Читать книгу Grundbegriffe, Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft - Hans-Christoph Koller - Страница 9

3 Was sind Grundbegriffe, Theorien und Methoden?

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Der Titel des Buches und die Rede von einem »Kerncurriculum« könnte den Eindruck erwecken, es gäbe so etwas wie einen verbindlichen Kanon an pädagogischem Grundwissen, der zwischen den Lehrenden des Fachs unumstritten sei und den alle Studierenden sich aneignen müssten, um halbwegs erfolgreich durchs Studium zu kommen. Doch so plausibel der Wunsch nach Orientierung auch sein mag, so wenig Übereinstimmung besteht bei den Vertretern des Faches in der Frage, was denn nun konkret den Kern des erziehungswissenschaftlichen Studiums ausmachen soll und welche Grundbegriffe, Theorien und Methoden dabei unbedingt erörtert werden müssen. Was im Folgenden vorgelegt wird, ist also nichts anderes als ein Vorschlag, wie eine Einführung in grundlegende Fragen der Erziehungswissenschaft aussehen könnte.

Um diesen Vorschlag näher vorzustellen, sei zunächst erläutert, was darin unter Grundbegriffen, Theorien und Methoden verstanden wird. Die Bedeutung dieser Termini lässt sich am besten anhand der unterschiedlichen Funktionen beschreiben, die ihnen im Blick auf pädagogisch relevante Handlungssituationen zukommen. Als Grundbegriffe werden hier diejenigen Begriffe bezeichnet, die dazu dienen, grundlegende Sachverhalte in der Erziehungswirklichkeit zu erfassen, zu unterscheiden und in Beziehung zueinander zu setzen. Die schwierige und philosophisch umstrittene Frage, ob solche Sachverhalte in der Erziehungswirklichkeit unabhängig von jenen Begriffen vorliegen und durch diese nur bezeichnet werden oder ob die Leistung wissenschaftlicher Begriffe vielmehr darin besteht, solche Sachverhalte überhaupt erst hervorzubringen, kann hier nicht diskutiert werden. Fürs Erste soll es genügen, sich klarzumachen, dass Begriffe vor allem dazu dienen, ein eher diffuses Gebilde wie »die Erziehungswirklichkeit« genauer zu strukturieren und darin einigermaßen präzise voneinander abgrenzbare Phänomene zu unterscheiden, indem man sie zu benennen, ihre Eigenschaften zu beschreiben und mit den Eigenschaften anderer Phänomene zu vergleichen versucht.

Die Vielzahl unterschiedlicher Systematisierungsversuche, die sich in Einführungen und Handbüchern der Erziehungswissenschaft finden (vgl. z. B. Lenzen 2006/07 und Krüger 2009), legt Zeugnis ab von der Schwierigkeit, diese Grundbegriffe in eine systematische Ordnung zu bringen oder auch nur eine genau abgrenzbare Anzahl solcher Grundbegriffe anzugeben. Der hier vorgelegte Vorschlag, der die Grundbegriffe Erziehung, Bildung und Sozialisation in den Mittelpunkt stellt, geht von der Überlegung aus, dass an pädagogisch relevanten Situationen regelmäßig mindestens drei Instanzen beteiligt sind: eine(r) oder mehrere Pädagogen bzw. Pädagoginnen (Eltern, Lehrer usw.), eine Zielgruppe, die aus den Adressaten des pädagogischen Handelns besteht (Zu-Erziehende, Schüler usw.), und eine oder mehrere Institutionen, innerhalb derer das Erziehungsgeschehen stattfindet (Familie, Schule usw.).


