Читать книгу Der kleine Teufel - Hans-Georg Schumann - Страница 10

8. Am Rande des Fegefeuers

Оглавление

Anna schaute sich um und erschrak. Sie befand sich nicht mehr in ihrer Küche, sondern mitten auf einer Wiese. Um sie herum wuchsen verstreut einzelne Bäume und Büsche. Der Boden unter ihr war feucht und kalt. Und sie fing an zu frieren. Ihr war klar, dass sie träumte, trotzdem wirkte alles so echt, als wäre sie mittendrin in einer anderen Welt oder gar anderen Zeit.

»Das bist du auch«, riss eine Stimme sie aus ihren Gedanken. Die Stimme des kleinen Teufels.

Na ja, lächelte Anna vor sich hin, der kleine Wicht gehört eben auch dazu. So wie er in der Wirklichkeit inzwischen fast ständig bei ihr war, so nahm er anscheinend nun auch an diesem Traum teil.

»Das ist kein Traum«, hörte sie die gedämpfte Stimme des kleinen Teufels.

In einiger Entfernung konnte sie einen Haufen verkohlter Holzreste sehen, von denen noch Rauch aufstieg. Aus der Mitte ragte ein Pfahl, an dem etwas hing, das bis zur Unkenntlichkeit verbrannt war. Ein Mensch?

Schön war dieser Traum also nicht. Doch schon fühlte sie sich wieder von den Armen des kleinen Teufels umschlungen.

»Was ist?«, hörte sie sich fragen. War das immer noch ein Traum?

»Eine Fehllandung«, war die Antwort des kleinen Teufels, »Das ist meine erste Zeitreise mit dir, da kann schon mal was schiefgehen.«

Anna wurde warm, dann heißer. Trotzdem legte sie ihre Arme um den kleinen Teufel. Und wieder überkam sie das Gefühl, vom Boden abzuheben. Sie glaubte, nun aus diesem unangenehmen Traum verschwinden und endlich traumlos weiterschlafen zu können.

Aber es schien gar nicht lange zu dauern, da war sie abermals in diesem Traum. Da war wieder diese feuchte und kalte Wiese, und erneut begann sie zu frieren.

Anna versuchte zu lächeln. Irgendwie wirkte der Traum so echt, wie sie es eigentlich noch niemals erlebt hatte. Aber ihr Lächeln erstarb sogleich, als der kleine Teufel sie am Arm zog und förmlich fortriss.

»Komm«, flüsterte er und zerrte sie hinter eine Baumgruppe, drückte sie auf den Boden. »Bleib erst mal ruhig da liegen«, sagte er dann leise und eindringlich.

Plötzlich verspürte Anna das dringende Bedürfnis, laut und lange zu schreien. Aber da legte jemand beide Hände fest auf ihren Mund. »Sei leise«, raunte er ihr zu.

Und Anna hörte Schritte und Stimmen. Sie spürte den Wind, roch die Luft. Dann sah sie Menschen, die dicht gedrängt um etwas herumstanden. Nun war sie völlig verwirrt.

Erst jetzt schaute sie genauer hin, wer da eigentlich bei ihr war. Ein Junge von vielleicht zehn bis zwölf Jahren. Er trug einen ungefärbten Kittel aus grobem Leinen, und hatte ein einfaches Seil als Gürtel um die Bauchmitte gebunden.

»Was ist los? Wo bin ich? Wer bist du?«, stammelte sie.

»Gleich drei Fragen«, antwortete der Junge, »Was los ist, wirst du gleich erfahren. Du bist im 16. Jahrhundert. Und ich bin der kleine Teufel.«

Anna musterte den Jungen eine Weile. Dass der kleine Kerl seine Gestalt ändern konnte, empfand sie nicht mehr als ungewöhnlich. Aber was hatte er noch gesagt?

»Ich bin im sech-zehn-ten Jahrhundert?« Der Junge nickte.

»Und wo?«, fragte Anna argwöhnisch.

»Irgendwo in der Gegend, in der du im 21. Jahrhundert wohnst.«

»Und diese Leute?« »Die wollen wohl jemanden verbrennen. Vielleicht halten sie ihn für einen Teufel«, bemerkte der Junge.

Anna richtete sich auf. Mit einem Mal wurde ihr klar: Das alles war kein Traum! Sie war nicht nur auf einer Wiese anstatt in ihrer Wohnung, sie war möglicherweise wirklich in einer anderen Zeit. Und diese Menschen waren offenbar Schaulustige einer öffentlichen Hinrichtung.

