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1. Das Gelbe vom Ei?

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Anna schaute hinunter. Vom Geländer der Brücke, auf der sie stand, bis zur Straße, die darunter hindurchführte, konnten es vielleicht sieben Meter sein. Wenn ich da unten aufkomme, bin ich sofort tot, dachte sie.

Es war heute nicht das erste Mal, dass sie dort stand. Und es war nicht das erste Mal, dass sie zögerte. Und sie traf auch jetzt dieselbe Entscheidung wie beim letzten Mal: Sie würde ihr ödes Leben weiterleben.

Anna war mittelgroß und schlank, hatte helle Haut mit Sommersprossen und kurzes blondes Haar. Sie wohnte allein in einer kleinen Dachgeschosswohnung. Ihr Tagesablauf war fast immer der gleiche: Von montags bis freitags stand sie um sieben Uhr auf. Stellte sich unter die Dusche und schlüpfte, ohne sich abzutrocknen, in ihre Kleider. Zum Frühstück pflegte sie ein bis zwei Tassen schwarzen Tee zu trinken und eine Schale Müsli zu essen.

Dann stieg sie in die Schuhe und streifte die Jacke über. Zog die Wohnungstür hinter sich zu und ging gemächlich die vielen Treppenstufen hinunter. Noch im Hausflur schwang sie sich auf ihr schon etwas angerostetes Fahrrad. Und machte sich auf den Weg zu dem Speditionsbüro, in dem sie arbeitete. Nur im Winter benutzte sie ab und zu den Bus – aus Angst vor glatten Straßen.

Sobald sie am Nachmittag wieder zu Hause war, zog sie ihre Jacke aus und hängte sie auf einen Bügel. Dann stieg sie aus ihren Straßenschuhen und warf sie in eine Ecke neben dem Fernsehgerät. Schaltete das Radio ein und summte zur Musik. Auch wenn sie die Melodie nicht kannte, versuchte sie den Tönen irgendwie zu folgen.

In der Küche stand eine kleine Espressokanne, die nun nicht lange kalt blieb: So wie Anna morgens ihren Tee nötig hatte, mochte sie nachmittags auf den kleinen schwarzen Muntermacher nicht verzichten.

Anschließend ging Anna noch einmal um die Ecke in die Altstadt. Häufig wollte sie nur ein bisschen bummeln. Manchmal hatte sie auch noch ein paar Dinge einzukaufen. Wenn sie zurückkam, schaltete sie den Fernseher an und schaute dem zu, was gerade kam. Meist waren das ein bis zwei Spielfilme, dazwischen Nachrichten und Werbung.

Mit der Zeit wurde Anna müde. Oft schlief sie im Sessel ein. Irgendwann raffte sie sich wieder auf, um sich auszuziehen und ins Bett zu legen. Und damit war der Tag endgültig vorbei.

So ging das von Montag bis Freitag. Etwas anders lief es am Wochenende: Da stand Anna nicht um sieben Uhr auf, sondern erst um neun. Zum Frühstück gönnte sie sich einen doppelten Espresso und dazu ein weichgekochtes Ei.

Samstags machte sie dann ihre Großeinkäufe für die kommende Woche. Nicht selten musste sie dabei mehrmals mit ihrem klapprigen Fahrrad hin und her radeln. Schwer wurde es nur im Winter, wenn es glatt war. Da schob sie ihr Fahrrad lieber vorsichtig neben sich her. Oder sie nahm den Bus.

Sonntags blieb sie nach dem Aufstehen viele Stunden im Nachthemd. Erst gegen Mittag zog sie sich an. Bei schönem Wetter fuhr sie mit dem Fahrrad mehrere Stunden in der Gegend herum. Ohne besonderes Ziel. In irgendeinem Restaurant machte sie dann Rast. Und genehmigte sich dort einen Imbiss und etwas zu trinken. Musste sie bei Regen auf einen Ausflug verzichten, ging sie zu einer Pizzeria, die nicht mal hundert Meter weit entfernt war.

