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3 Struktur des Ganzen – Schwerpunkte

Folgend soll das Thema der Vermählungstheologie zunächst in einer Art konzentriertem, wenn auch teilweise skizzenhaftem Überblick anhand zentraler thematischer Schwerpunkte von Scheebens Theologie dargestellt werden. Dabei werden jene Inhalte, die später im Rahmen der dogmatischen Traktate breiter ausgeführt werden, hier mehr angedeutet. In Trinitätslehre, Christologie, Gnadenlehre und, ihnen in unterschiedlicher Weise zugeordnet, Anthropologie, Mariologie, in den Ausführungen zu Glaube und Liebe erhält die Vermählungstheologie ihre konkrete Ausprägung. Das wird hier nur umrissen, später entfaltet und gefüllt. – Manche Dopplungen sind schwer zu vermeiden. Das betrifft nicht zuletzt einige der folgend angeführten Texte Scheebens. Es handelt sich um besonders aussagekräftige und charakteristische Texte, die nur schwer ersetzt werden können.

Zum Aufbau dieses Überblicks: Es ist meine Absicht zu zeigen, wie alle Aspekte von Scheebens Theologie in der Vermählungstheologie zusammenlaufen, dort koinzidieren, wie diese wirklich das Ganze enthält und ist. Interpretationsansatz ist dabei, wie oben dargetan, das innere Gefälle der Scheebenschen Theologie, wie es sich seit den ersten Arbeiten Scheebens, vor allem seit »Natur und Gnade« entfaltet: Letztes Ziel der »Natur« ist die Mitteilung der »Herrlichkeiten der göttlichen Gnade« durch die »Vermählung von Natur und Gnade« und das ist der Inhalt der »Mysterien des Christentums«

Das Folgende versteht sich also als Hinführung zu Scheebens Denkform des Ganzen, in Gottes Leben grundgelegt, trinitarisch, christologisch und pneumatologisch mitgeteilt, als Ganzes vermählungstheologisch lesbar.

3.1 Die Gesamtidee der übernatürlichen Ordnung – Überblick

Ich beginne mit einem kompakten Text aus der Dogmatik, worin Scheeben die »Gesamtidee der übernatürlichen Ordnung« darstellt: die innigste Einheit der Menschen und darüber hinaus der ganzen Schöpfung mit und in Gott, als ob »sie keine verschiedenen Wesen, sondern ein Wesen« (kursiv, H.G.) wären (D III 997). Damit ist schon das Ganze als Ganzes, das Scheeben ständig im Blick hat, benannt. Darauf zielt seine Theologie, und diese »Wesensgemeinschaft«, wie Scheeben dies später nennt (in der Kontroverse mit dem Theologen Theodor Granderath253), lässt sich vermählungstheologisch in die von Alexander von Hales und Bonaventura stammende dreigliedrige Formel fassen, der Mensch werde durch die Gnade »Kind Gottes des Vaters, Braut des Sohnes und Tempel des Heiligen Geistes«. Man könnte auch den brauttheologischen »locus classicus« 1 Kor 6,17 anführen, es werde der Mensch »Ein Geist« mit Gott, wenn man das volle Verständnis von »Geist« bei Scheeben einsetzt. Dazu später mehr, hier so viel: Geist bei Scheeben ist Leben, Lebensäußerung und –mitteilung, also Fruchtbarkeit, ist deshalb ad extra gestaltende Form. Die hier zum Thema »Gesamtidee der übernatürlichen Ordnung« angeführten Texte stammen aus Scheebens Gnadentheologie in der Dogmatik. Da diese von der Gnade an sich handelt und er diese mit dem Urstand identifiziert, fehlt weitgehend die Bezugnahme auf Christus. Das ist ein Mangel. Und weil Scheebens Dogmatik unvollendet blieb, wurde eine Gnadenlehre »post Christum«, besser »cum et in Christo«, nur angefangen, aber nicht mehr beendet. Man kann aber deren Dimensionen aus den »Mysterien«, der Christologie selbst und aus anderen Teilen von Scheebens Theologie gewissermaßen extrapolieren. Scheebens Gnadentheologie hat immer einen massiv christologisch-christozentrischen Subtext, und sie muss im Licht der Christologie gelesen werden. (3.1.1)

Es folgt das für Scheeben bedeutsame Stichwort »Herrlichkeiten der göttlichen Gnade«. Der Titel dieses zu seinen Lebzeiten erfolgreichsten Buches zeigt, worum es Scheeben in der »Gesamtidee der übernatürlichen Ordnung« geht: Durch Gnade Teilhabe an der Herrlichkeit des göttlichen Lebens. Hier liegt der Grund für Scheebens zunächst deutliche Formaltrennung von Natur und Gnade und für die Wahl des Begriffs »Übernatur«. Die Gnade und deren Herrlichkeit kann nicht darauf reduziert werden, was formal unter dem Begriff »Natur« gefasst wird. Dass das aber nur eine Seite von Scheebens Verständnis von »Natur« bezeichnet, wird unten gezeigt. Es ist auch das ästhetiktheologische Stichwort »Herrlichkeit« von besonderer Bedeutung, es bestimmt das Pathos von Scheebens Theologie in allen Teilen, nicht zuletzt in der Gestaltung: Das Ganze von Gottes Werk, eben das, was unter »Gesamtidee« erfasst wird, ist ein »organisches Ganzes« von überwältigender Schönheit und Herrlichkeit. Dem muss der nachgestaltende Theologe entsprechen. (3.1.2)

Diese Gnadentheologie stellt Scheeben von Anfang an, wie beim Stichwort »Adoptivkindschaft« erkenntlich, in einen trinitarischen Kontext. Damit ist, nimmt man die immer mitgedachte Christologie hinzu, bereits das Ganze der »Mysterien des Christentums« im Blick, das Ganze des vatikanischen »nexus mysteriorum inter se«. (3.1.3)

Mitteilung der »Herrlichkeiten der göttlichen Gnade«, gnadenhafte Erhebung zur Teilhabe an der Stellung des Sohnes in der Adoptivkindschaft: diese »Erhebung« und »Verklärung« der Natur lässt sich vor allem mit den Griechen als »Vergöttlichung« fassen, ausgefaltet als »physisch« erhebende und verklärende »Verähnlichung« und zugleich als »moralische«, in der Verähnlichung wurzelnde »Vereinigung«. Die Stichworte liefert Scheeben der Areopagite. Hier kommt zum Tragen, dass Scheebens Theologie durchgehend von einem Pathos der vereinigenden Verklärung wie von einem Pathos der mit Gott vereinigenden Liebe bestimmt ist. (3.1.4)

Diese Theosis-Orientierung der Gnadentheologie zeigt sich in deren Hinordnung auf die Gottunmittelbarkeit in der visio beata. Das prägt wesentlich Scheebens Sicht der sogenannten theologischen Tugenden.)

3.1.1 Als ob sie Ein Wesen wären: Die Gesamtidee der übernatürlichen Ordnung

Scheebens Werk entfaltet sich in bemerkenswerter Konsequenz. Dabei steht ihm immer das Ganze vor Augen, dessen »Gesamtidee«, die »Gesamtidee« des »organischen Ganzen« von Gottes Werk, ungeachtet aller notwendigen (oder für notwendig erachteten) Distinktionen und Formaltrennungen. Ich beginne deshalb mit einem weiten Vorgriff auf die gnadentheologischen und christologischen Passagen der Dogmatik.254

Die »Gesamtidee der übernatürlichen Ordnung« umfasst die Schöpfung und deren übernatürliche Bestimmung als ein Ganzes, womit auch die Formaltrennung von Natur und Gnade umfasst ist, umfasst also das, was Scheeben als »Gesamtnatur höherer Ordnung« bezeichnet. Scheeben will die »Gesamtidee der übernatürlichen Ordnung« und deren Verhältnis »zum letzten und höchsten Endzwecke der Schöpfung« darstellen, in welchem nach dem »göttlichen Weltplan« die einzelnen »Individuen in Hinsicht auf den Endzweck der Schöpfung ein großes Ganzes (kursiv, H.G.), ein Universum ausmachen.« (D III n 995)

Ziel ist die Mitteilung der »Herrlichkeiten der göttlichen Gnade«. In der übernatürlichen Ordnung erfüllt sich nach Paulus (1 Kor 15), »daß … Gott alles in allem sei« und »die Kreaturen so mit Gott verbunden und an ihn gefesselt werden, als ob sie keine verschiedenen Wesen, sondern ein Wesen (kursiv, H.G.) mit ihm selbst wären« und er ihr ganzes Leben »nach allen Seiten hin erfüllt und durchherrscht.« (D III n 997)255

Das ist schlechthin zentral, prägt Pathos und Enthusiasmus von Scheebens Verständnis des Übernatürlichen, zeigt, warum Alfred Eröss Scheeben als »Mystiker der Neuscholastik« bezeichnet hat. Diese innigste Einheit in und mit Gott findet ihre Vollendung darin, dass die ganze Menschheit und damit auch die ganze Schöpfung sein von ihm bzw. von seinem Geist erfülltes Heiligtum und Tempel werden:

»So gipfelt zuletzt die ganze übernatürliche Weltordnung darin, daß Gott in und aus seiner Schöpfung sich seine Kirche als ein in seinem Sohn gründendes und vom Heiligen Geist erfülltes Heiligtum baut und sie mit seinem Sohne als dessen Leib und Braut verbindet, damit sie, wie der Apostel (Eph 1, 23) so schön sagt, die plenitudo (πλήρωμα) dessen sei, qui omnia in omnibus adimpletur.« (D III n 1005)

Es ist ein spürbarer Mangel, dass Scheeben an solchen Stellen, aus der Systematik der Gnadenlehre seiner Dogmatik heraus, von Christus absieht. Wenn dann später in ähnlichen Zusammenhängen statt vom »Sohn« konkret von »Christus« gesprochen wird, bleibt oft nur die etwas stumpfe Etikettierung, hier handele es sich um eine mehr »physische« Verbindung als um eine »moralische« oder bloß »freundschaftliche«. Schon der Hinweis auf die Kirche und auf den Epheserbrief zeigt, dass hier unbedingt der christologische Sub- oder besser Kontext mitgehört werden muss.

Das vom Heiligen Geist erfüllte Heiligtum, sein Tempel, ist zugleich innigste »Lebens- und Liebesgemeinschaft«, worin »in realer Weise das in der Freundschaft unter Geschöpfen unerreichbare Ziel, das Durchdringen der Geister und Herzen, verwirklicht wird.« (D III n 1002)

Die eher sachhafte Gestalt von Einwohnung des Heiligen Geistes in einem Haus, im Tempel wird als »ganz einzigartige, wunderbar innige« »Lebens- und Liebesgemeinschaft« von Personen bestimmt. Sie bewirkt eine innige Teilhabe an der Gemeinschaft von Vater und Sohn. Durch seine Einwohnung verbindet der Heilige Geist »als Geist der Liebe des Vaters und des Bräutigams sie mit beiden, erfüllt sie »mit seiner Heiligkeit« und macht sie so »zur würdigen Braut des Sohnes und zur würdigen Tochter des Vaters« (ebd.).

Mit der von Alexander von Hales und Bonaventura stammenden Kurzformel kann dies dann so konkretisiert werden:

»die Kreatur werde hier filia (adoptiva) Patris, sponsa Filii, templum oder sacrarium Spiritus Sancti.« (D III n 1005)256

Dieses Ganze ist christologisch und christozentrisch unterfasst. Die durch Christus begründete Ordnung ist, faktisch und letztlich auch systematisch, die zugrunde liegende Folie. Dies lässt sich eindeutig aus den »Mysterien« erheben, die unmittelbarer christozentrisch argumentieren. Christus ist der »Schwerpunkt der ganzen Weltordnung«.

»Wie die Sonne inmitten der Planeten steht Christus inmitten der Kreaturen als das Herz der Schöpfung, von dem Licht, Leben und Bewegung auf alle Glieder derselben ausströmt und zu welchem alle hingravitieren, um in ihm und durch ihn in Gott zu ruhen.« (M² 355)

Die massive und explizite Christozentrik der »Mysterien« muss man also mithören, wenn Scheeben in der Gnadenlehre der Dogmatik zunächst scheinbar a-christologisch die »Gesamtidee der übernatürlichen Ordnung« behandelt. Dass »Gott alles in allem sei, indem die Kreaturen so mit Gott verbunden und an ihn gefesselt werden, als ob sie keine verschiedenen Wesen, sondern ein Wesen mit ihm selbst wären«, muss, vom Duktus der Dogmatik her, christologisch-christozentrisch gelesen werden und entsprechend der Ternar des Alexander von Hales und des Hl. Bonaventura. Deshalb im Vorgriff ein Text aus der Christologie der Dogmatik (zur bereits angedeuteten Problematik der Begrifflichkeit, freundschaftlich = moralisch, naturhaft = physisch, später):

»Demgemäß ist der übernatürliche Bund mit Gott hier zunächst im Gegensatze zum bloßen Freundschaftsbunde ein auf wahre Vermählung gegründeter ehelicher Bund mit Gott in der Person des Logos, wodurch die Menschen in mystisch-realer Weise dem Logos angegliedert und mit ihm eine Person werden. Dadurch erhält denn auch die Adoptivkindschaft der begnadigten Menschen zu ihrer Grundlage eine organische Verbindung derselben durch den Logos mit der Person seines Vaters; sie involviert daher eine höhere Form der Teilnahme an der Sohnschaft des natürlichen Sohnes, sowohl hinsichtlich der Gemeinschaft der Erbrechte wie hinsichtlich der Vermittlung des Lebens aus dem Vater, weshalb die Väter zuweilen keinen Anstand nehmen, die Gotteskindschaft der Christen als eine naturhafte zu bezeichnen. Desgleichen bringt es die Vermählung mit dem Logos mit sich, daß die Begnadigten durch und in Christus auch in höherer Weise Tempel des Heiligen Geistes sind, der in ihnen als in den Gliedern dessen wohnt, von dem er selbst ausgeht und dem er wesenhaft eigen und mithin wahrhaft in seiner eigenen Person als ihr Geist ihnen eigen ist.« (D V n 1368)257

Alles, was Scheeben zur »Gesamtidee der übernatürlichen Ordnung« schreibt, ist im Licht solcher Texte aus der Christologie lesen, um das volle Bild zu haben.258 Charakteristisch für Scheeben ist, dass immer deutlicher die mitgeteilte Gnade und die Gemeinschaft mit den göttlichen Personen korrelativ gelesen werden und dass wiederum auch die Gemeinschaft mit den göttlichen Personen korrelativ gesehen wird: Die Einwohnung des Heiligen Geistes in seinem Tempel ist Grund und Folge der bräutlichen Verbindung mit Christus.

3.1.2 Die Herrlichkeiten der göttlichen Gnade

»Die Herrlichkeiten der göttlichen Gnade« ist der Titel des zweiten und, wie mehrfach angemerkt, zu Scheebens Lebzeiten erfolgreichsten Buches. Dass die Schönheit und die Herrlichkeit des göttlichen Lebens dem Menschen mitgeteilt werden, ist der Inhalt von Scheebens Gnadenlehre. Dass dies die Seligkeit des Menschen ausmacht, beschreibt Ausgangs – und Zielpunkt sowie die Mitte von Scheeben Theologie.259 Gott zieht die Kreatur so an sich, »daß er selbst als das höchste Gut unmittelbar der Gegenstand ihres Besitzes und Genusses wird«, »sich selbst mit derselben Liebe liebt, womit sie Gott liebt, dass folglich die Freude, Gott in sich selbst so herrlich und selig zu sehen, die Blume und das innerste Wesen ihrer Seligkeit ausmacht«, daß sie, »in den Strom der Wonne Gottes versenkt und von ihm berauscht, gleichsam in Gott aufgeht, nur in ihm lebt und atmet, nichts mehr außer Gott sucht und sich nicht mehr von ihm losreißen kann.« (D III n 996)260

Wieder einer jener Texte wie dieser – hier aus der Dogmatik –, die deutlich machen, warum Scheeben als »Mystiker der Neuscholastik« bezeichnet wurde.