»Aber, aber ...«, stotterte sie, »das dürfen sie nicht!«

»Doch sie tun es«, bemerkte der Junge, »Was willst du dagegen unternehmen?«

Anna spürte, wie die Angst in ihr hochkroch. Sie war gar nicht in der Lage zu handeln. Vielmehr hoffte sie, dass alles doch nur ein Traum war.

»Lass uns hingehen«, sagte der Junge und fasste sie am Arm. »Es fällt schon niemandem auf, wenn wir uns unter die Zuschauer mischen.«

»Wenn ich schon nichts dagegen tun kann«, sagte Anna, »dann werde ich doch nicht auch noch zuschauen.«

»Wenn wir aber hinsehen«, sagte der Junge, »fällt uns vielleicht etwas ein, wie wir das Opfer retten können.« Er nahm Anna bei der Hand.

Nur widerwillig ließ Anna sich mitziehen. Dann mischten sie sich unter die Leute, die johlende Worte in einer Sprache riefen, die Anna nicht verstand.

Als sie den Blicken der anderen folgte, sah sie einen Scheiterhaufen. Und mittendrin, an einen Pfahl gebunden, stand, nein: hing eine Frau. Sie war mit einem einfachen grauen Kittel bekleidet, ihre langen Haare waren fast schwarz und hingen wirr an ihr herunter.

Ab und zu hob sie den Kopf und schaute teilnahmslos in die Menge. Sie mochte etwa so alt wie sie selbst sein. Schlimmer noch: Anna schien es, als hätte sie sogar eine gewisse Ähnlichkeit mit ihr. Aber das war wohl Einbildung.

Die Leute wurden immer lauter, inzwischen hatte jemand angefangen, den Scheiterhaufen anzuzünden.

Und Anna hatte plötzlich das Bild vor Augen, das sie zuvor für den Anfang ihres Traumes gehalten hatte: Die niedergebrannten Holzreste, den Pfahl, und was bis zur Unkenntlichkeit verbrannt war – war diese Frau!

»Oh Gott!«, entfuhr es Anna. Sofort verstummte sie wieder, als einige der Zuschauer sich nach ihr umdrehten.

Leider blieb es nicht dabei. Die Leute sprachen plötzlich aufgeregt durcheinander und zeigten auf Anna. Und immer mehr Menschen drehten sich zu ihr um.

»Was ist?«, rief sie verängstigt, »Was habt ihr? Wieso schaut ihr mich so an?«

Nun sahen immer mehr Menschen abwechselnd auf Anna und die Frau auf dem Scheiterhaufen und riefen durcheinander.

Jetzt verstand Anna, dass auch sie die Ähnlichkeit bemerkt hatten. Es war also keine Einbildung gewesen. Außerdem fiel sie wohl durch ihre andersartige Kleidung auf.

Sie wollte ausweichen, wollte entkommen, schaute sich nach dem kleinen Teufel um. Doch schon wurde sie von vielen Händen gepackt. Dann zerrten sie diese Hände nach vorn, dicht an den Scheiterhaufen. Der war bereits am Brennen und das Feuer loderte mächtig in allen Farben.

Verzweifelt hielt Anna weiter nach dem Jungen Ausschau. Von dem war aber weit und breit nichts zu sehen.

Ihr kamen die Tränen. Er lässt mich im Stich, schoss es ihr durch den Kopf, Dieser verdammte Teufel haut einfach ab!

»Hilfe, Teufel hilf mir!«, wollte sie rufen, aber das hätte ihre Lage bestimmt nicht verbessert.

»Was wollt ihr von mir? Lasst mich in Ruhe!«, schrie sie also stattdessen voller Verzweiflung.

Mit einem Mal spürte sie nur noch die Hitze des Feuers, die Hände aber hatten sie losgelassen. Plötzlich entmutigt ließ sie sich einfach fallen. Dann verlor sie das Bewusstsein.

Als sie wieder erwachte und sich langsam aufrichtete, war das Feuer erloschen, der Scheiterhaufen leer. Und von den vielen Menschen war niemand mehr zu sehen. Lediglich die Frau, die sich offenbar befreien konnte, kniete neben ihr und sprach in leisen Worten auf sie ein.

Anna schüttelte den Kopf: »Ich verstehe nicht, was Sie sagen.« »Hör nur genau hin«, hörte sie eine Stimme, »du musst genau hinhören, was sie sagt!«

Anna drehte sich um und erblickte den Jungen, der sie einfach im Stich gelassen hatte.

»Verdammter kleiner Teufel«, schimpfte sie schwach, »Wo warst du?« Der Junge antwortete nicht. Aber die Frau redete weiter auf sie ein.

