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7. Gut und böse

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Der Wecker klingelte. Anna wurde wach und streckte sich. Sie sprang aus dem Bett, ging ins Bad, stellte sich unter die Dusche und schlüpfte, ohne sich abzutrocknen, in ihre Kleider.

Sie setzte Wasser auf und wartete, bis es kochte. Dann brühte sie sich eine große Tasse schwarzen Tee und schlürfte ihn bedächtig in kleinen Schlucken. Anschließend aß sie gemütlich eine Schale Müsli.

Währenddessen lag der kleine Teufel in ihrem Sessel, in eine Windel gepackt, die ihm eigentlich zu groß war, und schlief weiter.

Anna streifte Schuhe und Jacke über, zog die Wohnungstür hinter sich zu. Ging gemächlich die vielen Treppenstufen hinunter. Zuerst wagte sie einen Blick hinaus auf die Straße und stellte fest, dass die vom Schnee freigeräumt war. Dann schwang sie sich im Hausflur auf ihr schon etwas angerostetes Fahrrad. Und machte sich auf den Weg zur Spedition, in der sie arbeitete.

Die Zeit im Büro verlief diesmal nicht mit der gewohnten Eintönigkeit. Immerhin war gestern hier eingebrochen worden. Und den Wachmann Bartholomäus hatte es beinahe erwischt.

Nur wenige Minuten nach Beginn der Arbeitszeit kam Gottfried Möller, der Chef der Speditionsfirma, stellte sich vor alle Kollegen und sagte laut: »Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten?«

Als alle schweigend auf ihn schauten, begann er: »Herr Bartholomäus liegt noch immer auf der Intensivstation. Die Ärzte sagen, dass er wohl überleben wird.«

Dann erzählte Möller vom Einbruch in die Firma. Er war sichtlich bemüht, alles möglichst sachlich darzustellen, obwohl man ihm ansah, dass er sehr betroffen war.

»Es ist den Tätern gelungen, unseren Tresor aufzubrechen und das ganze Geld mitzunehmen, das dort gelagert war. Gott sei Dank war es nicht allzu viel. Ansonsten wurde einiges von unserer Einrichtung zerstört. Trotzdem kann unsere Arbeit heute weitergehen. Schlimm ist, dass dabei ...«, er hielt kurz inne und schluckte, »dass dabei fast jemand zu Tode gekommen ist.«

Dann schloss er seine kurze Ansprache mit dem Satz: »Das ist der aktuelle Stand nach den Ermittlungen der Polizei.«

Nicht alle kannten den Wachmann. Anna hatte ihn ein paar Mal getroffen und auch mit ihm geredet. Sie erinnerte sich an einen dicken runden freundlichen Mann, der immer gute Laune zu haben schien.

Irgendwelche Spuren von den Ereignissen der vorletzten Nacht waren nicht mehr zu entdecken. Aber das Ganze lastete auf allen, die im Büro arbeiteten, und die Stimmung war den Rest des Tages sehr bedrückend.

Als endlich dieser Arbeitstag zu Ende war, machte sich Anna auf den Nachhauseweg. Sie war froh, als sie wieder in ihrer Wohnung ankam. Diesmal warf sie ihre Schuhe aber nicht in eine Ecke, sondern ließ sie dort stehen, wo sie sie ausgezogen hatte. Diesmal schaltete sie das Radio nicht ein, um zur Musik zu summen.

Es war zwar weiter Alltag. Aber einiges schien jetzt anders geworden zu sein. Nicht nur, dass in ihrem Arbeitsbereich jemand beinahe getötet worden war. Nicht nur, dass der kleine Teufel seit Sonntag bei ihr wohnte.

Anna hatte wirklich das Gefühl, es sei nun an der Zeit, ihr Leben anders gestalten zu müssen. Bloß wie, das war ihr nicht klar. Sie schob die Gedanken beiseite. Sie würde darüber noch mal nachdenken, bei nächster Gelegenheit. Vielleicht nach dem Espresso?

Als sie den zubereitet hatte und langsam schlürfte, saß der kleine Teufel ihr gegenüber auf dem Tisch und schaute zu.

Dass er seit gestern eine Windel trug, hatte Anna einige Anstrengung gekostet. Zuerst waren ihre Bemühungen, ihm diese anzulegen, alle schiefgelaufen. Wenn dieser Kerl keine Lust hatte, war offenbar nichts zu machen.

Schließlich hatte Anna es mit einer Methode versucht, die zwar nicht fair war, aber offenbar wirkungsvoller: »Ich will bei Gott, dass du diese Windel jetzt anziehst!«

»Sag das nicht«, hatte der kleine Teufel sie gebeten.

»Gott! Gott! Gott!«, rief nun Anna so lange, bis der kleine Teufel sich die Ohren zuhielt und nicht mehr wehrte. Endlich gelang es ihr, ihm die Windel anzulegen.

»Uff«, meinte sie anschließend. »Das war nicht gut«, sagte der kleine Teufel.

»Es war meine einzige Chance«, entgegnete Anna, »Und es ist gut für mich. Wenn du das Wort Gott nicht mehr hören willst, dann lass diese Windel jetzt an. Sollten wir uns aber einigen können, dass du regelmäßig die Toilette benutzt, kannst du sie ja wieder ablegen.«

Der kleine Teufel schaute sie lange stumm an. »Das ist eine Möglichkeit, mich loszuwerden«, sagte er dann, »Wenn du diesen Namen oft genug benutzt, könntest du mich dazu bringen, dich zu verlassen.«

»Und das nennt man dann Teufelsaustreibung?«, lachte Anna kurz auf, wurde aber gleich danach wieder ernst.