Zwischen »Natur und Gnade« (1861) und den »Mysterien des Christentums« (1865) liegt also Scheebens zweites und erfolgreichstes Werk, »Die Herrlichkeiten der göttlichen Gnade«. Es erreichte zu seinen Lebzeiten in den Jahren 1862 bis 1885 vier Auflagen. Weitere Auflagen, teils deutlich bearbeitet, erschienen nach Scheebens Tod.261 Schon der Titel zeigt an, worum es Scheeben vor allem ging: Die Bedeutung, die Größe und die Schönheit, eben die »Herrlichkeit« dessen herauszustellen, was mitgeteilt wird, die »Herrlichkeiten der göttlichen Gnade«. Dem diente die Herausgabe, Übersetzung und Bearbeitung dieses Buches.262 Verfasst von dem deutsch-spanischen Jesuiten Juan Eusebio Nieremberg (1595–1658), kannte es Scheeben offensichtlich nur in seiner italienischen Fassung. In einem Brief an P. Franz Huber SJ, den Spiritual des Germanicum, Ende 1859, Anfang 1860, also im Jahr von Scheebens Rückkehr aus Rom, schreibt dieser bezüglich der möglichen Veröffentlichung seines programmatischen Artikels »Die Lehre von dem Übernatürlichen in ihrer Bedeutung für christliche Wissenschaft und christliches Leben« (1860).263

»Gerne hätte ich statt einer neuen Arbeit das Werk von P. Nieremberg del prezzo inestimabile della div. grazia bearbeitet und unserer rationalistischen und kalten Zeit zugänglich gemacht: aber es ist auf keine Weise aufzutreiben, weder im Handel noch in Bibliotheken.«264

Das Werk Nierembergs ist Scheeben so wichtig, dass er statt seines eigenen Artikels lieber den Nieremberg bearbeitet und herausgegeben hätte. Deshalb gibt er schon im Artikel selbst eine ausführliche Inhaltsangabe des Werks dieses Fast-Zeitgenossen von Francisco Suarez (1548–1617), wie Scheeben betont.265 Obwohl dieser in Spanien gelebt und gewirkt habe, dürfe »unser Deutschland darum nicht weniger stolz sein« auf ihn (ÜN 36). Nieremberg habe es unternommen,

»im höchsten Grad begeistert, ich möchte sagen trunken von der Herrlichkeit und Erhabenheit der göttlichen Gnade, die sich ihm in ihrem Licht offenbart habe … die Herrlichkeiten, die er gesehen … vor den Augen der ganzen Welt zu enthüllen, um allen christlichen Herzen seine glühende Begeisterung mitzuteilen.« (ÜN 36)

Das ist auch eine Selbstbeschreibung Scheebens und zeigt noch einmal den Ausgangspunkt seiner Theologie. Nieremberg finde den »tiefsten Grund« der »Kostbarkeit und Erhabenheit der Gnade« darin,

»dass sie eine participatio, Teilnahme an der göttlichen Natur sei, dass sie unsere Natur über sich selbst und alles Geschaffene zu Gott erhebe und verkläre, damit dieselbe Gott seiner eigenen Natur nach ähnlich werde.« (ÜN 37)

Zwei Anliegen Scheebens finden sich in den »Herrlichkeiten«. Zum einen die bereits angeklungene Verbindung von Wissenschaft und Ästhetik: Das Ganze von Gottes Wirken, in der Natur, in den »Herrlichkeiten der göttlichen Gnade« durch die Verbindung von Natur und Gnade, der »Gesamtnatur höherer Ordnung«, deren Inbegriff Christus ist, ist ein Abglanz von Gottes Schönheit und Herrlichkeit. Das prägt nicht nur Scheebens Gnadentheologie und Christologie, das findet sich auch in seiner Schöpfungslehre.266 Und in der Gotteslehre handelt er von der Schönheit Gottes.267 Dies ist auch der letzte Grund für Scheebens Gestaltungswillen, mit »staunenswertem architektonischen Geschick« (Grabmann), mit seiner Vorliebe für das lebendig Organische, seinem Bilderreichtum, ganz gleich, ob man das immer als gelungen ansieht.268 Scheeben schaut die Einheit, Ganzheit, Schönheit und Herrlichkeit Gottes und seiner Werke und er sieht die wirkende Macht und Dynamik des göttlichen Lebens, die sich offenbart und mitteilt. Hier liegt auch eine der Quellen der Vermählungstheologie. Das Ganze der Mitteilung der Herrlichkeiten der göttlichen Gnade verdichtet sich in der Vermählung von Natur und Gnade.

Daraus folgt ein Zweites, welches das ganze Werk Scheebens durchzieht, nicht zuletzt seine Opfertheologie, die Entsprechung von Mitteilung der Herrlichkeit Gottes und der Verherrlichung Gottes. Einem Mehr an Mitteilung seiner Herrlichkeit an die Kreatur entspricht ein Mehr an Verherrlichung Gottes, bis in der höchsten Mitteilung »die Fülle der Gnade und die Fülle der Herrschaft Gottes, die höchste innere Verherrlichung der Kreatur und die höchste äußere Verherrlichung Gottes zusammenfallen«. (D I n 9) In seiner Arbeit zum »sakramentalen Charakter« zeigt Maciej, Roszkowski, wie dies im trinitarischen Leben Gottes gründet.269 Ich komme im Rahmen der Trinitätslehre darauf zurück.

Die Verherrlichung Gottes ist letzter und höchster Schöpfungszweck und zwar in dreifacher Weise: Die »äußere Darstellung oder Ausstrahlung seiner Herrlichkeit und Ausgießung und Mitteilung seiner Seligkeit, kurz durch die äußere Offenbarung seiner Macht und Liebe.« Die formelle Verherrlichung Gottes durch seine Geschöpfe, also »die dankbare und ehrerbietige Huldigung, welche die Geschöpfe ihm darbringen.« Die Seligkeit der Geschöpfe in Gott, »die selige Ruhe in ihm als dem letzten Gute.« (D III n 996)

Dies ist ein Schlüssel zum Gesamtwerk. Auch dies erfährt im »Pleroma Christi« seine Aufgipfelung, wo die höchste Verherrlichung der Kreatur durch Gott und die höchste Verherrlichung Gottes durch die Kreatur das All umfasst.270

3.1.3 Trinitarischer Horizont: Adoptivkindschaft

Das eigene Leben Gottes in der ihm eigenen Herrlichkeit ist Maß des Gnadenlebens. Dies wird trinitarisch verifiziert: Das, was Gott von Natur zu eigen ist, sein eigenes Leben ausmacht, teilt er den Menschen mit. Wir werden aus Gnade, was der Sohn Gottes von Natur ist. Das ist Scheebens Tenor von Anfang an:

»alle charakteristischen Merkmale der Übernatur … konzentrieren sich in dem einen Begriffe, daß Gott uns aus Gnade zu seinen Kindern im eigentlichen Sinne des Wortes annimmt, daß wir der Gnade nach werden, was der eingeborene Sohn Gottes der Natur nach ist.« (NG 69)

Mit der Gnadenlehre kommt sofort die Trinität in den Blick. Scheeben verweist in diesem Zusammenhang gern auf 1 Joh 3,1: »Wir heißen Kinder Gottes und wir sind es«. Das eigene Leben Gottes in trinitarischer Konkretheit ist also das Maß des Gnadenlebens. Die Adoptivkindschaft aus Gnade ist an der ewigen Sohnschaft zu messen. Das Kind ist dem Vater nicht bloß ähnlich »in allgemeinen Vorzügen, sondern gerade in allen den Zügen und Merkmalen, die den Vater besonders auszeichnen.« (NG 70)

»Das Kind steht dem Vater gewissermaßen gleich; wie es die Natur vom Vater empfangen, so ist es gewissermaßen eins mit ihm und teilt alles mit ihm, seinen Rang, sein Leben, seine Reichtümer … darum steht es mit dem Vater in dem innigsten, vertrauten Verkehr; es herrscht zwischen beiden die zärtlichste Freundschaft, welche kein Geheimnis vorenthält, keine Furcht aufkommen läßt, und beider Geist zu einem Geiste (kursiv H.G.) verschmilzt: kurz der Sohn ist vollkommen eins mit dem Vater, in der Natur, dem Leben, dem Besitze und der Liebe.« (NG 70 f.)

Das gilt mutatis mutandis auch für die Gnadenkindschaft. Scheeben verwendet das vermählungstheologische und brautmystische Kennwort vom »Ein-Geist-Sein« mit Gott, um das trinitarische Verhältnis von Vater und Sohn zu kennzeichnen und damit auch das Gnadenverhältnis. Das »Ein-Geist-Sein« mit Gott hat sein Maß am trinitarischen »Ein-Geist-Sein« in Gott. Es kann gesagt werden:

»Nachdem wir das innerste Wesen dieser Kindschaft erkannt … müssen wir als Norm einen Satz aufstellen, der, wenn er nicht so ausdrücklich und nachdrücklich in der göttlichen Offenbarung ausgesprochen und darin als ein Beweis der wunderbaren Liebe Gottes niedergelegt wäre, als vermessen und gotteslästerlich gelten müsste … Dieser ist, dass die Verhältnisse, welche wir als Kinder zu Gott haben, nach denen zu bemessen und zu beurteilen sind, welche der eingeborene und natürliche Sohn Gottes zu seinem Vater hat.« (NG 79)

3.1.4 Vergöttlichung – Verähnlichung – Vereinigung

Damit ist die Fallhöhe fixiert. Die den Menschen mitgeteilte Ähnlichkeit mit Gott bzw. mit dem Sohn Gottes ist so stark, dass die Schrift uns Götter nennt,

»und so reden die heiligen Väter, namentlichen die griechischen, vielfach von einer Vergöttlichung des Geistes.« (NG 81)

Scheeben bezieht sich mit »Vergöttlichung« auf Dionysius Areopagita, der ihm auch eine seiner wesentlichen und für das Verständnis der Gnadentheologie wie der Vermählungstheologie zentralen Kategorien liefert, das Begriffspaar »Verähnlichung und Vereinigung« bzw. »Vereinigung und Verähnlichung.«271 Er zitiert den Areopagiten:

»Die Vergöttlichung ist die möglich (sic!) größte Verähnlichung und Vereinigung mit Gott.« (NG 82)272

Ein Kernsatz für Scheeben, fast so etwas wie die DNA seiner Gnadenlehre, denn damit ist beides verbunden, die übernatürliche Erhebung (durch Zeugung) und die damit verbundene wechselseitige Beziehung (Vermählung).

Die »Herrlichkeiten der göttlichen Gnade« werden in »Natur und Gnade« und im gleichnamigen Buch panegyrisch gefeiert. Das Motiv der »Vergöttlichung« greift Scheeben auch in der Gnadenlehre der Dogmatik auf. Es stehe »die Lehre der Heiligen Schrift über die übernatürliche Gemeinschaft mit Gott« »speziell unter dem Begriffe der Adoptivkindschaft« (§ 162) und die »Lehre der Tradition« darüber, »besonders unter dem Gesichtspunkte der ›Vergöttlichung‹, durch die in der Adoptivkindschaft enthaltene Teilnahme an der Geistigkeit, Heiligkeit und Herrlichkeit der göttlichen Natur« (§ 163). In der lateinischen Tradition finde sich dieser Begriff weniger, fehle aber nicht ganz, wie eine Parallele bei Bernhard von Clairvaux zeigt, die von der vergöttlichenden Kraft der Liebe handelt.273

Wie der Bernhard-Text nahe legt und wie vielfach in »Natur und Gnade« ausgeführt, bezieht sich die Vergöttlichung auch auf das mit der Gnade verbundene Leben, vor allem auf Glaube und Liebe, die sogenannten »göttlichen Tugenden«.274 Das gibt Scheebens Aussagen zum Glauben und ganz emphatisch zur Liebe ihren strikt theozentrischen Duktus. Das ewige Leben in der visio ist deshalb der ideale Maßstab des übernatürlichen Lebens.

3.2 Gesamtnatur höherer Ordnung – Überblick

Nach diesem ersten Überblick nun zu dem Thema, mit dem Scheeben oft identifiziert wird: »Natur und Gnade« und als dazu passendes Stichwort »Übernatur«. Hier gilt es gegenüber einigen landläufigen Vorstellungen nachdrücklich zu differenzieren.275

3.2.1 Natur und Gnade: Unterscheidung und Einheit

Wegen seines Erstlings »Natur und Gnade« (1861) gilt Scheeben als Muster eines Natur und Gnade separierenden Extrinsezismus. Das ist ein Missverständnis, zu dem Scheeben selbst ein Stück weit beigetragen hat. Auch der oben angeführte Text von Hans Urs von Balthasar scheint dieses Verständnis Scheebens zu bestätigen. Scheebens primäres und hauptsächliches Interesse ist jedoch das Übernatürliche, wie aus dem seinen ersten Büchern vorangehenden programmatischen Aufsatz »Die Lehre von dem Übernatürlichen in ihrer Bedeutung für christliche Wissenschaft und christliches Leben« deutlich wird.276 Er beklagt dort, ein weit verbreitetes rationalistisches Missverständnis des Übernatürlichen.277 Im Blick auf dieses Missverständnis bringt er den theologischen Topos der »bloßen Natur«, der »natura pura« in Stellung. Der Grundfehler des Rationalismus sei, das Übernatürliche auf den Bereich der »bloßen Natur«, die »natura pura« also, zurückzuführen.278 Scheeben benutzt also den ihm vorgegebenen Begriff der bloßen Natur nur, um davon das Übernatürliche umso klarer abzuheben. Denn, wie immer man auch das Verhältnis von Natur und Gnade beurteilen mag, per definitionem führt kein Weg zur Gnade, den die natura pura, verstanden als solche, ut sic et formaliter, aus eigenen Kräften gehen könnte. Es zeigt sich hier, wie oben angedeutet, dass Scheeben Betonung der Formaltrennung von Natur und Gnade m. E. sicher Teile der romantischen Theologie im Blick hat, viel mehr aber den Rationalismus.

Man muss also sagen: Scheebens Intention ist also von vornherein nicht eine möglichst chemisch »reine Natur«, die es nur in der Theorie, nicht in der Wirklichkeit gibt. Sein Ziel ist die »Übernatur« oder mit der Dogmatik die »Gesamtnatur höherer Ordnung«. Erst so lässt sich die Unterscheidung von Natur und Gnade bei Scheeben recht verstehen. In »Natur und Gnade« wird die »Vermählung von Natur und Gnade« als das »lichtvolle Geheimnis der christlichen Heilsökonomie und somit der ganzen höheren Weltordnung.« (NG 181) bezeichnet. »Natur« hat bei Scheeben eine Zu- und Hinordnung auf die Gnade und zwar in ihrer konkreten heilsgeschichtlichen Gestalt. »Distinguer pour unir« müsste in Fettdruck über allem stehen, was Scheeben zum Thema Natur und Gnade schreibt (3.2.1).

Die Facetten von Scheebens Naturverständnis sind zu sehen. »Natur« wird zum einem formal von der Gnade unterschieden. »Natur« heißt zugleich »Kraft und Tendenz«, »Wurzel«, ist also Leben und Prinzip einer bestimmten Lebensentwicklung. Damit ist »Natur« ein Ganzheitsbegriff, etwas, das sich zu einer lebendigen, »organischen« Ganzheit entwickeln kann. Je konkreter Scheeben ausformuliert, was dieses Leben und die entsprechende Lebensentwicklung, was also »Natur« bedeutet, desto deutlicher wird deren latente Offenheit für die Gnade: Die »Natur« des Menschen kennzeichnet mit der Gottebenbildlichkeit der »ordo immediatus animae ad Deum«, der »Durst nach dem Unendlichen« (3.2.2).279

Vom Verständnis von »Natur« als »Kraft und Tendenz« her ist zu verstehen, was »Übernatur« bei Scheeben bedeutet. Kein Überbau, kein Aufbau in der zweiten Etage. »Übernatur« heißt: Was unter »Herrlichkeiten der göttlichen Gnade« zu verstehen ist, macht sich dort fest, wo die »Natur« ihren Grund und ihre »Wurzel« hat, wo sie die »Wurzel« ihres Selbstvollzuges ist. »Übernatur« bedeutet, dass die »Gnade« zur (zweiten) »Natur« des Menschen wird. Nicht durch Beseitigung der »Natur«, sondern durch deren innerste »Verklärung«. »Übernatur« bedeutet, dass die »Natur« in der »Wurzel« und als »Wurzel« neu qualifiziert wird (3.2.3).

