begonnen haben. In diesem Studium erwerben sie Kenntnisse und Fähigkeiten, deren Sinn und Zweck sich erst in der Zukunft, nämlich in ihrem künftigen beruflichen Handeln als Pädagoginnen und Pädagogen herausstellen wird – d. h. also etwa ab dem Jahr 2020. Freilich erschöpft sich der Sinn dieser Kenntnisse und Fähigkeiten nicht in deren Bedeutung für die Zeit unmittelbar nach dem Studium, sondern soll sich vielmehr während der gesamten Berufstätigkeit erweisen – in unserem Beispiel also z. B. noch im Jahre 2060 (wenn man davon ausgeht, dass unsere Studienanfänger 2015 ca. 20 Jahre alt sind und bis ins Alter von 65 Jahren in ihrem Beruf arbeiten werden). Doch damit nicht genug. Sofern der Sinn pädagogischen Handelns u. a. darin besteht, Menschen dabei zu helfen, mit dem eigenen Leben zurecht zu kommen, so muss sich das 2015 erworbene Wissen also auch noch bei der Frage bewähren, wie diejenigen, die um die Jahrhundertmitte Adressaten des pädagogischen Handelns unserer heutigen Studierenden sind, mit ihrem künftigen Leben zurecht kommen werden – einem Leben, das, wenn es sich um junge Menschen handelt, noch bis ins nächste Jahrhundert reichen kann. Der Wert des 2015 erworbenen Wissens unserer Pädagogik-Studierenden muss sich so betrachtet also noch in hundert Jahren erweisen, d. h. in einer Zeit und unter Bedingungen, über die wir mit Sicherheit nur eines sagen können: dass wir sie heute noch nicht kennen.

Der Zukunftsbezug des pädagogischen Handelns hat also zur Konsequenz, dass die dafür notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten sich auch noch unter heute weitgehend unbekannten Bedingungen bewähren müssen. Zur pädagogischen Handlungskompetenz gehört deshalb auch die Fähigkeit, pädagogisch relevantes Wissen auf sich verändernde und in hohem Maße ungewisse Situationen zu beziehen, oder – anders formuliert – die Fähigkeit, dieses Wissen in Auseinandersetzung mit neuen Problemlagen immer wieder kritisch zu überprüfen und kreativ weiterzuentwickeln. Man kann diese Fähigkeit zum lebenslangen Weiterdenken zusammen mit Urteilsfähigkeit und hermeneutischer Kompetenz unter dem Oberbegriff der Reflexionskompetenz zusammenfassen. Diese Reflexionskompetenz als Kernstück pädagogischer Handlungsfähigkeit besteht also darin, pädagogisches Wissen selbstständig zu beurteilen und sowohl flexibel als auch kreativ auf je besondere und sich ständig verändernde Situationen zu beziehen. Dieses ›Beziehen-auf‹ unterscheidet sich von der bloßen ›Anwendung‹ eines Wissens dadurch, dass die je besonderen und neuartigen Situationen jenem Wissen nicht einfach untergeordnet werden und dabei nur als Bestätigung des schon vorhandenen Wissens fungieren. Jenes Wissen dient vielmehr umgekehrt gerade dazu, die jeweiligen Situationen in ihrer Besonderheit zu erschließen sowie nach neuen Handlungsmöglichkeiten darin zu fragen. Darüber hinaus trägt der Bezug auf die jeweilige Situation jedoch auch dazu bei, jenes Wissen immer wieder einer kritischen Prüfung zu unterziehen und bei Bedarf kreativ weiterzuentwickeln.