Abb. 1: An pädagogisch relevanten Situationen beteiligte Instanzen

Eine mögliche Ordnung erziehungswissenschaftlicher Grundbegriffe könnte man erhalten, wenn man versuchen würde, in der Erziehungswissenschaft häufig vorkommende Begriffe jeweils einer dieser drei Instanzen zuzuordnen (wie z. B. den Begriff Kindheit der Instanz Zielgruppe oder den Begriff Erziehungsziel der Instanz der Pädagog(inn)en). Dabei fällt jedoch auf, dass viele Begriffe keiner der drei Instanzen eindeutig zuzuordnen sind, sofern sie gerade das Geschehen bzw. die Interaktionen zwischen den Instanzen betreffen (wie z. B. Erziehung, Bildung, Sozialisation, Unterricht, Lernen usw.). Auf solche Begriffe konzentriert sich die folgende Darstellung. Dabei wurden mit Erziehung, Bildung und Sozialisation drei Grundbegriffe ausgewählt, die als besonders zentral gelten können.7

Als Theorien lassen sich mehr oder weniger systematisch geordnete Aussagen über Sachverhalte in der Erziehungswirklichkeit verstehen, die sich auf solche Grundbegriffe beziehen und diese zueinander in Beziehung setzen. Theorien im Sinne solcher Aussagensysteme erheben den Anspruch, mit Hilfe jener Grundbegriffe pädagogisch bedeutsame Sachverhalte möglichst adäquat zu beschreiben und auf diese Weise dem Nachdenken über diese Sachverhalte und über pädagogisches Handeln eine Grundlage zu bieten. Die folgende Darstellung beschränkt sich dabei auf Theorien, die sich jeweils einem der drei behandelten Grundbegriffe zuordnen lassen, d. h. also auf Theorien der Erziehung, der Bildung und der Sozialisation. Um sowohl die historische als auch die aktuelle Dimension solcher Begriffe und Theorien einzubeziehen, wurden für die Darstellung in diesem Band jeweils exemplarisch eine ältere und ein bis zwei jüngere Theorien ausgewählt, also für den Begriff Erziehung z. B. die Erziehungstheorie Kants aus der Zeit um 1800 sowie die beiden einander entgegengesetzten Erziehungskonzepte Brezinkas und Krons als Beispiele aus der Gegenwart.

Als Methoden werden in diesem Buch diejenigen Verfahren bezeichnet, die in einer Wissenschaft verwendet werden, um zu mehr oder weniger systematisch geordneten Aussagen über einen Gegenstandsbereich zu gelangen. Im Mittelpunkt steht hier also die Frage, wie solche Aussagensysteme zustande kommen und was sie zu wissenschaftlichen Theorien macht. Die Kenntnis solcher Methoden ist u. a. wichtig, um pädagogische Veröffentlichungen kritisch analysieren und auf ihren Geltungsanspruch hin befragen zu können. Dabei sind allerdings zwei Einschränkungen wichtig. Zum einen geht es hier ausschließlich um Methoden der Erziehungswissenschaft, also um die Verfahrensweisen, die bei der wissenschaftlichen Erforschung pädagogisch relevanter Sachverhalte zum Einsatz kommen – und nicht etwa um Methoden der Erziehung, d. h. um solche Praktiken, derer sich Menschen in ihrem pädagogischen Handeln bedienen. Und zum andern behandelt diese Einführung nicht einzelne Forschungsmethoden wie z. B. das biographische Interview, die teilnehmende Beobachtung oder statistische Auswertungsverfahren, sondern nur die grundlegenden methodischen Ansätze, auf denen solche Forschungsmethoden beruhen und in deren Rahmen sie Verwendung finden. In diesem Sinne werden im zweiten Teil dieses Bandes die drei – zumindest historisch gesehen – wichtigsten methodischen Ansätze der Erziehungswissenschaft vorgestellt, die zugleich mit drei verschiedenen Konzeptionen von Wissenschaft oder Wissenschaftlichkeit verbunden sind: der methodische Ansatz der Empirischen Erziehungswissenschaft (in der vor allem empirisch-analytische Verfahren eine Rolle spielen), der hermeneutische Ansatz (für den interpretative Vorgehensweisen kennzeichnend sind) und der methodische Ansatz der Kritischen Erziehungswissenschaft (für deren Wissenschaftsverständnis der Begriff des Erkenntnisinteresses zentral ist). Dabei wird zugleich versucht, nicht nur die historische, sondern auch die aktuelle Bedeutung dieser Ansätze deutlich zu machen.

Grundbegriffe, Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft

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