Das Verständnis der »Natur« als »Kraft und Tendenz« einer bestimmten Lebensentwicklung ist auch im Licht von Scheebens Schöpfungsverständnis zu sehen. Der gesamten Schöpfung eignet als »esse participatum« eine innerste Gottbezogenheit, analog dem Verhältnis von Leib und Seele. Von »Natur« eignet der Schöpfung eine rückläufige Bewegung hin zu Gott, die Scheeben als Bewegung der Liebe charakterisiert. (3.2.4)280

Im Menschen kommt die Bezogenheit der Schöpfung auf Gott zu sich, wird sie formell. Die Dynamik von Scheebens Natur– und Schöpfungsverständnis drückt sich vor allem im Verständnis der Gottebenbildlichkeit des Menschen aus. Das bedeutet eine innere Offenheit des Menschen auf die Gnade und es bedeutet, dass die »Natur« des Menschen in allen Stücken ein Vorausbild der Gnadenordnung ist. (3.2.5)

Scheeben akzentuiert die innerste Bezogenheit des Menschen hin auf Gott ganz nachdrücklich, wenn auch formal im Rahmen der Formalunterscheidung von Natur und Gnade. In Bezug auf die »Natur« des Menschen spricht er vom »Durst nach dem Unendlichen«. Daraus folgt, dass im Fall des Angebotes die Mitteilung der Gnade ein »sehnsüchtiges Eintrinken eines den tiefsten Bedürfnissen der Natur entsprechenden himmlischen Balsams« wird. (3.2.6)281

Dieser Logik entspricht die Konsequenz: Von Anfang an hat Gott der Natur ein übernatürliches Ziel gesetzt. In der Wirklichkeit gibt es nur ein letztes Ziel des Menschen. Die wirkliche Natur des Menschen ist nicht die (abstrakt durchaus mögliche) »reine Natur«, vielmehr das, was bei Augustinus die »Natura instituta« ist, mit Scheebens Worten die »Gesamtnatur höherer Ordnung«. Ohne die von Anfang an für den Menschen bestimmte und ihm mitgeteilte Gnade kann in der faktischen Ordnung der Mensch sein Menschsein nicht entsprechend verwirklichen, auch nicht sein »natürliches« Ziel verwirklichen. (3.2.7)282

Die »Gesamtnatur höherer Ordnung« bedeutet innerste »Erhebung« und »Verklärung« der Natur durch eine informationsanaloge »Zeugung«. »Zeugung« ist »Information«, als lebensmitteilende, verähnlichende und vereinigende Gestaltung, ist μεταμόρφωσις und ἀυαμόρφωσις, umwandelnde und hinaufführende Gestaltung. Natur und Übernatur verschmelzen zu »einem organischen Ganzen«. Man trifft so auf die eine zentrale Achse von Scheebens Vermählungstheologie: Die Verknüpfung von Information und Zeugung. Sie verbindet Schöpfungslehre und Anthropologie, Anthropologie und Christologie, Christologie und Trinitätstheologie, wo sie letztlich wurzelt. Von hier ist die unten näher thematisierte Bedeutung der Seele-Leib-Metapher zu sehen. Erst die »Gesamtnatur höherer Ordnung« konstituiert schließlich den Menschen als jenes Ebenbild Gottes, welches Gott bei der Erschaffung des Menschen realisiert wissen wollte. (3.2.8)

Spätestens hier ist der Bruch von »Natur und Gnade« verheilt, erhält er jedenfalls einen gänzlich anderen Akzent. Die »reine Natur« ist faktisch ein Ausgangspunkt, formal isoliert, um das Eidos der Gnade möglichst präzise zu fassen. Ist dies der Fall, kann die »Natur« immer mehr im Licht der »Natura instituta« angesehen werden. Dem entspricht ein letzter Schritt, den Scheeben, vorbereitet bereits in »Natur und Gnade«, in seinem letzten von ihm verfassten Werk und dort auf den letzten Seiten ausformuliert, im wahrsten Sinne des Wortes als Scheebens letztes Wort zum Thema »Natur und Gnade«: In der tatsächlichen Ordnung ist alles wahrhaft sittliche Handeln übernatürlich bestimmt und getragen. (3.2.9)

»Natur« bei Scheeben, ob »Natur« oder »Übernatur«, besser »Gesamtnatur«, ist immer ein Ganzes, als »Wurzel«, die diese Ganze in sich enthält, als »Kraft und Tendenz« einer Lebensentwicklung, als das »organische Ganze« dessen, was sich aus dieser Wurzel »organisch« entwickelt hat. Mit dem Begriff »Natur« fixiert Scheeben immer ein Ganzes. (3.2.10)

Schon im Schlusskapitel von »Natur und Gnade« wird die »Vermählung von Natur und Gnade« als das »lichtvolle Geheimnis der christlichen Heilsökonomie und somit der ganzen höheren Weltordnung.« (NG 181) bezeichnet. Je weiter Scheebens Werk voranschreitet, desto deutlicher wird, dass »Natur« bei Scheeben eine, wie man sagen könnte, exemplarisch-dynamische Zu- und Hinordnung auf die Gnade hat.283 Die Natur des Menschen ist exemplarisch das Vorausbild der Gnade, deren Vorentwurf, und ist dynamisch zuinnerst auf eine mögliche Mitteilung der Gnade angelegt.284

3.2.2 Kraft und Tendenz – Natur als Wurzel

Am Anfang von Scheebens Werk steht in der Tat zunächst die viel zitierte schroffe Gegeneinanderstellung von Natur und Gnade. Am Anfang steht aber ebenso Scheebens dynamisches Naturverständnis. Die in der Auseinandersetzung mit dem Pelagianismus einerseits, Reformation, Bajanismus und Jansenismus andererseits erfolgte Unterscheidung von Natur und Gnade im Sittlichen wird auf den Bereich der Erkenntnis übertragen. Wenn es aber eine doppelte Sittlichkeit und eine doppelte Erkenntnis gibt, je eine natürliche und eine übernatürliche, dann müsse es auch eine »doppelte ontologische Ordnung«, also zwei Naturen geben.285

Diese physische Reduktion begründet zugleich Scheebens Verständnis von lebendiger, organischer Ganzheit. Alles, was formell und materiell zu einer Natur gehört, wird auf einen Grund zurückgeführt, auf eine Quelle, die zugleich das Maß der Entwicklung bestimmt. Es wird gewissermaßen ein Kreis geschlagen, eine Ganzheit festgestellt, die den Grund zum Maß und zur Quelle einer Lebensentwicklung macht, in Scheebens Terminologie zu einer »lebendigen Wurzel«. In der Wurzel ist das Ganze der Lebensentwicklung grundgelegt. Was in der Wurzel grundgelegt ist, drängt zur Ausbildung der der Wurzel entsprechenden Lebensgestalt. Scheeben hat mit dieser naturalen Reduktion bereits sein Ganzheitsdenken grundgelegt bzw. gibt ihm damit Grund und Ausdruck.

Dies wird durch die Unterscheidung von Wesen und Natur unterstrichen: Natur ist Wesen als »Lebensgrund«, d.h. als »Wurzel« eines bestimmten Lebens. Natur meint »die durch Zeugung mitteilbare Wesens- und Lebensform.« (NG 16) Aber da nur bei Lebewesen Zeugung stattfindet, bezeichnet der Begriff nicht das Wesen und die Substanz einer Sache schlechthin, sondern immer mit der »Schattierung« des Bezugs

»auf ihr Leben, ihre Tätigkeit, als ›principium motus‹ … als Wurzel und Grundlage des ganzen Lebens.« (NG 16)

Ebenso betont Scheeben durch die Unterscheidung von »Inbegriff« und »Grundkraft« das Dynamische des Naturverständnisses: Natur kann »den Inbegriff alles dessen, was zur Lebensentwicklung und Bewegung eines Wesens gehört, also die einzelnen Kräfte, die Tätigkeit, die Tendenz nach dem angemessenen Ziel usw. …« (NG 22) bezeichnen. Dies unterfasst Scheeben noch einmal durch das, was »zu diesem allem die Grundlage bildet« (ebd.). Diese Grundlage ist »Grundkraft« und »Grundrichtung«, aus der, was der »Inbegriff« umfasst, »wie aus einer Wurzel« hervorgeht. Natur ist also in Bezug auf eine distinkte Ganzheit ein lebendiges exemplarisches und dynamisches Organisationszentrum, eine Wurzel. Exemplarisch, denn die Grundkraft enthält in nuce das Ganze des Inbegriffs, dynamisch, weil die Grundkraft zugleich Grundrichtung ist. Die Kraft ist nicht Potenz, als bloße Möglichkeit und Fähigkeit, sondern als lebendige Energie und lebendiges Streben. Natur also ist

»die Grundkraft gewissermaßen und die Grundrichtung auf ein Ziel, aus der alle übrigen einzelnen Kräfte in ihrem Kreise, alle Tendenzen, alle Tätigkeiten, alle Verhältnisse zum Ziele und zu allen mit jenen Tätigkeiten in Berührung kommenden Gegenständen wie aus einer Wurzel hervorgehen.« (NG 22)

Natur ist »das Wesen eigentlich nur insofern, als dies durch seine eigentümliche Beschaffenheit ein bestimmter Lebensgrund, Prinzip eines Lebens und einer Bewegung nach seinem Ziele hin und in seiner Sphäre ist.« (NG 24) Oder:

»Natur ist der aus der Substanz und Wesenheit eines Wesens an sich notwendig hervorgehende Lebensgrund, mit einer bestimmten Kraft und Tendenz, welche aus sich nach einem bestimmten Ziele und nach einer bestimmten Entwicklung und Vollendung strebt.« (NG 32)

Natur ist also bei Scheeben nicht nur im Sinn der Neuscholastik zu verstehen, sondern auch im Sinn einer romantisch geprägten Philosophie des Lebens. Natur ist also bei Scheeben etwas Dynamisches, bedeutet einen »notwendig« hervorgehenden »Lebensgrund«, die »Kraft und Tendenz«, das »Streben« nach »Entwicklung« und »Vollendung«. Eugen Paul spricht von »natura viva«.286 Natur ist, wie vor allem die Weiterentwicklung dieses Ansatzes in der Gotteslehre zeigt, Leben, Lebensgeist, Geist.

Indem Scheeben die Unterscheidung von Wesen und Natur auch in die Gotteslehre überträgt, fundiert er so deren innere Offenheit in die trinitarische Lebensmitteilung und die Lehre von der Dreifaltigkeit Gottes. Auch die Anthropologie, die Lehre von der »Natur« des Menschen, wird in dieser Weise dynamisiert. Alles, was in der Dogmatik über die Natur des Ebenbildes Gottes gesagt wird, ist aus dieser Perspektive zu sehen. Die Seele des Menschen hat, »weil zum Bilde und Gleichnisse Gottes erschaffen« (D III n 517), ein »auf Gott als ihr Urbild gerichtetes … religiös-sittliches Leben.« (ebd.)

»Sie hat auch für dieses Leben … schon in und mit ihrer Wesenheit die aktive Kraft und Tendenz (Triebkraft), woraus dasselbe hervorgehen soll, von Gott empfangen, so dass die Betätigung dieses Lebens nur eine Entfaltung und Entwicklung einer aus dem Wesen der Seele entspringenden Wurzel (kursiv H.G.) und das wesentliche Bild … wurzelhaft (kursiv H.G.) und virtuell … enthält, also ein wahrhaft lebendiges Bild Gottes ist.« (D III n 517)

Natur ist wurzelhaftes, auf Entfaltung gerichtetes Streben, ist »Kraft und Tendenz« dahin. Alles, was über die Gottebenbildlichkeit des Menschen gesagt wird – »ordo immediatus«, »Durst nach dem Unendlichen« –, ist in die Dynamik dieses Naturverständnisses rückgekoppelt.

3.2.3 Übernatur als Natur

Übernatur ist die quasinaturale Neubestimmung der Natur als Natur, der »Wurzel« als Wurzel. Die Natur wird von Grund auf, quasinatural, neu qualifiziert. Die »Natur« ist der Ort – der »Schoß«, wie man vorgreifend sagen kann –, an dem und in dem, durch deren Erhebung und Verklärung, die »Übernatur« sozusagen stattfindet. Die »Übernatur«, das ist »Natur« und »Übernatur« in inniger Einheit, die »Gesamtnatur höherer Ordnung«. Übernatur ist die quasiphysische Partizipation der göttlichen Natur durch die menschliche Natur:

»Übernatur kann an sich die über der niederen stehende höhere Natur eines andern Wesens, also namentlich die höchste, die göttliche bezeichnen; aber eben deshalb ist uns Übernatur in der Natur das, was in der niederen menschlichen Natur eine Partizipation der höchsten göttlichen Natur nach ihrer Eigentümlichkeit ist.« (NG 4)

Es geht also um die Übernatur in der Natur. Es wird

»der geschaffene Geist in seinem Innersten, im tiefsten Grunde seines Seins und Lebens, Gott ähnlich gemacht und (er empfängt, H.G.) … ein höheres Sein und einen höheren Lebensgrund …« (D III n 800)

Mit dem Begriff »Übernatur« werden die »Herrlichkeiten der göttlichen Gnade« zur innersten Bestimmung des Menschen gemacht, zu seiner »Natur«. Die mit der Übernatur verbundene Würde der Adoptivkindschaft beruht

»auf einer inneren Erhöhung oder Verklärung der Natur, und zwar der Natur im Sinne der den Lebenskräften zugrunde liegenden … Wesensbeschaffenheit … sie beruht auf einer Verähnlichung der geschaffenen Natur mit der göttlichen Natur gerade in dem Momente, wodurch diese der Grund des ihr allein von Natur eigenen göttlichen Lebens ist.« (D III n 801)

Dieses »›Göttlich- und Geistig-Sein‹ der Seele« ist »das fundamentale Produkt der Wiedergeburt«, ist »schlechthin … das übernatürliche Sein der Seele« (D III n 802). Schon die übernatürlichen Tugenden Glaube und Liebe sind etwas Physisches:

»Aber dieses Sein und Lebendigsein ist formell nur ein höherer Zustand der Seelenvermögen und setzt eben als solches zu seiner inneren Vollendung und tieferen Begründung ein anderes Sein und Lebendigsein voraus, wodurch die Seele auch in ihrem Wesen als Trägerin und Zentrum ihrer Vermögen und in ihrer Natur als dem innersten Grunde ihres ganzen Lebens geadelt und verklärt wird …« (D III n 802)287

Emphatisch zeigt die grundlegende naturale Immanenz der Übernatur in der Natur der folgende frühe Text, in dem man in gewisser Hinsicht den ganzen Scheeben hat. Er zeigt zugleich das Anliegen, bestimmte Formaltrennungen (Glaube, Liebe, heiligmachende Gnade) durch den Begriff »Übernatur« und durch ihm konnotierte Bilder wie Licht und Feuer einzuholen:

»Wenn aber die untere Natur überhaupt in allen jenen Beziehungen auf die Stufe einer höheren Natur erhoben wird, und namentlich, wenn diese Erhebung die Natur so tief erfasst und so mächtig in ihr innerstes Sein und Wesen hineingreift, wie es geschehen kann, wenn die Gottheit, das reinste Licht und das stärkste Feuer, ihr Geschöpf ganz mit ihrer Kraft durchdringen will, um es ganz zu durchleuchten und zu durchglühen, es ganz in ihre Herrlichkeit zu verklären, es dem Vater der Geister ähnlich zu machen und ihm die ganze Fülle seines göttlichen Lebens mitzuteilen, wenn, sage ich, das ganze Sein des Geistes in seinem tiefsten Grunde und in all seinen Verzweigungen bis zum Gipfel hin ein anderes wird (kursiv, H.G.), nicht durch Zerstörung, sondern durch Erhebung und Verklärung: dann kann man sagen, dass zu der niederen Natur eine gleichsam neue, höhere Natur hinzugetreten sei, nämlich durch die Mitteilung des Wesens, dem diese Natur an sich eigen ist.« (NG 21 f.)288