Um die Beziehung von Wissen (»Theorie«) und Situation (»Praxis«), die hier verhandelt wird, zu veranschaulichen, kann man sie mit der Lage von Menschen vergleichen, die in ein fremdes Land reisen möchten. Um sich auf diese Reise vorzubereiten, könnten sie z. B. Reiseführer lesen, die ihnen Hinweise darauf geben, welche Orte in jenem Land besonders sehenswert sind, wie man zu ihnen gelangt und welche Verhaltensregeln dort zu beachten sind. Der Nachteil einer solchen Vorgehensweise besteht freilich darin, dass die Reisenden bei ihrem Aufenthalt in jenem fremden Land im Vertrauen auf die Reiseführer möglicherweise nur das wahrnehmen, was in den Büchern beschrieben wird, aber anderes übersehen – wie z. B. das Elendsviertel direkt neben dem Tempel, den die Reiseführer als Hauptsehenswürdigkeit aufführen. Die entgegengesetzte Möglichkeit bestünde deshalb im bewussten Verzicht auf Reiseführer und andere Quellen, um sich stattdessen dem fremden Land möglichst unvoreingenommen und spontan zu nähern. Dabei droht allerdings die Gefahr, dass man vieles, was nicht direkt am Wege liegt, überhaupt nicht zu Gesicht bekommt, weil Menschen dazu neigen, nur das wahrzunehmen, auf das sie in irgendeiner Weise vorbereitet sind. Schlimmer noch: Unsere Reisenden könnten bei einer solchen Vorgehensweise mit den ihnen vertrauten Verhaltensweisen in jenem fremden Land kläglich Schiffbruch erleiden, weil dort z. B. im Blick auf Sprache, Umgangsformen, Kleidung und Essensgewohnheiten andere Regeln gelten als dort, wo sie herkommen.

Übertragen auf das Verhältnis von Theorie und Praxis in der Pädagogik entsprechen die Reise in das fremde Land der pädagogischen Berufstätigkeit, für die die Studierenden ausgebildet werden, und die Reiseführer dem verfügbaren Vorrat an pädagogischem Theorie- und Methodenwissen. Da es gleichermaßen fatal wäre, sich diesem Land völlig unvorbereitet auszusetzen wie sich den eigenen Blick ganz durch Bücher verstellen zu lassen, kommt es darauf an, einen dritten Weg jenseits dieser falschen Alternative zu finden. Zu diesem dritten Weg gehört auf der einen Seite die Bereitschaft, sich pädagogisch relevantes Theorie- und Methodenwissen anzueignen, auch wenn nicht immer sofort ersichtlich ist, wozu es im fremden Land der künftigen Berufstätigkeit einmal gut sein kann. Auf der anderen Seite bedarf es aber auch der Erprobung dieses Wissens an praktischen Situationen, bei der es zu fragen gilt, was man an einer Situation Neues entdecken kann, wenn man sie aus der Perspektive unterschiedlicher Theorien betrachtet und welche neuen Handlungsmöglichkeiten sich dabei erschließen lassen. Dabei ist es freilich unentbehrlich, stets zugleich auch zu prüfen, inwiefern eine Theorie bei der Konfrontation mit einer praktischen Situation an ihre Grenzen gerät und wie sie gegebenenfalls modifiziert oder weiterentwickelt werden muss, um auch diese Situation zu erfassen und neue Handlungsperspektiven darin zu eröffnen.

Dabei sollte allerdings ein wichtiger Unterschied zwischen den Reisevorbereitungen und der Reise selbst nicht übersehen werden. Die pädagogische Berufstätigkeit unterscheidet sich vom Studium vor allem dadurch, dass man darin – wie in jeder Praxis – unter dem Zwang steht, sich in knapper Zeit für eine der zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen entscheiden zu müssen. Wer praktisch handelt, muss Entscheidungen treffen, und zwar in der Regel unter Zeitdruck, d. h. ohne zuvor in Ruhe alle Handlungsalternativen samt der Pro- und Kontra-Argumente prüfen zu können. Und gerade wegen dieses Zeitdrucks stellt auch das Aufschieben oder gar Verweigern einer Entscheidung selbst eine Entscheidung dar, die unweigerlich Konsequenzen nach sich zieht. Demgegenüber ist ein Studium von solchem Zeit- und Handlungsdruck weitgehend frei. Obwohl auch das Studieren selbst unter Bedingungen stattfindet, die keine beliebig ausführlichen Reflexionen erlauben, bietet es doch die Gelegenheit, praktische Situationen entlastet von unmittelbarem Entscheidungszwang in Ruhe zu analysieren, Argumente und Gegenargumente abzuwägen und theoretische Überlegungen gedankenexperimentell auf konkrete Situationen zu beziehen.

Das vorliegende Buch ist ein Plädoyer und eine Anleitung dafür, diese Gelegenheit, die ein Studium der Erziehungswissenschaft bietet, zu nutzen, statt vorschnell nach rezeptförmigen Handlungsanweisungen Ausschau zu halten.

Grundbegriffe, Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft

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