So ging das Tag für Tag. Und Woche für Woche, Monat für Monat. Immer mal wieder kam Anna an einen Punkt, an dem ihr dieses Leben nicht mehr lebenswert erschien. Dann ging sie zu der Brücke und schaute hinunter. Mehr traute sie sich nicht. Und dann ging ihr eintöniges Leben weiter.

Bis eines Sonntags etwas Merkwürdiges geschah. Es war der 22. Februar und ihr 22. Geburtstag. Für Anna eigentlich nichts Besonderes, denn sie feierte ihre Geburtstage grundsätzlich nicht. Und so begann auch dieser Sonntag wie jeder andere Sonntag zuvor.

Anna war schon aufgestanden und hatte ihren doppelten Espresso ausgetrunken. Im Radio kam gerade etwas über den Tod, das sie interessierte. Sie hörte zu und vergaß ganz ihr Frühstücksei. Das brodelte inzwischen auf dem Herd vor sich hin. Erst als der Beitrag im Radio beendet war, fiel es Anna plötzlich ein: »Oh, Gott!«

Sie rannte zum Herd, auf dem das Ei bestimmt schon mehr als zehn Minuten gekocht hatte. In der Eile fasste sie mit der bloßen Hand ins Wasser. Bekam das Ei zwischen die Finger, ließ es aber gleich mit einem Aufschrei wieder los. Das Ei prallte gegen die Herdkante und fiel dann auf den Boden. Dort zerbrach es. Durch den Aufprall wurde der Dotter frei und rollte durch die Küche.

Das sah Anna nicht, sie war auf ihre schmerzende Hand konzentriert. Schnell öffnete sie den Wasserhahn, um die verbrannten Stellen zu kühlen. Als das Wasser jedoch allmählich heißer wurde, zog sie die Hand mit einem erneuten Aufschrei zurück. Diesmal schob sie den Hebel in die richtige Richtung und spürte erleichtert, wie endlich kaltes Wasser über ihre verbrühte Haut sprudelte.

Ihr Blick fiel auf das zerbrochene Ei am Boden. Jetzt bemerkte sie, dass der Dotter fehlte. Sobald die Schmerzen in ihrer Hand ein wenig nachließen, dreht Anna den Hahn wieder ab und machte sich gleich auf die Suche. Vorsichtig kniete sie sich hin und kroch auf dem Boden herum. Da sah sie unter einem Stuhl etwas Rundes. Und zum zweiten Mal rief sie: »Oh Gott!«. Denn das war zwar ohne Zweifel ein Eidotter, doch der war nicht gelb, sondern rot. Tiefrot sogar.

Langsam und staunend näherte sich Anna dem Dotter. Gerade wollte sie ein wenig angewidert nach ihm greifen, da stieg plötzlich Rauch auf. Sie spürte die Hitze und zog die Hand schnell wieder zurück. Wie angewurzelt blieb sie hocken, als das Ding zu brennen anfing. Keinen Ton bekam sie heraus. Sie sah nur zu, was jetzt geschah:

Aus dem roten Etwas züngelten kleine Flammen in allen Farben. Dabei knisterte es leise. Mit einem Mal erlosch das Feuer, und der rote Dotter war verschwunden. Anna wollte es nicht glauben: An seiner Stelle stand dort ein kleines rotes Wesen. Etwas Lebendiges, das sich räkelte und gähnte. Und dabei wuchs es stetig. Bis es drei oder vier Handbreit groß geworden war.

Anna rieb sich die Augen, ehe sie erneut hinsah. Und wirklich war da etwas. Und es bewegte sich. Und machte Geräusche. Erst jetzt wich die Erstarrung von ihr und sie machte einen Satz rückwärts. Stieß sich bei dem Versuch aufzustehen den Rücken an der Türklinke. Schrie »Au!«, und seufzte jetzt schon das dritte Mal »Oh Gott!«.

»Was sagst du?« Hatte da jemand gesprochen? Eigentlich war das unmöglich, aber es kam ganz offensichtlich von jenem kleinen Wesen unter dem Stuhl.