In »Natur und Gnade« steht dies im Horizont der »geschaffenen Gnade«. Es kann aber umstandslos in den Kontext einer Neubewertung der »ungeschaffenen Gnade« transponiert werden. Seit den »Mysterien« und vor allem seit der Gnadenlehre der Dogmatik und der sich anschließenden Kontroverse mit Theodor Granderath heißt »Mitteilung des Wesens, dem diese Natur an sich eigen ist«, zugleich Mitteilung der göttlichen Personen und Gemeinschaft mit ihnen. Es ist die »übernatürliche Teilnahme eines Wesens niederer Ordnung an der Natur oder vielmehr an dem Sein eines höheren Wesens«, wobei dann Wesen »geradezu als mit den göttlichen Personen identisch und gerade durch die Personen als solche mit uns vereinigt gedacht muss.« Scheeben verwendet dann den Begriff »Wesensgemeinschaft«, ein Kürzel, das wieder in den Ternar des Alexander von Hales und des Hl. Bonaventura übertragen werden kann (Kontroverse 254 u. 257).289 Die Innigkeit der Vereinigung kommt zum Ausdruck in der Formulierung, sie seien so eins »als ob sie keine verschiedenen Wesen, sondern ein Wesen« seien. (D III n 997)

3.2.4 Analogie der Einheit von Seele und Leib – Innerste Gottbezogenheit der Schöpfung

Im Gesamtwerk wird immer deutlicher, wie sehr Scheeben die Enge eines extrinsezistischen Verständnisses von Natur aufbricht. Immer wieder wird die innige Gottbezogenheit schon der Schöpfung und der Immanenz Gottes in seiner Schöpfung betont, analog dem Wirken des Geistes im Leib, ja analog dem Verhältnis von Weinstock und Reben.290 Dieses gelte zwar für die Gnadenordnung, aber nach den Vätern bestehe »schon ein analoges Verhältnis zwischen der geschaffenen Natur und dem schöpferischen Logos« (D II n 50).291

Auf zwei Modelle greift Scheeben immer wieder zurück, das des Lichtes und das der den Leib durchdringenden und gestaltenden Geistseele. Das Sein eines Geschöpfes hat »als ein esse participatum zu Gott als dem esse subsistens seinen Grund ganz in Gott«, »wie der Strahl zu seiner Lichtquelle« (D III n 39)292

Die Erklärung der innersten Gegenwärtigkeit Gottes in den Dingen – diese »ebenso schwierige(n) als erhabene(n) und bedeutungsvolle(n) Lehre« (D II n 363) kann man

»nicht besser geben als durch Vergleichung mit dem Verhältnisse der menschlichen Seele zum Körper, welches allein ein entsprechendes Analogon in der geschöpflichen Welt bietet.« (D II n 363)

Aus dieser innigsten Verbindung resultiert auch eine rückläufige Bewegung der Schöpfung hin zu Gott als dem Guten schlechthin, die eine Bewegung der Liebe ist. Scheeben spricht vom »Kreisgang der Liebe« (NG 83) bzw. vom »Zirkel der Liebe« (D II n 579), wieder ein vom Areopagiten übernommenes Motiv.293 Die Schöpfung ist ihrem innersten Sein nach auf Gott hingeordnet. Gott, »der einzige ursprüngliche Inhaber alles Guten«, ist »das bewunderungswürdigste und von allen Dingen nachzubildende und nachzuahmende Ideal der Güte« (D II n 327). Er verdient es, »über alles (super omnia) geliebt« zu werden, denn »ohne den ihm eigenen Besitz des Guten« ist »jeder andere Besitz desselben unmöglich« und folglich muss »sein Besitz in jedem andern mitgewollt werden.(D II n 325)294 Weil die Geschöpfe »absolut von ihm abhängig sind und ihm angehören, und ohne Vergleich mehr Gott angehören und in innigerer Beziehung zu ihm stehen, als zu irgend einem anderen Wesen … (ist es so, dass sie Gott, H.G.) nicht bloß lieben können und sollen wie sich selbst, sondern mehr als sich selbst und so … ihre ganze Liebe zu sich selbst der Liebe zu ihm unterordnen und unterwerfen.« (D II n 325)

Diese Beziehung ist die eines »organischen Ganzen«, welches ja immer ein analoges Seele-Leib-Ganzes ist. Sie ist »so innig, daß sie auf geschöpflichem Gebiete ihr höchstes Analogon nicht in den Verbindungen zweier selbständiger Wesen, sondern nur in der Beziehung der Glieder eines organischen Körpers zum Ganzen resp. zum Lebensprinzip desselben hat. (ebd.) Eine der Grundfiguren physisch-moralischer Einheit, die des »organischen Ganzen«, ist also leitend bereits auf der Ebene der gesamten Schöpfung, damit auch auf der Ebene von »Natur« im theologischen Verständnis des Begriffs. »Natur« ist immer schon im Innersten bestimmt von der dynamischen Kraft der Immanenz Gottes in seiner Schöpfung.

3.2.5 Die Idee der Schöpfung

In der Dogmatik werden dynamisches Naturverständnis, Immanenz Gottes in seiner Schöpfung und von der Idee der Gottebenbildlichkeit bestimmte Anthropologie ineinander gefügt.295 Die allen drei Gegebenheiten eigenen Dynamiken verstärken sich gegenseitig, werden in der Anthropologie formell, kommen dort zu sich. Die so gelesene Anthropologie läuft letztlich auf das zu, was bei Augustinus die »natura instituta« ist, bei Scheeben die »Gesamtnatur höherer Ordnung«.

Schöpfungslehre, Anthropologie und Gnadenlehre werden in der Dogmatik parallel zur Lehre von Gottes Sein, seiner Natur und von Gottes trinitarischer Fruchtbarkeit gestaltet. Damit legt Scheeben den Grund für das Verständnis der empfänglichen Fruchtbarkeit der menschlichen Natur Er will in der Dogmatik erstens das »wesentliche, allen außergöttlichen Wesen gemeinschaftliche Verhältnis zu Gott als ihrem Prinzip und Endziel darstellen«, sodann deren Natur, namentlich »der Engel und der Menschen, in welcher sich ein Ebenbild der göttlichen Natur vorfindet und folglich Gott sich in der vollkommensten Weise offenbaren und mitteilen kann«, schließlich, da Gott der vernünftigen Kreatur ein übernatürliches Ziel vorgesteckt hat,

»die ursprüngliche Einrichtung einer auf dem Boden der Natur aufgerichteten übernatürlichen Weltordnung … welche die innigste Lebensgemeinschaft mit dem dreifaltigen Gott zum Ziel hat.« (D III n 1)

Und er fügt dann hinzu:

»Hiernach ergibt sich die Einteilung in drei Hauptstücke, welche sich organisch aufeinander aufbauen … und in vielfacher Weise den drei Hauptstücken der materiellen Gotteslehre – Sein, Leben und Lebensmitteilung – entsprechen.« (D III n 1)

Damit stehen die Gotteslehre incl. der Trinitätslehre und die in die Schöpfungslehre eingefügte Anthropologie und Gnadenlehre in exemplarischer Parallelführung zueinander: Sein – Natur – mitteilsame göttliche Fruchtbarkeit bzw. menschliche Empfänglichkeit, also menschliche empfängliche Fruchtbarkeit. In beiden Fällen ist die Natur das vermittelnde Bindeglied. Diese Zuordnung von Gotteslehre und Anthropologie ist das Grundmuster der Zuordnung von Gnade und Natur, von deren Vermählung.

3.2.6 Natur und Gnade formal

Allerdings zeichnet Scheeben in »Natur und Gnade« zunächst ein Bild »reiner Natur«, wenn er auch dann von der Gnade »viel ausführlicher und intensiver« handelt, worauf Scheffczyk hinweist.296 Aber die natura pura ist ja zunächst nur ein Begriff, und es ist die Frage, welchen Realitätsgehalt er hat. Ist der tatsächlich existierende Mensch ein Wesen »reiner Natur«? Auf diese Frage gibt Scheeben von Anfang an eine differenzierte Antwort, die im Fortgang seines Werks immer nuancenreicher wird. Zunächst, darin ist Balthasar Recht zu geben, stellt Scheeben »ein begrifflich widerspruchsloses Reich der ›natura pura‹« dar. Diese »reine Natur« hat, wie jede Natur, die Tendenz, einem eigenen Ziel zuzustreben und so zu der ihr eigenen Vollendung zu gelangen, strebt »aus sich nach einem bestimmten Ziele und nach einer bestimmten Vollendung«. (NG 32)

Scheeben übernimmt also ein in der Schultheologie gängiges Verständnis von »natura pura«. Zugleich formuliert er sein dynamisches Verständnis von Natur als mit einer bestimmten »Kraft und Tendenz« – ein immer wiederkehrendes Begriffspaar – zum Streben nach »Vollendung« ausgestattet. »Natur« in diesem Sinn kann auch mit dem Bild »Wurzel« gefasst werden. Die Natur, vom Schöpfer entsprechend ausgestattet ist »unverwüstlich gut«. (NG 32) Dies ist »das Wahre am Rationalismus«.297

Es gibt entsprechend eine der Natur eigene und von ihr erreichbare Vollendung. Angesichts der Gegensätzlichkeit von Geist und Materie ist eine in diesem Sinn erreichbare Vollendung allerdings nur getrennt vom Leib möglich. Die »vollkommene und stetige Einheit der Totalnatur ist … übernatürlich«. (NG 40)298

Scheeben setzt also die Tradition eines doppelten Ziels des Menschen voraus, denn

»für jede Natur gibt es eine bestimmte, ihren Kräften angemessene und entsprechende Entwicklung und Vollendung«. (NG 32)

Deshalb lässt sich abschließend feststellen:

»Aber immerhin bleibt es wahr, daß der Mensch auch in seinem reinen Naturzustande ohne eigentlich übernatürliche Offenbarung und Gnade Gott in gebührendem Maße erkennen und lieben und so sich auf sein natürliches Ziel vorbereiten kann.« (NG 55)299

Diese klare und eindeutige Position hinsichtlich einer »reinen Natur« und damit einer möglichen doppelten Vollendung des Menschen erfährt aber schon in »Natur und Gnade« einige charakteristische Brechungen. Scheeben erwähnt die »dogmenhistorische Schwierigkeit«, dass offensichtlich Augustinus, aber ebenso »der doch so genaue heilige Thomas« die Bestimmung zur »visio beatifica«, zur beseligende(n) Anschauung Gottes« unmittelbar mit der »vernünftigen, intellektuellen Natur des Geistes« zu verknüpfen scheinen. (NG 36)300 Er antwortet mit dem korrekten Argument, die Väter und Thomas hätten hier keine Notwendigkeit gesehen. Dass dem so sei, erhelle daraus dass die Väter »ein neues Licht, eine Verklärung und Erhebung der natürliche Erkenntniskraft verlangten«, die keine »notwendige Vervollkommnung« sei, nicht zu der »ihr eigenen Entwicklung« gehöre, welche »nur in der ihr eigenen Sphäre stattfindet.« (ebd.) Man muss hinzufügen, dass dies nicht dem ganzen Sachverhalt entspricht. Die Frage eines »natürlichen« Endziels war jedenfalls für die Väter noch kein Thema, wie Scheeben später selbst schreiben wird.301 Scheeben steht damit an genau jener Wegscheide, an der dann in den späten 40ern und frühen 50ern des vergangenen Jahrhunderts die Auseinandersetzung um die sogenannte »Nouvelle Theologie« stattgefunden hat.302

Mit Verweis auf Ripalda betont Scheeben die Schwierigkeit, genau zu bestimmen, worin der Unterschied zwischen einer natürlichen Seligkeit, Gotteserkenntnis und Gottesliebe und einer übernatürlichen bestehe.303 Gegen die »Spitzfindigkeiten« der spanischen Scholastik in diesem Zusammenhang, beziehe er sich auf Thomas, der das Ganze tiefsinnig durchdrungen habe »und in ein System brachte, das seine Nachfolger nur weiter auszuführen brauchten.« (NG 30) Schon in »Natur und Gnade« trifft Scheeben hinsichtlich der tatsächlichen Ordnung diese markante Feststellung:

»Darin, daß in der Wirklichkeit nicht eine natürliche, sondern eine übernatürliche Ordnung besteht, liegt auch der Grund, warum wir in der Wirklichkeit gar nicht oder selten das natürliche Leben in seiner vollen Kraft, unabhängig vom übernatürlichen, auf die übernatürliche Offenbarung und Gnade gegründeten, erblicken (kursiv, H.G.).« (NG 57)

Scheeben verlässt damit also die abstrakte Betrachtung der Natur und ihrer Fähigkeiten und schaut auf die tatsächlichen Gegebenheiten. Die tatsächliche Ordnung der Dinge ist übernatürlich bestimmt und auch geprägt. Wer deshalb angesichts der übernatürlichen Offenbarung diese verwirft, wird auch sein »natürliches Verhältnis zu Gott verletzen«. (NG 57) Und umgekehrt verbinden sich natürliches und übernatürliches Handeln:

»Bei denen, welche die Offenbarung und Gnade mit Dankbarkeit annehmen, verschmilzt gewissermaßen die natürlich gute Tätigkeit mit der übernatürlichen und tritt deshalb nicht besonders hervor.« (NG 57)

Bei denen, die »die Offenbarung noch gar nicht kennen, kann sich das natürliche Leben entwickeln und entwickelt sich in der Tat.« (ebd.)

»Gleichwohl wird auch hier in der gegenwärtigen Weltordnung wegen der Uroffenbarung und derjenigen, die Gott im Innern des Menschen wirken kann, sehr oft schon das natürliche Leben über seine Ordnung hinausgehoben. Ja, im allgemeinen wird jetzt alle Tätigkeit des Menschen von Gott einem übernatürlichen Ziele auf die eine oder andere Weise zugelenkt (kursiv, H.G.) …« (ebd.)

Von hier bleibt bei Scheeben eine gewisse Ambivalenz, jedenfalls für »Natur und Gnade«. Aus der Perspektive des Übernatürlichen, der »Herrlichkeiten der göttlichen Gnade«, kann er mit Hilfe des Begriffs der »reinen Natur« zwar isolieren, was diese vermag und was nicht. Aber diese Unterscheidung greift eigentlich nur abstrakt, denn in der Wirklichkeit ist die Natur und sind die aus der Natur hervorgehenden Lebensakte bereits »auf die eine oder andere Weise« übernatürlich unterfasst und finalisiert. Dass Scheeben bereits in »Natur und Gnade« von einer faktisch übernatürlich bestimmten Ordnung ausgeht, wird m. W. kaum erwähnt, wenn dieser Erstling als Muster eines Natur-Gnade-Extrinsezismus präsentiert wird.

Scheeben geht es also nicht um die »reine Natur«, sondern mit der Betonung der Formaltrennung von Natur und Gnade will er verhindern, dass die Gnade, das Übernatürliche, auf die Dimensionen der »Natur« reduziert wird. Es geht Scheeben m.a.W. um das, was er mit einem wohl nicht von ihm stammenden Begriff als »Übernatur« bezeichnet.304 Der Begriff ist hoch missverständlich, legt er doch nahe, das Übernatürliche als einen Überbau zu verstehen, über der Natur, in der zweiten Etage. Gemeint ist aber eine innerste Durchdringung der »Natur« qua Natur durch Teilhabe an dem der göttlichen Natur Eigenen. Es wird »das ganze Sein des Geistes in seinem tiefsten Grunde und in all seinen Verzweigungen bis zum Gipfel hin ein anderes«. Zur Natur tritt eine »gleichsam neue, höhere Natur« hinzu, »durch die Mitteilung des Wesens, dem diese Natur an sich eigen ist.« Eine »Erhebung und Verklärung« durch die Mitteilung der göttlichen Natur, »das reinste Licht und das stärkste Feuer«, um das Geschöpf »ganz zu durchleuchten und zu durchglühen, es ganz in ihre Herrlichkeit zu verklären.« (NG 21 f.) Scheeben exemplifiziert dies mehrfach mit dem brauttheologischen locus classicus 1 Kor 6, 17, »Wer aber dem Herrn anhängt, ist ein Geist mit ihm«.