Nun hatte der kleine Teufel ihr einen Weg genannt, wie sie sich von ihm frei machen konnte. Der ganze Ärger wäre dann Vergangenheit. Und in Zukunft könnte sie wieder so leben wie bisher. Aber wollte sie wirklich wieder so leben wie bisher?

»Du denkst darüber nach«, bemerkte der kleine Teufel. Anna nickte. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihn überhaupt noch loswerden wollte. Obwohl künftige Konflikte mit ihm sicher unvermeidlich waren.

»Wir haben viele verschiedene Ansichten«, gab der kleine Teufel zu bedenken. Anna nickte wieder.

»Aber wir mögen uns«, sprach der kleine Teufel weiter. Und nach kurzem Zögern nickte Anna ein weiteres Mal.

Natürlich hätte Anna gern auf eine ganze Reihe von Eigenarten des kleinen Teufels verzichtet. Aber sie wusste, dass er sich nicht darauf einlassen würde, mit ihr irgendwelche festen Vereinbarungen zu treffen. Wie erwartet, bekam sie das auch gleich mit einem mehrfachen Nicken des kleinen Teufels bestätigt.

»Du kannst versuchen, mich wieder loszuwerden«, meinte er dazu, »Oder du nimmst mich, wie ich bin.«

»Es wird mir wohl nichts anderes übrigbleiben«, seufzte Anna. »Ich nehme dich auch wie du bist«, lächelte der kleine Teufel sie an.

»Obwohl dir so manches an mir nicht passt?«, fragte sie. Der kleine Teufel schwieg.

»Erzähl mir was von meinen schlechten Seiten«, forderte Anna ihn auf.

»Du bist, wie du bist«, betonte der kleine Teufel. Aber Anna war neugierig, was der kleine Teufel an ihr auszusetzen hatte.

»Nun sag schon«, rief sie, »Schließlich habe ich dir auch gesagt, was mir an dir nicht passt.« Doch der kleine Kerl ließ sich nicht zu einer Antwort überreden.

»Du sprichst nicht gern über gut oder schlecht – oder böse«, meinte Anna schließlich. »Vielleicht weil das eine etwas mit Gott, das andere etwas mit dem Teufel zu tun hat?«

Der kleine Teufel sah sie stumm an.

»Du willst dazu nichts sagen?«, fragte Anna. »Warum willst du darüber reden?«, fragte der kleine Teufel.

»Eigentlich hätte ich dich schon viel früher danach fragen sollen. Jetzt will ich es wissen.«

Sie sah den kleinen Teufel an. Der zögerte eine ganze Weile.

»Es gibt nicht nur einen Gott und einen Teufel. Teufel und Götter gibt es viele«, sagte er schließlich, »Alle haben ihre eigenen Ansichten über gut und schlecht. Aber böse ist niemand, die Götter nicht und die Teufel nicht.«

»Was ist dann der Unterschied?«, fragte Anna verständnislos.

Der kleine Teufel seufzte. »Die Götter legen für alle Lebewesen fest, was gut und was schlecht ist. Wir Teufel tun das nur für uns selbst.«

»Das ist alles?« Anna musste lachen. »Du willst mir doch nicht erzählen, dass das alles ist?«

»Die Götter wollen über alles bestimmen«, fuhr der kleine Teufel fort, »also auch über uns Teufel. Wir aber wollen selbst entscheiden, was uns guttut und was nicht.«

»Und deshalb werden die Teufel überall verteufelt?«, fragte Anna und lachte wieder. Der kleine Teufel schwieg.

»Na ja«, sagte sie dann weiter, »meine Erfahrung mit einem Teufel ist ja auch nicht gerade die beste.«

Da lächelte sie der kleine Kerl verschmitzt an. Langsam zog er seine Windel aus und warf sie auf den Küchenboden.

Dann fasste er Anna bei der Hand und zog sie zu sich herunter: »Lass uns eine Reise machen.«

Anna verstand nicht, was er meinte. Da klammerte sich der kleine Teufel an sie und forderte sie auf: »Leg deine Arme fest um mich.«

Anna wurde warm und heiß. Sie zögerte. Da ließ der kleine Teufel sie wieder los.

»Du musst nicht, wenn du nicht willst«, sagte er, »Aber ich habe Lust, mit dir eine Reise in die Zeit zu machen.«

»Ich weiß gar nicht, was du damit meinst«, stammelte Anna. »Dann komm einfach mit«, lächelte der kleine Teufel, »oder lass es bleiben.«

Er bot Anna seine Arme an. Nur einen kurzen Augenblick noch war Anna unschlüssig, dann zog sie ihn fest an sich und umarmte ihn. Auch er schlang seine Arme um ihren Körper. Ihr wurde zuerst warm, dann allmählich heißer. Sie hatte das Gefühl, langsam vom Boden abzuheben, und wurde dabei immer müder. Schließlich schwanden ihr die Sinne.

Als sie das Bewusstsein wiedererlangte, hatte der kleine Teufel sie losgelassen und saß ihr gegenüber …


Der kleine Teufel

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