»Ich weiß nicht was sie sagt«, klagte Anna. Eigentlich müsste sie die Worte dieser Frau verstehen, denn so stark konnte sich die Sprache nicht geändert haben. Oder doch? Immerhin lagen dazwischen rund fünfhundert Jahre.

»Du musst nur genauer hinhören«, sagte der Junge eindringlich, »beruhige dich und hör zu! Spüre, was sie sagt.«

Anna atmete mehrmals tief ein und aus. »In Ordnung«, sagte sie dann. Und sie begann sich auf die Worte der Frau zu konzentrieren.

Erst waren es nur Bruchstücke, Wortfetzen. Schließlich aber wurden es ganze Sätze, die Anna begriff.

Die Frau erzählte ihr, dass der »leibhaftige Teufel« sie vom Scheiterhaufen gerettet hatte. Als die Flammen schon züngelten, wollte sie mit ihrem Leben abschließen. Bis dahin hatte sie aber immer fest an irgendeine Rettung geglaubt.

»Und als das Feuer immer stärker brannte, und als die Leute dich nach vorne schoben, da kam plötzlich aus der Luft der Leibhaftige. Er flatterte mit den Flügeln und zappelte mit den Beinen. Seine Füße sahen aus wie Pferdehufe. Er flog um mich herum und löschte das Feuer mit einem kräftigen Harnstrahl. Da rannten alle schreiend weg.«

Während die Frau davon sprach, ruderte sie mit den Armen. Dann hielt sie einen Moment inne. »Auf einmal war er wieder verschwunden. Und als die Leute nicht zurückkamen, habe ich versucht mich zu befreien. Dann tauchte plötzlich dieser Junge auf und hat mich losgebunden. Sonst hätte ich es vielleicht nicht geschafft.«

Also hat sie der Teufel gleich doppelt gerettet, dachte Anna.

»Dich hat der Teufel auch gerettet«, hörte sie die Frau jetzt sagen. Nachdem er mich vorher in diesen Schlamassel geschickt hat, dachte Anna.

»In Gefahr hast du dich selbst gebracht«, hörte sie jetzt die Stimme des kleinen Teufels, der noch immer in der Gestalt des Jungen steckte, »Dein 'Oh Gott' hat dir wohl nicht geholfen?«

Anna versuchte, diese Bemerkung zu ignorieren.

»Warum«, fragte sie, »wollten die Leute dich verbrennen?« »Weil ich eine Hexe bin«, sagte die Frau leise.

»Weil sie dich für eine Hexe halten«, meinte Anna. »Weil ich eine Hexe bin«, wiederholte die Frau.

Sie ist keine Hexe, dachte Anna.

»Aber wer ist sie?«, fragte der Junge.

Anna gab keine Antwort, ihr kam wieder in den Sinn, wie ähnlich sich die beiden Frauen sahen.

Derweil stand die »Hexe« schweigend vor ihnen und blickte geistesabwesend in die Ferne. Anna fasste die Hand des Jungen.

»Und wie geht es weiter? Was tun wir jetzt?«, fragte sie leise, »Denkst du, diese Frau kann jetzt so weiterleben wie früher? Sobald sie nach Hause kommt, geht doch der ganze Spuk wieder von vorn los.«

»Du meinst, man kann sie nicht mehr retten, sie ist ohnehin verloren?«, fragte der Junge. Anna nickte.

»Viele Chancen hat sie nicht«, meinte der Junge.

»Dann war ihre Rettung vom Scheiterhaufen also sinnlos?«, rief Anna.

»Hätten wir zulassen sollen, dass sie verbrennt?«, fragte der Junge.

Anna schüttelte den Kopf. Das alles verwirrte sie. Eigentlich war alles falsch und nichts richtig. Mit einem Mal spürte sie wieder, wie schrecklich kalt es war. Sie begann zu zittern. Da legte der Junge den Arm um ihre Taille, so dass ihr allmählich wärmer wurde.

»Jetzt«, sagte er, »hat sie eine neue Lebenschance.«

»Aber wie kann sie die nutzen? Sie weiß doch überhaupt nicht, wie es für sie weitergehen soll.«

Die Frau schien die ganze Zeit nicht wahrzunehmen, was Anna und der kleine Teufel beredeten.

»Möchtet ihr mitkommen?«, fragte sie auf einmal. Anna bemerkte das erst, als sie ihre Frage eindringlicher wiederholte. Und der Junge hatte bereits genickt, während Anna noch zögerte.

Was soll's, dachte sie dann, wenn der Teufel dabei ist: Was kann uns da schon passieren?


Der kleine Teufel

Подняться наверх