3.2.7 Natur des Ebenbildes Gottes

Im Fortgang von Scheebens Werken, vor allem in der Dogmatik, tritt dann immer deutlicher hervor, dass die Natur im Innersten dazu bestimmt ist, Übernatur zu sein, mit dieser eine, wie Scheeben später sagt, »Gesamtnatur höherer Ordnung« zu bilden. (D III n 900) Der Schlüssel zu dieser Sicht des Menschen ist dessen Konstitution als Ebenbild Gottes.305

Die Zentralität dieses Ansatzes wird dadurch unterstrichen, dass Scheeben ihn gegen die philosophische Definition zur Geltung bringt: Diese »theologische Idee« sei »nachdrücklicher, lebendiger und tiefer« als der Begriff des »animal rationale« Hier ist für ihn »die Grundlage gegeben … für die ganze und volle Idee des Menschen in Hinsicht auf die tatsächliche Bestimmung seiner Natur resp. für den Begriff des Idealmenschen, wie er durch göttliche Institution im ersten Menschen sofort realisiert war.« (ebd.)306

Aus der Ebenbildlichkeit des Menschen also, »durch die Betrachtung des direkten inneren Verhältnisses des Abbildes zum Urbilde,« aus dem »ordo immediatus ad Deum«, resultiert eine bereits »natürliche« Finalisierung auf Gott als Ziel des Menschen:

»Als Abbild Gottes nach seiner geistigen Natur ist die geistige Seele im Unterschied von den niederen Geschöpfen Gott auch darin ähnlich, daß ihr geistiges Leben denselben Inhalt und dieselbe Richtung haben und in demselben Gegenstande ruhen kann und soll wie das göttliche Leben. Sie ist nämlich befähigt und berufen, Gott selbst zu erkennen und zu lieben und so ihr Urbild zu erfassen und sich mit ihm zu vereinigen.« (D III n 339)

Dass Scheeben seine Anthropologie von der Ebenbildlichkeit her entwirft, ist ein Angelpunkt seiner Anthropologie und ist Grund und Wurzel der unmittelbaren Gottesbezogenheit des Menschen. Hier liegen für Hoffmann auch Grund und Wurzel der Dynamik des desiderium naturale nach Scheebens Verständnis307 Die »spezifische Gehorsamspotenz«, also die potentia oboedientialis kommt dem Menschen zu, »weil er Ebenbild Gottes ist«.308

Dieser Begriff also, die göttliche Idee des Menschen, ist so angelegt, dass er die Natur als für die Gnade offene darstellen kann. – An späterer Stelle weist Scheeben mit den Vätern darauf hin, dass die »ganze und volle Idee des Menschen« die Konstitution der »Totalnatur« umfasste, d.h. Natur und Gnade, dass ferner einige Väter dies in den beiden Begriffen »Bild und Gleichnis ausgesprochen sahen.309 Dies unterstreicht, wie sehr Scheebens Anthropologie faktisch von der Zuordnung von Natur und Gnade bestimmt ist.

3.2.8 Natur und Gnade konkret: »Durst nach dem Unendlichen« – »sehnsüchtiges Eintrinken eines den tiefsten Bedürfnissen der Natur entsprechenden himmlischen Balsams«

Der Mensch in der Anthropologie der Dogmatik ist nicht primär der Mensch der »reinen Natur«, er ist der Mensch des Ebenbildes Gottes. Zwar wird auch hier formell nur die Natur des Menschen als solche beschrieben. Der Sache nach bewegt sich Scheeben in die Richtung des desiderium naturale in visionem beatam.310 Die »Natur« als »Kraft und Tendenz« einer bestimmten Lebensentwicklung trägt in sich den »Durst nach dem Unendlichen«, hat qua Natur in sich die »Kraft und Tendenz«, Gott selbst zu erkennen und zu lieben und so ihr Urbild zu erfassen und sich mit ihm zu vereinigen.« Der Mensch der »bloßen Natur«, wie die Dogmatik ihn beschreibt, steht vor Gott und strebt zu ihm hin, um sich mit ihm zu vereinigen, soweit wie möglich.311 Ganz nachdrücklich stellt Scheeben anknüpfend an »Natur und Gnade« und mit Berufung auf Irenäus und Augustinus fest, dass es in der Wirklichkeit »kein doppeltes ewiges Leben, kein doppeltes Endziel, eins für die natürliche, eins für die übernatürliche Ordnung, sondern das erstere ist mit letzterem solidarisch verbunden resp. in demselben aufgehoben, d.h. nur mit ihm und ihm erstrebbar und erreichbar.« (D III n 983) Es gibt deshalb weder einen Zwischenzustand zwischen Gnade und Ungnade für die Natur noch einen unverschuldeten Nichtbesitz der Gnade. Die Natur ist

»so mit der Gnade verflochten, daß sie ohne dieselbe auch nicht mehr ›wahre Natur‹, sondern bloß eine verkümmerte, mangelhafte, gestalt- und leblose Natur ist, wie ein von der Seele, welcher er angehörte, getrennter Leib.« (D III n 994)

Damit wird jeder »Sonderweg« einer Vollendung als »bloße Natur« rein hypothetisch. Die Gottesbeziehung der Schöpfung kommt im Menschen zu sich, wird dort formell.312 In seinem geistigen Sein und in seinem Innersten ist der Mensch Abbild Gottes, dessen »Durst nach dem Unendlichen« durch kein geschaffenes Gut gestillt werden kann. Im Erkennen und im Wollen strebt der Mensch, von Gott zuinnerst erleuchtet und belebt, hin zu Gott. Der »Natur«, der »natura viva«, wie Paul sagt, als »Lebensgrund«, als »Wurzel«, ist, wie Norbert Hoffmann und Eugen Paul überzeugend gezeigt haben, ein naturgegebenes, von Gott bestimmtes und getragenes Streben hin zu Gott immanent und »natürlich«.313

Hier scheint mir die Differenz in der Auslegung zwischen Norbert Hoffmann und Eugen Paul zu liegen. Beide sehen ein in der Natur als Wurzel liegendes immanentes und in ihr gründendes dynamisches Streben nach Gott. Insofern ist ein Verständnis der Natur als Wurzel und als der »apriorische Lebensgrund, der transzendental im Horizont seines Formalobjektes steht«, adäquat.314 Von ihm her denkt Scheeben und auf den hin bewegt er sich. Der damit gegebene Horizont ist in der Tat die »Vermählung von Natur und Gnade«. Wenn Scheeben aber die Gottebenbildlichkeit des Menschen beschreibt, sein »natürliches« Streben nach Gott, dann bewegt er sich in der Anthropologie formaliter noch im Bereich der »reinen Natur«. Das betont m. E. Hoffman zu Recht. Demgegenüber weist Paul darauf hin, dass die »Idee« und die »Bestimmung« zur Gnade, ähnlich der Prädestination Marias, schon die Realität der »Vermählung von Natur und Gnade« zur Grundlage haben. Das lässt sich in dieser Eindeutigkeit m. E. erst von den letzten Kapiteln von Scheebens Dogmatik her sagen, aber in »Natur und Gnade« klingt dies bereits deutlich an. Zur Erinnerung:

»Darin, daß in der Wirklichkeit nicht eine natürliche, sondern eine übernatürliche Ordnung besteht, liegt auch der Grund, warum wir in der Wirklichkeit gar nicht oder selten das natürliche Leben in seiner vollen Kraft, unabhängig vom übernatürlichen, auf die übernatürliche Offenbarung und Gnade gegründeten, erblicken (kursiv, H.G.).« (NG 57)

In der Idee Gottes ist es sicher so, dass er die »Natur« des Ebenbildes so geschaffen hat, dass sie der Gnade teilhaftig werden kann und soll. Und dies ist natürlich auch die Idee des Theologen Scheeben. Aber wenn er die zuinnerst auf Gott bezogene »Natur« beschreibt, beschreibt er formaliter etwas, das noch der Gnadenmitteilung bedarf, danach eine Offenheit hat, eine Sehnsucht, einen »Durst«. Er beschreibt aber zugleich etwas, das sich realiter schon im Raum der übernatürlichen Ordnung bewegt.

Den Gedanken einer »natürlichen Vollendung« schließt Scheeben hypothetisch zwar nicht aus, aber er hat keine systembildende Kraft bei ihm. Anders gesagt: Diese hypothetische »natürliche Vollendung« steht bereits gänzlich in der Offenheit des »ordo immediatus« hin zu Gott. Und umgriffen wird dies dadurch, dass das Übernatürliche nach der Intention Scheebens ja auch faktisch die Bestimmung des Menschen ist. Zum Tragen kommt damit jene Sicht, die mit unterschiedlicher Akzentuierung in der Zeit vor dem 2. Vatikanischen Konzil erneuert worden ist und durch dieses bestätigt wurde, dass es nämlich »in Wahrheit nur eine letzte Berufung des Menschen gibt, die göttliche«.315

Mehrfach umkreist Scheeben die innerste Bezogenheit des Menschen auf Gott im Erkennen und im Wollen, d.h. im Streben und in der Liebe. Dabei bezieht er sich immer wieder auf Augustinus.316 Dieser lehre:

»Wie alle Wahrheit und Güte in der Kreatur ihr durch Teilnahme an der Güte Gottes zukomme, so müsse auch alles Licht und alle ethische Kraft, woraus die aktuelle Erkenntnis und das aktuelle gute Wollen hervorgehe, als in Gott wurzelnd angesehen werden, also auch dort, wo das Licht und die Kraft der Kreatur vermöge ihrer von Gott verliehenen Wesenheit verliehen ist und insofern auch in der Kreatur wurzelt (kursiv H.G.); kraft dieses Verhältnisses aber müsse diese Wurzel (kursiv H.G.) nicht nur von Gott unterhalten, sondern könne auch nur unter dem bewegenden Einflusse Gottes entwickelt und betätigt werden …« (D III n 520)

Sowohl Hoffmann wie Paul weisen auf die zentrale Bedeutung des Teilhabe-Gedankens bei Scheeben hin.317 Scheeben vermittelt also geschöpfliche, in deren Natur wurzelnde und aus deren Natur als Wurzel hervorgehende Eigentätigkeit mit einem unmittelbaren Wirken Gottes. Er spricht vom »mitwirkenden Einfluss Gottes« (ebd.), weshalb

»die aktuelle Wahrheit und Güte ebenso wohl und noch mehr als durch ›Erleuchtung und Inspiration‹ (kursiv H.G.) von seiten Gottes vermittelt wie durch die Natur erzeugt zu denken sei.« (ebd.)

Scheeben spricht von Erleuchtung und Inspiration, an anderer Stelle auch von Offenbarung.318 Paul hebt besonders hervor, dass die Dynamik der mit dem Partizipationsdenken verbundenen Erleuchtung, wesentlich die Dynamik des Verständnisses von »Natur« bestimmt.319 Es geht ihm um ein inneres Bestimmt– und Getragenwerden durch Gottes Wirken, einen Selbstvollzug des menschlichen Geistes unter der Einwirkung von Gottes Präsenz und Licht.320 Scheeben will die Gottunmittelbarkeit schon in der »Natur« des menschlichen Geistes verankert wissen. So sagt Scheeben bezüglich der Erkenntnis Gottes, die Seele besitze

»in der ihr eigenen Vernünftigkeit nicht bloß die Fähigkeit und Bestimmung, irgendwie zur Erkenntnis Gottes … zu gelangen. Sie besitzt …. in unverlierbarer Weise als zur wesentlichen Natur ihrer Vernunft gehörig und dieselbe mitkonstituierend die lebendige Kraft, d.h. das Licht und das Streben, diese Erkenntnis durch sich selbst zu gewinnen, so zwar, daß diese Kraft bis zu einem gewissen Grade sich auch spontan entfaltet und in dieser Entfaltung behauptet und mithin eine gewisse Erkenntnis Gottes auch als habitus naturalis mit der Natur des Geistes gegeben ist …« (D III n 521)

Es gibt eine Art latent-habituelle Gotteserkenntnis, entsprechend ein spontanes Streben hin zu Gott, was auch Scheebens Verständnis der natürlich-vernünftigen Gotteserkenntnis bestimmt.321 Hier wie auch an anderer Stelle weist Scheeben besonders auf die Stellung des Gewissens hin.322 Ähnlich äußert sich Scheeben zu der mit dem »Wesen des Geistes« verbundenen Liebe Gottes. Es wurzelt darin

»als zur wesentlichen Natur des Willens gehörig und sie mitkonstituierend die lebendige Kraft und Tendenz oder eine innere Hinneigung zur Liebe und Wertschätzung des Schöpfers über alles, welche die Seele aktiv befähigt und antreibt, eine solche Liebe durch eigene Tätigkeit zu erzielen und zu unterhalten.« (D III n 522)323

Scheeben charakterisiert hier das »Wesen des Geistes« mit denselben Begriffen, mit denen er die Natur kennzeichnet: »Kraft und Tendenz«. Dass der Mensch »ad imaginem Dei, quo capax est eius et particeps esse potest« (D III n 339) ist, hat schließlich zur Folge, dass der menschliche Geist nur in Gott selbst Ruhe und Befriedigung finden kann. Scheeben spricht von der »unendlichen Fassungskraft«, dem »Durst nach dem Unendlichen«. Damit stellt Scheeben der Sache nach das desiderium naturale fest, ohne daraus eine Naturnotwendigkeit zu machen:324 Ein in in dieser Hinsicht ganz zentraler Text ist der folgende:

»Endlich gehört es mit zu der natürlichen Ähnlichkeit des Abbildes mit dem Urbilde, daß die Seele, ähnlich wie Gott, außer Gott resp. zwischen Gott und ihr weder ein anderes Endziel ihrer Seligkeit noch einen anderen Endzweck ihres ganzen Daseins, noch eine andere durch sich bindende Regel ihres Handelns haben kann; daß sie also, wie sie aus Gott allein und unmittelbar ihr Sein und ihr Leben hat, so auch in Gott allein und unmittelbar ihr Endziel, ihren Endzweck und ihre Regel hat, d.h., da kein Genuss als der Genuss Gottes die Seele sättigen, niemand außer Gott die Seele als sein Eigentum in Anspruch nehmen und kein Wille als der Wille Gottes ihren freien Willen binden kann. Diese Eigenschaft der geistigen Seele wird wiederum namentlich vom hl. Augustinus betont, in Bezug auf die Seligkeit als unendliche Fassungskraft oder Durst nach dem Unendlichen (kursiv H.G.), in Bezug auf die übrigen Momente als eine jede dazwischentretende Kreatur ausschließende Gottesnähe; von den Theologen des Mittelalters aber wird sie als ordo immediatus animae ad Deum bezeichnet.« (D III n 340)325

Es kann nach de Lubacs »Surnaturel« und der Diskussion darum nicht mehr zweifelhaft sein, dass die hier von Scheeben benannten Zeugen, die »Theologen des Mittelaltes«, den später entwickelten technischen Begriff der »natura pura« nicht kannten. Für die Väter arbeitet er das später selber heraus.326 Wenn das Ganze bei Scheeben aber doch formal unter »Natur« als Gegenbegriff zu Gnade angesiedelt ist, dann wird sein Bemühen offensichtlich, die innere Offenheit der »reinen Natur« für die Gnade so stark wie möglich zu betonen. Da, wie gleich gezeigt wird, der Gedanke einer rein »natürlichen« Vollendung für Scheeben nur theoretische Bedeutung hat, nicht in der tatsächlichen Ordnung der Dinge, ist spätestens hier die partielle Engführung eines letztlich nur bescheidenen Teils von »Natur und Gnade« vollständig ausgeglichen.327

Es überrascht dann nicht, dass die so gesehene Natur eine innere, positive Offenheit und Geneigtheit für die Gnade hat, wenn diese sie erreicht:

»Wenn die Natur des Ebenbildes Gottes, wie sie wesentlich zur Seligkeit, und zwar zur Seligkeit in Gott, geschaffen ist, so auch einen lebendigen Trieb nach dieser Seligkeit in sich trägt, dann muß sie sich auch bei dem Gedanken an die höchste Form dieser Seligkeit für dieselbe erwärmen können und nicht notwendig so kalt und gleichgültig ihr gegenüberstehen wie die Materie den Formen, die sie durch äußeren Einfluß erhalten kann. Noch mehr: es liegt in der Natur auch eine natürliche Notwendigkeit eines solchen Verlangens in dem Sinne, daß dasselbe spontan erwacht und als ein unwillkürlicher Affekt sich vordrängt, wenn die innere objektive Möglichkeit der Güter der Gnade erkannt wird, was freilich, wenigstens mit Sicherheit und Bestimmtheit, nur durch göttliche Offenbarung geschehen kann.« (D III n 932)328

Die Natur findet ihre Erfüllung durch die Gnade, für die sie eine »lebendige Empfänglichkeit« besitzt, ein natürliches Verlangen, welches »spontan erwacht«. (D III n 933) Der naturale »Durst nach dem Unendlichen« findet in der Gnade eine ihm gemäße Stillung. Es ist deshalb

»festzuhalten, daß diese Empfänglichkeit in Hinsicht auf die höchste Angemessenheit jenes übernatürlichen Gutes mit der Natur des Ebenbildes Gottes oder dessen Naturgemäßheit keine kalte Gleichgültigkeit ist, sondern der Gnade ein lebendiges Verlangen entgegenbringt, worin sie selbst als eine lebendige Empfänglichkeit erscheint und vermöge deren die Aufnahme der Gnade zu einem sehnsüchtigen Eintrinken oder Einsaugen eines den tiefsten Bedürfnissen der Natur entsprechenden himmlischen Balsams wird (kursiv, H.G.).« (D III n 933)

3.2.9 Natura instituta: Ein letztes Ziel des Menschen

Diese Perspektive der Gesamtnatur oder mit Augustinus der »natura instituta« bestimmt die Zuordnung von Natur und Gnade, von Natur und Übernatur.329 In der Dogmatik bilden Natur und Gnade, Natur und Übernatur ein wirkliches integriertes, quasiinformativ und per modum unius konstituiertes »organisches Ganzes«, eine »Gesamtnatur höherer Ordnung«. Natur und Übernatur sind von vornherein dazu bestimmt und berufen, dieses organische Ganze, eine »Gesamtnatur« zu bilden:

»Es gibt … in Wirklichkeit für das Streben der Kreatur kein doppeltes ewiges Leben, kein doppeltes Endziel, eins für die natürliche, eins für die übernatürliche Ordnung, sondern das erstere ist mit letzterem solidarisch verbunden resp. in demselben aufgehoben, d.h. nur mit ihm und ihm erstrebbar und erreichbar.« (D III n 983)

Es ist

»nach katholischer Anschauungsweise … die Natur von Gott nur darum geschaffen und verliehen, damit sie als Substrat und Organ des übernatürlichen Lebens diene und ein lebendiger Tempel des Heiligen Geistes werde. Sie ist … von Gott zu seinem speziellen Eigentum ausersehen und vorbehalten, geweiht und in Anspruch genommen, damit sie als Tempel seines eigenen Geistes in ihrem ganzen Sein und Leben von diesem so abhange, wie der Leib von der ihn informierenden Seele.« (D III n 990)

Dieser Zusammenhang von Natur und Gnade darf aber nicht bloß unter dem Aspekt einer bloßen Bestimmung füreinander durch ein (positivistisch dekretiertes) »Gesetz« angesehen werden, es muss

»die Einheit betrachtet (werden, H.G.), in welcher nach der Anschauung der gesamten patristischen Tradition Natur und Gnade in der Idee des Schöpfers und in der ersten Ausführung derselben bei Erschaffung der Engel und Menschen verbunden sind und wodurch auch jenes Gesetz tiefer begründet wird.« (D III n 992)

Nach dieser Anschauung sind nämlich Gnade und Glorie kein Ziel, zu dem die Natur von Gott

»hingeführt werden und wonach sie streben soll, sondern, ähnlich wie die menschliche Seele, von vornherein gedacht und verliehen als ein integraler Bestandteil eines geschöpflichen Seins, dessen wesentlichen Bestandteil die Natur bildet; und letztere hinwiederum ist von Gott in einer ähnlichen Beziehung zur Gnade gedacht und geschaffen wie der menschliche Körper in Beziehung auf die ihn informierende Seele, so daß beide, wie sie sich zu einem organischen Ganzen vereinigen können, so auch in der Idee des Schöpfers und der Ausführung seiner Schöpfertat wie Teile eines organischen Ganzen zusammengehören und aufeinander bezogen sind.« (ebd.)

Obwohl diesbezüglich die griechischen Väter in ihrer Auslegung das biblische Wort vom Bild und Gleichnis anders akzentuierten als Augustinus, sind sie in der Sache eins:

Es gibt also weder einen Zwischenzustand zwischen Gnade und Ungnade für die Natur noch einen unverschuldeten Nichtbesitz der Gnade. Es ist

»die Natur so mit der Gnade verflochten, daß sie ohne dieselbe auch nicht mehr ›wahre Natur‹, sondern bloß eine verkümmerte, mangelhafte, gestalt- und leblose Natur (kursiv, H.G.) ist, wie ein von der Seele, welcher er angehörte, getrennter Leib.« (D III n 994)

Die zwar von Scheeben auch thematisierte Frage nach einer hypothetischen natürlichen Vollendung ist zu relativieren.330 Die durch Christus wiederhergestellte Ordnung ist nicht die natürliche. In Wirklichkeit verhält es sich so:

»Von Anfang an hat Gott der der vernünftigen Kreatur ein übernatürliches Ziel vorgesteckt und sie vermöge einer höheren ihr verliehenen Würde in ein übernatürliches Verhältnis zu sich selbst gestellt und so eine total übernatürliche Ordnung gegründet …« (D III n 590)331

3.2.10 Informationsanaloge Zeugung – Gesamtnatur höherer Ordnung

Es geht Scheeben also immer um die »Gesamtidee« der einen natürlich-übernatürlichen Ordnung. Die Darstellung dieser »Gesamtnatur« mit den Mitteln des Form-Materie- und des Seele-Leib-Modells rekapituliert die gesamte, in der Anthropologie als Lehre vom Ebenbild Gottes gipfelnde Schöpfungslehre, und sie greift vor auf die Christologie.332 Die Konstitution der »Gesamtnatur übernatürlicher Ordnung« wird als Information dargestellt und diese dann als analoge Zeugung erklärt, womit der trinitarische und christologische Zusammenhang beider Begriffe aufscheint.333 Es parallelisiert die Mitteilung der Gnade mit der »schöpferischen Gestaltung und Belebung (formatio) des aus nichts geschaffenen Stoffes zur Herstellung des irdischen Kosmos, kurz mit der creatio secunda.« (D III n 887)

Und er schlägt von dort den Bogen zum »höchsten Produkte der zweiten Schöpfung in der natürlichen Welt, in der schöpferischen Gestaltung und Belebung des Menschen durch eine geistige Seele …« (D III n 888)

Darauf machen die Väter aufmerksam, wenn sie

»in denselben Ausdrücken, womit die Heilige Schrift die schöpferische Bildung und Belebung des natürlichen Menschen darstellt, die Bildung und Belebung des übernatürlichen Menschen finden.« (ebd.)

Von daher seien Ausdrücke der Schrift bzw. der Väter wie regeneratio oder ἀναγέννησις zu verstehen. Zwar habe das »re« bzw. das »ἄνα« konkret die Bedeutung einer Wiederherstellung. Das »ἄνα« (›hinauf‹) zeige die die Geburt aus dem Geiste als »μεταμόρφωσις«, als »eine translatio oder elevatio in formam alteram meliorem et altiorem«. Dabei verstünden die griechischen Väter die »ἀυαμόρφωσις speziell als eine Hinaufführung der Kreatur zur Ähnlichkeit mit dem Sohne Gottes (kursiv, H.G.) oder translatio in formam divinam«, eine »Zurückführung der Kreatur zur volleren Ähnlichkeit mit Gott, von dem sie ausgegangen …, oder zur vollen Übereinstimmung mit ihrer Idee in Gott.« Daß die Schrift und die Väter »das ἄνα (resp. μετά) nur mit generatio und formatio (kursiv, H.G.) gebrauchten«, weise darauf hin:

»die Erhabenheit des zweiten höheren Seins beruhe eben darauf, dass die Kreatur durch eine Art von Zeugung aus Gott (kursiv, H.G.) und Hineinbildung Gottes in sie zu seinem Gleichnisse hinaufgebildet (kursiv, H.G.) wird.« (D III n 892)

Damit hat Scheeben einen Bogen geschlagen vom schaffend-gestaltenden Wirken Gottes über die Erschaffung des Menschen bis zur Gestaltung per exc. der Zeugung des Sohnes. Die der ewigen Zeugung nachgebildete übernatürliche Zeugung aus Gnade ist formatio. Damit wird zum einen die Verknüpfung von Zeugung und formatio unterstrichen. Zugleich stellt sich wie schon angemerkt der Bezug her zur Christologie: Christus ist konstituiert durch formationsanaloge Weiterführung der ewigen Zeugung.334

Die übernatürliche Erhebung des Menschen ist Schöpfung, Neuschöpfung oder zweite Schöpfung. Sie ist »eine Verklärung des Bildes zum Gleichnisse Gottes« (D III n 896). Bereits die geistige Kreatur ist »an sich schon wahres Bild Gottes … aber noch erst ein fremdartiges, mangelhaftes, schattenartiges …«

»Durch die Gnade aber enthält dieses Bild eine spez. Ähnlichkeit mit seinem göttlichen Urbilde, wird eine imago deiformis oder ein Gleichbild, und so ein vollkommen gestaltetes, erleuchtetes und lebendiges Bild Gottes.« (ebd.)

Für das Bild Gottes ist die Gnade »eine Ergänzung und Vollendung der geistigen Natur gerade in der Richtung, in welcher die vom Schöpfer intendierte spezifische Vollkommenheit der geistigen Kreatur (kursiv, H.G.) oder die Verwirklichung der Idee ihres Schöpfers zu suchen ist.« (ebd.)

Scheeben rekurriert auf den Begriff »Übernatur«, und weil die Übernatur Erhebung der Natur qua Natur, als Wurzel ist, deshalb

»verschmelzen und verwachsen die beiden Prinzipien, die Natur und die Übernatur, organisch miteinander zu einem Ganzen, so dass sie zusammen in ähnlicher Weise eine Gesamtnatur höherer Ordnung bilden wie Leib und Seele, Pflanze und Edelreis, nämlich die Natur der Kinder Gottes resp. der vergöttlichten Kreatur, eine vollkommen gottebenbildliche Natur oder die ideale Natur des Ebenbildes Gottes.« (D III n 900)

3.2.11 In der tatsächlichen Ordnung ist alles wahrhaft sittliche Handeln übernatürlich bestimmt und getragen

In der Zuordnung von Natur und Gnade geht Scheeben schließlich auf förmlich den letzten von ihm selbst geschriebenen Seiten des letzten Bandes der Dogmatik Scheeben noch einen Schritt weiter, indem er von der übernatürlichen Finalisierung der tatsächlichen Ordnung zu deren faktischer Prägung durch die Gnade voranschreitet. Er greift damit einen Faden bereits aus seinem Erstling »Natur und Gnade« auf. Er verifiziert die Annahme von der grundsätzlichen und allgemeinen Notwendigkeit von Liebe, Glaube und Gnade zum sittlichen Handeln.335 Die Fragen nach der Notwendigkeit der Liebe, des Glaubens und schließlich der Gnade »zu allen nicht sündhaften Handlungen« werden so beantwortet, dass der gesamte Erstreckungsraum von Liebe und Glaube und zugleich die religiöse Tiefe von Natur freigelegt und als von Gottes Gnadenhandeln bereits erfasster Raum dargestellt werden. Das gesamte Streben der Menschen nach Gott, ja, das gesamte sittliche Handeln des Menschen, kann dem Begriff der caritas oder dem der fides subsumiert werden. Glaube und Liebe müssen tragende und bestimmende Form alles sittlichen Handelns sein, damit es wahrhaft sittliches Handeln ist. Dies führt zur Frage, ob und wie alles wahrhaft sittliche Handeln tatsächlich übernatürlich bestimmt und getragen ist bzw. sein muss.336

Um hier die offensichtliche Spannung zwischen den Vätern und den Scholastikern337 ausgleichen zu können, müsse man sehen,

»daß die Väter praktisch und polemisch von einem andern Gesichtspunkte ausgingen als die Scholastiker und infolgedessen die von letzteren auf Grund wissenschaftlicher Reflexion in den Vordergrund gestellte Unterscheidung zwischen natürlich guten und übernatürlich guten Handlungen, ohne dieselbe im Prinzip zu leugnen, gänzlich oder fast gänzlich als tatsächlich nicht in Betracht kommend ignorierten.« (D VI n 580)

Die Väter hätten sich »ganz auf den Standpunkt der gegenwärtig bestehenden übernatürlichen Lebensordnung« gestellt (D VI n 581), und »von dieser Voraussetzung aus deckt sich bei den Vätern der Begriff des sittlich Guten überhaupt mit demjenigen Guten, welches sein Endziel in der Anschauung Gottes und seine Regel in dem auf diese gerichteten Gesetze Gottes hat« (D VI n 582).

»All dies geschah um so leichter, weil die Hl. Schrift selbst nicht zwei wesentlich verschiedene Arten des Gottsuchens kennt …« (D VI n 583)338

Hier liegt ein offensichtlicher Unterschied zwischen den Vätern und den Scholastikern, den Scheeben wie folgt skizziert:

»Während die Väter die ganze sittliche Lebensordnung konkret vom Standpunkte der tatsächlichen übernatürlichen Bestimmung des Menschen betrachteten und darum die Übernatürlichkeit dieser Bestimmung und die Denkbarkeit einer der Würde und den Kräften der Natur entsprechenden natürlichen Bestimmung, mithin auch ein den natürlichen Kräften entsprechendes sittliches Leben nicht ins Auge fassten, legten die Scholastiker gerade auf diesen Gesichtspunkt den Nachdruck und unterschieden überall, im Urstande wie im Stande der gefallenen Natur, ein doppeltes sittliches Leben, aber beides auf Grund göttlicher Hilfe, als möglich und wirklich.« (D VI n 590)

Scheebens Resümee in dieser Sache, in doppeltem Sinn sein letztes Wort zum Thema »Natur und Gnade«, entspricht seinem eigenen Entwicklungsgang. Es liege, so Scheeben, in der Tat in der bei den Vätern gegebenen »Abstraktion von der natürlichen Sittlichkeit eine wirkliche Einseitigkeit und Unklarheit.« (D VI n 591)

»Um nun diese Einseitigkeit und Unklarheit auszugleichen, ist es keineswegs nötig, wie es in der Regel von den Scholastikern geschieht, die natürliche Sittlichkeit neben und unter der übernatürlichen so auftreten zu lassen, daß sie tatsächlich noch in mannigfachen Akten verwirklicht werde, welche sittlich ganz tadellos seien, aber zugleich in keiner Weise übernatürlichen Gehalt und Wert hätten. Im Gegenteil, wenn die Abstraktion der Väter von der Möglichkeit natürlicher Sittlichkeit eine theoretische Einseitigkeit ist, dann kann man auch sagen, die Abstraktion der Scholastiker, wodurch sie den gegenwärtigen Menschen ohne alle Rücksicht auf die übernatürliche Ordnung wahrhaft sittlich handeln lassen, sei eine praktische und psychologische Einseitigkeit.« (D VI n 592)

Und Scheeben zieht diese Konsequenz:

»Denn alles wahrhaft sittliche Handeln wird nicht einfach durch Achtung vor dem Diktamen der Vernunft, sondern durch Ehrfurcht vor der durch das Gewissen vorgestellten lex aeterna und dem im Gewissen an uns ergehenden Rufe Gottes geleitet; die lex aeterna aber, wie auch der Ruf Gottes, zielt niemals abstrakt auf die natürliche, sondern konkret auf die übernatürliche Ordnung der Dinge …« (ebd.)339

Wenn man also Scheebens Sicht des Verhältnisses von Natur und Gnade beurteilt, müssen diese sich auf den Boden der tatsächlichen Ordnung stellenden Aussagen Scheebens das Kriterium sein:

»Es gibt … in Wirklichkeit (kursiv, H.G.) für das Streben der Kreatur kein doppeltes ewiges Leben, kein doppeltes Endziel, eins für die natürliche, eins für die übernatürliche Ordnung, sondern das erstere ist mit letzterem solidarisch verbunden resp. in demselben aufgehoben, d.h. nur mit ihm und ihm erstrebbar und erreichbar.« (D III n 983)

Und dazu gehört,

»wer also schlechthin und aufrichtig der lex aeterna und dem Rufe Gottes folgen will, der strebt stets an der Hand Gottes über die natürliche Ordnung hinaus, wenn ihm auch explicite nur der Inhalt der Forderungen des Naturgesetzes vorschwebt.« (D VI n 592)

Scheebens Verständnis von »Natur« wird also immer komplexer. Dies ist aber kein wirklicher Bruch mit »Natur und Gnade«, denn bereits dort sind die Linien zu dieser komplexen Sicht vorgezeichnet. Scheeben spricht in der Dogmatik von der »Natur an sich«, aber, wie schon in »Natur und Gnade«, sieht er diese »Natur an sich« dazu bestimmt, übernatürlich erhoben zu werden. Sie erreicht sonst auch ihr Ziel als Natur nicht. Deshalb macht Scheeben in der Dogmatik an der Natur alles das stark, was ihre innere Offenheit auf die Übernatur bzw. die Gesamtnatur höherer Ordnung herausstellt: den »ordo immediatus animae ad Deum«, die »unendliche Fassungskraft«. Genau deshalb wählt er die Gottebenbildlichkeit als Mitte seiner Anthropologie. Die historische Natur behält ihre Qualität als Natur, sie kommmt jedoch aus einer Verlustgeschichte, der erbsündigen nämlich. Mit dem Verlust der Gnade aber wird »der ganze Mensch in allen seinen Teilen, also nach Geist und Leib, verschlechtert«, wie Scheeben mit dem Tridentinum feststellt. (D IV n 216)340 Deshalb ist auch die Natur qua Natur postlapsarisch zugleich »eine verkümmerte, mangelhafte, gestalt- und leblose Natur« (D III n 994). Das bedeutet, ungeachtet des Prinzips »naturalia manent integra«, eine Verwundung der Natur selbst. Auch die »naturalia« sind »vulnerata, weil sie aus der Energie und Harmonie herausgetreten sind, in welche sie ursprünglich versetzt waren.« (D IV n 228)341 Da die Natur aber, wie Scheeben behutsam am Anfang seines Werks, in »Natur und Gnade« (1861), nachdrücklich am Ende, im letzten Band der nicht abgeschlossenen Dogmatik (1887) feststellt, sich bereits im Raum des wirksamen Gnadenrufs Gottes bewegt, ist auch die historische Natur schon auf dem Weg zu ihrer wahren Bestimmung. Allerdings thematisiert Scheeben die Verwundung der Natur nicht oder nur sehr indirekt, wenn er von der Vermählung von Natur und Gnade handelt.

3.2.12 Die Natur Gottes – Grund allen Lebens

Scheeben fasst also das Verhältnis von Natur und Gnade immer enger. Die Natur ist von ihrer Konstitution dazu bestimmt, zur Übernatur zu werden, zur »Gesamtnatur höherer Ordnung«. Konstituiert wird die Übernatur oder »Gesamtnatur höherer Ordnung« durch eine informationsanaloge Erhebung und Verklärung der Natur, durch eine »Zeugung«, und durch die »Vermählung von Natur und Gnade«. Natur und Übernatur sind Ganzheitsbegriffe, sie umfassen ein lebendiges, »organisches Ganzes«. Ebenso ist die »Gesamtnatur höherer Ordnung« ein »Ganzes«, bei welchem die Prinzipien »verschmelzen und verwachsen« wie »Leib und Seele« und so eine »vollkommen gottebenbildliche Natur« ausbilden. Scheebens Naturverständnis bestimmt seine Ganzheitssicht von Grund auf. Natur ist kein bloßer Bauplan, keine bloße Struktur, vielmehr ein immanenter Lebensvollzug, als »Wurzel« und als »Kraft und Tendenz« oder als entfaltetes Ganzes. Urbild ist das Leben Gottes, dessen Selbstvollzug in völliger Aktualität. Alles Leben ist »eine Teilnahme und Nachbildung oder ein Ausfluss des göttlichen Lebens« Das Leben Gottes ist »das Leben alles Lebens … und seine Lebenskraft in ihrer alles belebenden Fruchtbarkeit der Odem alles Lebens. Sein Leben ist folglich das Urleben und Alleben … das erste und absolute Prinzip aller Formen und Stufen des Lebens außer ihm.« (D II n 386)342 Deshalb wird Gottes Natur und Leben am treffendsten durch den Namen »Geist« gekennzeichnet. Er ist

»in der überschwänglichen Fülle des göttlichen Lebens … (darin, H.G.), daß Gott im positiven Sinne des Wortes der absolute Geist, d.h. das Leben selbst ist.« (D II n 930)343

Hier liegt eine leichte Akzentverschiebung gegenüber »Natur und Gnade«. Wird dort bei »Geist« an erster Stelle die Immaterialität betont, so hier die Fülle des Lebens, das »Urleben und Alleben«.344 Auf die Bedeutung von »Leben« ist immer wieder hingewiesen worden.345 Im Verständnis von Geist und Leben liegt vielleicht eine organisierende Mitte von Scheebens Theologie, zumal der mit der Fruchtbarkeit des göttlichen Lebens verbundenen Vermählungstheologie.

3.3 Das Ganze

3.3.1 Wissenschaft und Ästhetik – Begriff und Gestalt

Scheeben denkt »immer vom Ganzen her und zum Ganzen hin« (N. Hoffmann)346. »Dieses Ganze ist schon als Grundintention von Anfang an gegenwärtig.« (E-Paul)347 Schon sein dynamisches Verständnis von Natur als »Wurzel«, als »Kraft und Tendenz« zur Ausbildung eines Lebensganzen zeigt das. Scheeben scheint hier dem Organismus-Gedanken der Romantik verpflichtet, ihm zumal über die Tübinger vermittelt.348 Aber dies entspricht vor allem auch Scheebens eigenen wissenschaftlichen und ästhetischen Interessen.349 An vielen Stellen wird die Konsistenz des von Gott Geschaffenen als »organisches Ganzes« sowie dessen Schönheit herausgestellt. Die »Mysterien« geben Aufschlüsse »über eine höhere, unsichtbare Welt« (M² 2), es handelt sich »um die Morgenröte einer höheren, schöneren, übernatürlichen Welt« (M² 5), ein »Gesamtbild« (M² 6) ist zu geben, ein »wohlgeordnetes System«:

»Wir vertrauen, die Geheimnisse des Christentums in ein selbständiges, wohlgeordnetes System bringen zu können, worin sie als ein großer mystischer Kosmos erscheinen, der über dem Kosmos der für das sinnliche Auge sichtbaren Natur … aus den Tiefen der Gottheit sich aufbaut.« (M² 16 f.)

Das lässt sich als natürlich-übernatürliches Stockwerkdenken lesen, aber vom Ganzen von Scheebens Theologie geht es, wie bei der Übernatur, um die gestaltende Kraft dieses »mystischen Kosmos« hinein in die Schöpfung.

3.3.2 Organisches Ganzes

Scheeben versteht das Ganze immer als »organisches Ganzes«. Wenn Scheeben in seinem beeindruckenden Durchgang durch die Theologiegeschichte am Ende des ersten Bandes der Dogmatik die Methode des hl. Thomas von Aquin von der des Duns Scotus, wie er ihn versteht, unterscheidet, dann charakterisiert er auch seine eigene Art, Theologie zu verstehen und zu betreiben:

»Die Differenz zwischen Thomas und Scotus lässt sich im allgemeinen darin zusammenfassen, dass die Auffassung des Thomas eine streng organische ist, d.h. bei aller Feinheit der Distinktion doch die unterschiedenen Momente nicht auseinanderreißt, sondern sie in ihrer natürlichen lebendigen Verbindung lässt, während Scotus mit dem Seziermesser seiner Distinktionen ihre organisch Verbindung lockert, ohne jedoch, wie die Nominalisten, die Verbindung und damit das Leben in den gelösten Teilen zu zerstören. Mit anderen Worten: für Thomas ist die Welt ein vollkommener animalischer Organismus, worin alle Teile aufs engste durch die Seele zusammengehalten und in Wechselbeziehung gesetzt werden; für Scotus ein Organismus nach Art der Pflanze, wie er selbst sich ausdrückt, worin die Teile, von der Wurzel sich abzweigend, auseinandergehen …« (D I n 1062)

Es ist ganz offensichtlich, dass Scheeben hier mit Thomas vor allem auch von seiner eigenen Methode spricht.350

3.3.3 Wechselseitige organische Einheit konstitutiver Prinzipien eines Ganzen

Das Modell des »organischen Ganzen« bestimmt auch die theologische Methode. Wenn Scheeben das Ganze der Gottesbeweise als ein »organisches Ganzes« versteht, in welchem sich die einzelnen Beweise »organisch« zu »Einem Gesamtbeweise« zusammenfügen, zeigt sich zudem die für Scheeben typische Verknüpfung von Methode und Ästhetik. Die einzelnen Beweise

»ergänzen und verketten … sich untereinander zu einem Strahlenkranze, der uns von allen Seiten zu Gott führt und die Gewißheit seines Daseins mit jeder anderen Gewißheit verflicht, mithin zu Einem Gesamtbeweise (kursiv, H.G.), welchem die einzelnen als Glieder organisch (kursiv, H.G.) sich einordnen.« (D II n 32)

Prinzipien oder Aspekte, die unterschieden werden und sogar voneinander getrennt werden könnten, wirken »harmonisch« und eben »organisch« zusammen, als ein Ganzes und zur Konstitution eines Ganzen, sie durchdringen sich. In Genese und Vollendung wirken die konstituierenden Faktoren zusammen in »wechselseitiger Priorität« und das Resultat kommt »per modum unius« zustande.351 Im folgenden Beleg wird die Leib-Seele-Analogie ebenso deutlich wie das Verhältnis wechselseitiger Voraussetzung, Abhängigkeit und Durchdringung der Prinzipien. Ungeschaffene und geschaffene Gnade verhalten sich so,

»daß sie ähnlich wie in der gratia creata selbst die caritas und die gratia im engeren Sinn ein organisches und solidarisches Ganzes bilden. Denn nicht nur ist das Höhere als die belebende und ergänzende Form der Niederen zu betrachten; beide setzen sich auch wechselseitig voraus und sind unfehlbar und untrennbar so verbunden, daß naturgemäß der Besitz des einen den des anderen einschließt oder nach sich zieht.« (D III n 881)

Das am meisten charakteristische Beispiel ist die Verbindung von Natur und Gnade, die »Vermählung von Natur und Gnade«. Diese »Vermählung von Natur und Gnade«, von Scheeben immer wieder aufgenommen und neu beleuchtet, wird in dieser Arbeit eingehend behandelt werden.

Auch die Christozentrik denkt Scheeben analog. Christus ist das Zentrum, auf das hin als das primum in intentione alles geschaffen und disponiert wird. Wenn es als ultimum in executione Wirklichkeit geworden ist, hängt dann alles von ihm ab. Es handelt sich um

»ein organisches Gemeinschafts- und Abhängigkeitsverhältnis … in ähnlicher Weise, wie im menschlichen Embryo das bereits vor der Bildung des Herzens resp. des Hauptes vorhandene Leben nach dieser Bildung vom Herzen und dem Haupte abhängig wird, oder wie das bei der Erschaffung des Kosmos vor der Sonne vorhandene kosmische Licht nach erfolgter Bildung der Sonne an diese geknüpft ist, oder wie endlich bei einem Kreuzgewölbe der zuletzt eingefügte krönende Schlußstein demselben nicht minder Halt verleiht als das Fundament einer Mauer.« (D V n 1372)

Scheeben, zu dessen Lebenszeit und unmittelbar vor seinen Augen in Köln der Dom vollendet wurde (Abschluss 1880) – der Dom ist vom damaligen Priesterseminar (heutigen Generalvikariat) und der damals dazugehörenden, also besonders auch Scheebens Kirche St. Mariä Himmelfahrt in der Marzellenstrasse nur wenige Meter entfernt352 – beschreibt hier ganz exakt sein aufs »organische Ganze« gerichtetes Denken, seine »Architektonik«.353 Scheeben sieht dabei in allen einzelnen Schritten auf das Ganze, hat es buchstäblich vor Augen. Das Ineinander der Gestaltungsprinzipien wird dabei oft, so auch in diesem Text, gedacht nach dem alten epigenetischen Muster von Belebung des Leibes, der seiner Beseelung entgegen wächst, und Mitteilung der Geistseele, die die Vollendung des leib-seelischen Ganzen herbeiführt.

3.3.4 Schönheit und Herrlichkeit des Ganzen

Mit der Schau des Ganzen, etwa beim Werden des Doms, verbindet sich die Ästhetik, zentral in Scheebens Werk. Immer wieder begegnen Ausführungen zur Schönheit und Herrlichkeit der Werke Gottes, im Bereich der Natur wie der Gnade, Herrlichkeit, der die Verherrlichung Gottes koextensiv ist. In der Gotteslehre steht ein eigener Paragraph über »Die absolute Schönheit – Gott als die Schönheit selbst.« (D II § 84) Hans Urs von Balthasar würdigt Scheeben als Begründer theologischer Ästhetik. Er stellt zunächst dessen Abkehr von der »idealistisch-ästhetischen Theologie« zu einer »streng positiven, wissenschaftlichen Theologie« fest, um fortzufahren:

»aber die ästhetischen Neigungen Scheebens waren so stark und durchdringend, dass er die Wissenschaft formal wie inhaltlich abermals ganz ästhetisch durchformte und so an die Stelle der ›ästhetischen Theologie‹ der Romantik für unsere Zeit die theologische Ästhetik‹ umriss und methodisch begründete.«354

Schon die Schöpfung ist Mitteilung der Herrlichkeit Gottes und dessen Verherrlichung, Erkenntnis Gottes und dessen Liebe (D III n 84). Es ist so,

»daß die geschaffenen Wesen eben als geschaffene ihren letzten und höchsten Zweck nicht in sich, sondern in Gott haben und zwar in der Weise, dass ihre Beziehung auf Gott formell in der Verherrlichung Gottes verwirklicht wird.« (D III n 84)

Anknüpfend an oben Gesagtes:

»Der Nutzen der Kreatur und die Ehre Gottes gehen Hand in Hand. Der Nutzen der Kreatur ist desto größer, je mehr Gott sich ihr mitteilt; je mehr sich aber Gott mitteilt, desto mehr offenbart er sich selbst, desto mehr verherrlicht er sich.« (M² 109)

Zur Verherrlichung Gottes bestimmt stellen sie auch die Herrlichkeit Gottes dar. Ihre Beziehung zu Gott besteht darin, durch das Gute, das sie selbst sind,

»ein Abbild der wesenhaften Vollkommenheit und Schönheit Gottes (zu sein und so, H.G.) die Gott eigene Güte und Schönheit als ihr Ideal in sich darzustellen und zu reflektieren.« (D III n 85)

Deshalb ist es so, dass

»sie für Gott als ihrem höchsten und absoluten Herrn und Gebieter da sind, dem sie mit allem Guten, was sie sind und was sie haben noch mehr angehören und von dem sie noch mehr abhängig sind als der Teil vom Ganzen oder der Körper von der Seele …« (ebd.)

Alle Wesen streben auf ihre Art nach der Einheit mit Gott. Es ist

»Gott dasjenige Gut … nach dessen Besitze, Teilnahme und Gemeinschaft alle Wesen so streben und in dem sie in ihrer Weise ihre Ruhe finden, daß nicht so sehr er mit ihnen als sie mit ihm vereinigt werden und sie folglich ihn tatsächlich als das alles an sich ziehende und um sich vereinigende Gut, mithin als das eigentliche Zentrum aller Wesen anerkennen.« (ebd.)

Die Verwirklichung geschöpflicher Hinordnung auf Gott ist als

»Verherrlichung Gottes anzusehen, d.h. als äußere Darstellung, Betätigung oder Anerkennung seiner inneren Herrlichkeit …« (D III n 86)

Es besteht eine durchgängige, enge Entsprechung von reflektierendem und schauend-ästhetischen Ganzheitsbewusstsein. Charakteristisch in diesem Sinn ist der Zwischentitel in der Schöpfungslehre:

»Die Welt im Verhältnis zu den göttlichen Ideen und zu Gott als ihrem Ideal: die demselben entsprechende allgemeine Beschaffenheit, Mannigfaltigkeit und Abstufung der einzelnen Weltwesen sowie die Ordnung und Einheit, Vollkommenheit und Schönheit des Weltganzen (kursiv, H.G.).« (In D III Überschrift C zum Thema Erschaffung der Welt, vor § 134)

Die einzelnen Wesen der Welt sind

»zu einem großen Ganzen so verbunden und zusammengeordnet, daß sie eben durch ihre Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit die organische Gliederung dieses Ganzen bedingen.« (D III n 127)

Sie sind vom Schöpfer dazu bestimmt, ein

»Ausdruck einer Gesamtidee (kursiv, H.G.) desselben (zu sein, H.G.) … ein harmonisches Gesamtbild ihres göttlichen Ideals (kursiv, H.G.) darzustellen.« (ebd.)

Scheeben betont die Analogie zum »menschlichen Organismus« (D III n 128), führt Platos Gedanken einer »Weltseele« an (ebd.) und verweist auf die Väter, für die

»die Welt als Ganzes mit einer Rede oder einem Hymnus zu Ehren Gottes« (ebd.)

zu vergleichen sei, ein Motiv, das Scheeben auch in der Christologie und in der Pneumatologie aufgreift.355 An eigene ästhetiktheoretische Überlegungen knüpft Scheeben an, wenn er über die die Welt durchwaltende »Harmonie als Abdruck der Gesamtidee der Welt in Gott« (kursiv, H.G.) nachdenkt:

»Denn nur so haben die mathematischen Proportionalen, woraus Gott nach dem Timäus die Weltseele bildete und die eigentlich musikalischen Gesetze ausdrücken, sowie die Ausspannung der Weltseele in Kreuzesform (X), welche auf das Gesetz der durch Kreuzung auf- und absteigenden Proportionalen entstehenden Tonreihen sowie auf die schiefe Stellung der Ekliptik zum Äquator hinweist, einen wirklichen Sinn.« (ebd.)

Auf den Spuren des Kölner Juristen, Zentrumsabgeordneten und Privatgelehrten Albert von Thimus (1806–1878) schrieb Scheeben einen umfangreichen Artikel zum Thema kosmisch-universaler Harmonie, und er plante eine größere Publikation dazu.356 Es geht immer um das Ganze als Ganzes und um dessen Gestalt in Schönheit und Vollkommenheit, als Ganzes Ausdruck der »Gesamtidee Gottes.« (D III n 129)

Die Trinität Gottes entspricht im höchsten Maße dem ästhetischen Grundprinzip von »Einheit in Mannigfaltigkeit« und zeigt eine vollkommene »Ähnlichkeit des Bildes mit dem Urbilde«:

»in der Tat gib es keine größere und erhabenere Einheit in der Mannigfaltigkeit als die wesentliche Identität der drei verschiedenen Personen; keine vollkommenere Entfaltung der Kraft und des Reichtums der innern Vollkommenheit und des Lebens als in der trinitarischen Fruchtbarkeit Gottes … endlich keine vollkommenere Ähnlichkeit des Abbildes mit dem Urbilde als die Ähnlichkeit und Gleichheit des Sohnes mit dem ewigen Vater.« (D II n 337)

Von hier nimmt die eine Hauptlinie der Vermählungstheologie ihren Ausgang, die Linie von Zeugung und informationsförmiger Bildung und Gestaltung, mit Christus als Zentrum. Hier konvergieren alle christologischen Namen und Bilder, und alle geschöpfliche Gestaltung, vom organischen Ganzen des Makrokosmos bis zum organischen Ganzen des menschlichen Mikrokosmos.

Licht und Lichtsymbolik stehen für diese Theologie der Schönheit, Herrlichkeit und Verherrlichung. In den »Herrlichkeiten« heißt es im Kapitel »Das Licht als ein Symbol der Gnade« (3. Buch, 1. Hauptstück):

»Die göttliche Natur ist das reinste Licht. Wenn wir also durch die Gnade ihrer teilhaft werden, dann muss auch diese ein Licht sein, ein Licht, das aus dem Innersten Gottes ausströmend, unsere Seele erleuchtet, verklärt und von Klarheit zu Klarheit in das Bild Gottes umgestaltet.« (kursiv, H.G.) (H 133)

Passend heißt es dazu in der Dogmatik, es sei

»das Licht in der anorganischen Welt das vollkommenste Bild der Schönheit Gottes.« (D II n 336)

Dies findet pneumatologisch seine Fortsetzung in der Verbindung von griechischer und lateinischer Pneumatologie bzw. der zugrunde liegenden Fassung von Heiligkeit.357 Erst durch die Verbindung von Güte und Schönheit erklärt sich,

»warum die griechischen Väter oft die Heiligkeit nicht so sehr als eine erwärmende oder erquickende und beseligende, sondern als eine verklärende, herrlichmachende Glut und darum ähnlich wie die Wahrheit, als ein den Geist erfüllendes Licht auffassen.« (D II n 659)

Ein Beispiel der ästhetischen Ganzheitssicht Scheebens ist auch der Hinweis, die Heilige Schrift sei,

»auch darin dem Buche der Natur ähnlich, aber in weit höherem Sinne und Grade, ein objektiv vor die Augen des Menschen gestelltes Kunstwerk, ein Gemälde und ein Drama der göttlichen Weisheit, welches uns nach der Intention des Heiligen Geistes durch seine Betrachtung zu den mannigfachsten Erkenntnissen anregen und die geistliche, übernatürliche Welt in der mannigfaltigsten Weise in Bilde veranschaulichen soll.« (D I n 240)

3.3.5 Gesamtidee – Gesamthandlung – Gesamtbegriff – Gesamtbild

Die Verbindung von Gegebenheiten und/oder Konstitutionsprinzipien, die formal unterschieden ein »organisches Ganzes« sind oder zu einem »organischen Ganzen« werden, wird von Scheeben gern mit dem Attribut »Gesamt« oder »Voll«, auch »Total« gekennzeichnet. Es verbinden sich dabei die zusammenkommenden Gegebenheiten und die konstituierenden Prinzipen »organisch«, also in »wechselseitiger Priorität«, bilden dann, »per modum unius«, das »organische Ganze«. Natur und Gnade bzw. Natur und Übernatur bilden die »Gesamtnatur höherer Ordnung«. Ihr zugrunde liegt die »Gesamtidee der übernatürlichen Ordnung«. Die Vielzahl der Gottesbeweise verbindet sich »organisch« zu einem »Gesamtbeweis«.358 In der Kontroverse mit Granderath spricht, Scheeben vom »Vollbegriff« der Adoptivkindschaft, worin gratia creata und increata, also zwei Prinzipien zu einem »Totalprinzip« dem »Vollbegriff der Kindschaft Gottes«359 verbunden werden, konstituiert durch eine »Gesamthandlung« oder »Gesamtaktion«. Man kann zwar zunächst sagen,

»dass die Adoptivvaterschaft, inwiefern sie formell auf eine nach außen gerichtete göttliche Aktion gegründet ist und Gott als dem Prinzip dieser Aktion zukommt, der ganzen Trinität ebenso gemeinschaftlich ist wie diese Aktion selbst …« (Kontoverse 266)

Konkret betrachtet ist aber die »Proprietät der Person des Vaters« in Betracht zu ziehen,

»als in der Selbstmitteilung Gottes an uns zunächst die Person des Heiligen Geistes resp. des Sohnes als Terminus der Vermählung Gottes mit uns mitgeteilt wird und wir folglich eben vermittelst der Gemeinschaft mit diesen Personen auch in eine spezielle Gemeinschaft mit der Person des Vaters treten …« (ebd.)

Man kann man dann

»die mitteilende Aktion des Vaters mit der ewigen Aktion, wodurch er das Mitgeteilte aus sich hervorgehen lässt, zu einer Gesamtaktion (kursiv, H.G.) zusammenfassen. Alsdann erscheint jene an sich gemeinschaftliche Aktion in einer Gestalt, worin sie eine nur der ersten Person als Vater entsprechende Kindschaft bewirkt und in Hinsicht auf diese Kindschaft auch eine dem Vater allein eigentümliche zeugende Aktion darstellt …« (Kontroverse 267)

Ähnlich in der Christologie, wo

»in der Inkarnation des Logos, resp. in der Produktion Christi, die actio productiva humanitatis und actio unitiva zu einer göttlichen Gesamthandlung (kursiv, H.G.) sich verbinden.« (D V n 553)

Die ganze actio productiva humanitatis ist, da modo creativo vollzogen, ein unmittelbares Werk Gottes. Weil also

»die Produktion der ganzen Menschheit auf dieselbe bewirkende Ursache zurückgeführt wird, von welcher auch die Bewirkung der hypostatischen Einigung der Menschheit mit dem Sohne Gottes ausgeht, so bildet die produktive Aktion mit der unitiven zusammen eine einheitliche Gesamtaktion Gottes, die Produktion des ganzen Christus …« (ebd.)

Scheeben will also mit Begriffen wie »organisches Ganzes« und mit zugeordneten Begriffen wie Gesamtidee, Gesamtbegriff, Gesamthandlung etc. jenes Ganze fixieren, das ihm vielfach von Anfang an gegenwärtig ist, z.B. die Verbindung von Natur und Gnade.

Es entspricht dem ästhetischen, Begriff und Bild verbindenden Denken Scheebens, dass das »organische Ganze« auch in einem »Gesamtbild« angeschaut werden kann.360 Und noch einmal sei an das Naturparadigma erinnert: Aus der das Ganze präfigurierenden Natur als »Lebensgrund« und »Wurzel« bildet sich organisch das Ganze, entwickelt und gestaltet es sich exemplarisch-dynamisch. Das Ganze ist auf den einzelnen Stufen gegenwärtig und es entwickelt sich zu seiner vollen Gestalt.

Diesem vom Ganzen und aufs Ganze sehenden Denkens entspricht es, dass Scheeben nach »Grundbegriffen« sucht, die das Ganze der folgenden Ausführungen präfigurieren und enthalten, Begriffe oder Bilder wie z.B. »Autoritätsglaube«, »Fruchtbarkeit des göttlichen Lebens«, »Christus«. Dazu unten mehr.

3.3.6 Das Ganze noch einmal – Zwei Theologien? Eine Zwischenüberlegung

Scheebens Theologie zielt also stets auf ein Ganzes, einen Gesamtbegriff oder ein Gesamtbild. Es steht ihm als Ganzes bereits in seinem Aufsatz von 1860 und in »Natur und Gnade« 1861 vor Augen, bedarf aber gleichwohl der schrittweisen Ausführung und Durchführung und erhält dabei seine detailliierte, durchaus mit Modifikationen verbundene Tiefenstruktur. Die immer wieder aufgegriffenen Ausführungen zum Verhältnis von Natur und Gnade oder zum Verhältnis von geschaffener Gnade und Einwohnung des Heiligen Geistes zeigen dies. In der den »Mysterien« voraufgehenden Artikelserie im »Katholik« (1861–1862) und vor allem in den »Mysterien des Christentums« (1865) findet dieses Ganze eine erste, alle Teile der Theologie durchziehende Ausgestaltung. Am Ende des Weges, nach der Fertigstellung großer Teile der Dogmatik, bestätigt die geplante und bereits fertig vorliegende, wenn auch zu Lebzeiten Scheebens nicht mehr veröffentlichte Zweitauflage der »Mysterien« grundsätzlich die Erstauflage der »Mysterien« und wirft dadurch auch noch einmal ein Licht auf die Intentionen der Dogmatik.361 Es gibt Änderungen, vor allem in der Pneumatologie, aber aufs Ganze gesehen, sind diese Änderungen doch minimal und sie gehen nicht an die Substanz. Man findet eine Bestätigung aller Grundintentionen.

Die »Mysterien« zeigen also das Ganze in fast allen wesentlichen und grundlegenden Aspekten, und doch wird man in der Dogmatik gelegentlich daran irre, fragt sich, ob die Grundidee des Ganzen durchgehalten wird. Ein paar Beispiele: Liest man die entsprechenden Partien der Dogmatik, dann könnte die Natur, an sich, auch ohne die Gnade sein,362 die natürliche Gotteslehre als Lehre von Gott dem Einen könnte ohne die Trinitätslehre sein,363 die göttlichen Tugenden könnten auch ohne die sie unterfassende heiligmachende Gnade sein,364 die heiligmachende Gnade ohne die Einwohnung des Heiligen Geistes365 und vor allem die gesamte Gnadenordnung ohne Christus.366 Zumal die Gnadenlehre der Dogmatik wirkt vielfach wie von unten Stück um Stück zusammengesetzt. Nur im Nachhinein scheinen oft die Teile in der Dogmatik ineinander gefügt. Begriffe wie »organisches Ganzes« oder »physisch-moralisch«, »matrimonium ratum« – »matrimonium consummatum« sind Hilfskonstruktionen, um die Einzelteile nachträglich zusammenzufügen. Man könnte bei der »Natur« bleiben, eine Gotteslehre ohne Trinität haben oder die »Übernatur«, mit oder ohne Einwohnung des Heiligen Geistes, ohne Christus.

Scheeben geht in der Dogmatik einen anderen Weg als in den »Mysterien«. Dort bestimmt das Ganze erkennbar die gesamte Gestaltung. In der Dogmatik beginnt er gewissermaßen von unten und lässt sich geduldig auf vorgegebene Muster, Possibilitäten und Fragestellungen ein. Aber alles ist, wie unterspült, getragen und durchzogen von den Grundintentionen, von der »Gesamtidee« des Ganzen. Und spätestens, wenn dieses Ganze am Ende eines Traktats »organisch« dargelegt werden kann, wird deutlich, wie es gestaltend am Werk war, meist gegenwärtig schon in den Eingangsdefinitionen eines Abschnitts, etwa im Begriff »Autoritätsglaube« in der Glaubensanalyse bzw. Glaubenssynthese. Man muss also dieses Ganze stets im Hinterkopf haben, das Ganze, wie es in den »Mysterien« mit großem Pinsel, mit großem Enthusiasmus und mit einer stupenden Erudition als gewissermaßen Supermasterplan vorentworfen wird und wie es dann am Ende in der Dogmatik als »organisches Ganzes« erscheint, am Ende der Dogmatik insgesamt, aber vor allem am Ende der einzelnen Kapitel und Traktate.367

Das ist der Grund, Scheebens Darstellung in der Dogmatik exemplarisch-dynamisch zu nennen. Gemeint ist die bei ihm durchgängige, innere und tragende Beziehung der Teile zum Ganzen. Scheeben gestaltet das, was ins höhere Ganze »organisch« integriert werden soll, so, dass es einerseits ein (Vor)Bild dieses Ganzen ist, es also exemplarisch bereits abbildet. Zugleich zielt das Abbild auf das Vorbild oder Urbild, ist innerlich darauf angelegt, darin seine Vollendung zu finden. Es nimmt dieses vorweg, bildet es ab, ist exemplarisch bereits dieses Ganze, und es zielt dynamisch auf dieses Ganze, ist offen dafür und drängt zu ihm hin. Oder anders gesagt: Scheeben disponiert so, dass das Abbild sich nicht nur ins Vorbild oder Urbild »organisch« einfügen lässt, sondern dort oder von dort seinen ihm gemäßen Platz erhält: die Anthropologie von der Christologie, die natürliche Gotteslehre in der Trinitätslehre, die Natur von der Gnade her, die geschaffene Gnade in der Einheit und Ganzheit mit der ungeschaffenen Gnade, die gesamte Gnadenordnung von und in der christozentrischen Christologie oder, wie man auch sagen könnte, im Ternar des Alexander von Hales bzw. des Hl. Bonaventura.368

Dies kann zu Irritationen führen, zu Spannungen zwischen der Intention und Intuition des Ganzen und dessen aposteriorischer Artikulation. Es ist deshalb noch einmal zu betonen: Das »organische Ganze« am Ende eines Paragraphen oder eines Traktats in der Dogmatik ist wie in den »Mysterien« immer das primum in intentione, wenn es auch erst als ultimum in executione erscheint. Von diesem ultimum her, das in der Durchführung erst am Schluss auftaucht, ist dann alles zu sehen und dann erscheint es fast durchgängig in einem anderen, im rechten, von Autor intendierten Licht.

Von Scheebens letzten Werken her, von seiner Christozentrik in der Christologie (D § 267), von den immer weiter reichenden Aussagen in der Kontroverse mit Granderath, vom letzten Band der Gnadenlehre her (D § 284) kann man sich fragen, ob Scheeben nicht eine andere Dogmatik geschrieben hätte, hätte er diese noch einmal geschrieben, eine naturgemäß nicht zu beantwortende Frage.

Aber von hier scheint ein anderer Zugang zum Ganzen auf. Um nur ein Beispiel zu nennen: Ist das, was Scheeben über die »Natur« des Ebenbildes Gottes schreibt »reine Natur«? Man kann das so sagen, aber muss hinzufügen, es ist eine »reine Natur«, die gänzlich aus der Perspektive ihrer faktisch übernatürlichen Bestimmung dargestellt wird. Und nimmt man Scheebens letzte Äußerungen zur faktisch gnadenhaften Erhebung aller sittlichen Akte hinzu, dann muss man, auch im Rekurs auf entsprechende Überlegungen schon in »Natur und Gnade«, konstatieren, dass auch die beschriebene »Natur des Ebenbildes Gottes« Natur unter dem Anruf der Gnade ist.

Die Theologie der Vermählung

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