Damit musste Anna jetzt erst einmal fertig werden: Da war ein Ei geplatzt, und aus dem Dotter war eine Kreatur geworden. Und der Dotter war nicht gelb, sondern rot. Und auch das Wesen hatte eine rote Farbe. Es sah quicklebendig aus und konnte sogar in ihrer Sprache sprechen.

Anna schloss die Augen. Und fing an beruhigend auf sich einzureden. Dabei suchte sie nach einleuchtenden Erklärungen: »Ist doch nichts Ungewöhnliches, wenn etwas aus einem Ei schlüpft. Und für ein Huhn ist es sogar normal.«

Scheinbar beruhigt öffnete Anna nun wieder die Augen. Dicht vor ihr stand ein kleines Wesen, dessen Hauptfarbe rot war. Es war völlig nackt. Da wo Anna jetzt hinblickte, gab es keinen Hinweis, ob dieses Wesen männlich oder weiblich war.

Einem Hühnchen sah dieses Geschöpf allerdings gar nicht ähnlich. Und sein feuriges Erscheinen vorhin hatte auch keine große Gemeinsamkeit mit dem Ausschlüpfen eines Kükens.

Dabei war das Ei doch ein Hühnerei. Sogar eines von freilaufenden Hühnern. Ob da vielleicht ein Kuckucksei dazwischengeraten war? Oder gar eine Art von Teufels-Ei?

Anna wurde aus ihren Gedanken gerissen: Das Wesen hatte sie am Fuß angestupst. Sie wollte zurückzucken. Aber da war kein Platz mehr, weil sie bereits mit ihrem Po dicht an der Tür saß.

»Was ist?«, hörte Anna erst das seltsame Wesen fragen und dann sich mit einer Frage antworten: »Was ist los?«

Einen Moment war es still. »So kommen wir nicht weiter«, sagte dann die kleine Kreatur. Und Anna nickte stumm. Sie beschloss, der eben entstandenen Tatsache endlich ins Gesicht zu sehen.

»Sag, was du bist«, schlug das Wesen vor.

»Ich, ich, ich bin Anna«, stotterte sie.

»Ein Anna«, sagte das Geschöpf und nickte langsam mit dem Kopf.

»Und du«, fragte Anna, »wer bist du? Ein Küken wohl gerade nicht.«

Und auf einmal musste sie sogar lachen. Obwohl ihr zum Lachen wahrlich nicht zumute war.

»Was gibt es zu lachen?«, fragte der kleine Kerl. Anna wurde wieder ernst.

»Nun sag schon, wer du bist!«

»Nein«, sagte das Wesen und lachte nun seinerseits.

Und Anna versuchte mitzulachen: »Oh Gottogott! Soll das ein Ratespiel ...«

»Das musst du nicht sagen«, wurde sie unterbrochen, »Und auch noch doppelt.«

»Was?«, wollte Anna fragen. Da verstand sie: Anscheinend mochte es dieses Wesen nicht, wenn jemand »Oh Gott« sagte. »Nun gut«, schlug sie vor, »du sagst mir jetzt, wer du bist, und ich sage nicht mehr 'Oh Gott'.«

Das seltsame Geschöpf schüttelte sich. »Ich sage, wer ich bin, und du verzichtest auf diesen Spruch.« Dann verstummte es für einen Moment.

»Na?«, fragte Anna ungeduldig.

»Ich bin ein Teufel.« Das Wesen sah Annas ungläubigen Blick und wiederholte: »Ja, ein Teufel. Sieht man das nicht?«

Anna lachte: Ein Teufel! Dieser Zwerg, kaum größer als ein Huhn, sollte ein richtiger Teufel sein?

»Eher wohl ein Kobold oder Gnom. Ein Wichtelmännchen oder so was«, prustete es aus ihr heraus. Unter einem Teufel stellte sie sich nun doch etwas viel Größeres, Mächtigeres vor.

Das kleine Geschöpf schien verärgert. Anna bemerkte dies, als ihr plötzlich ein ganz heißer Wind um den Kopf wehte. Verdutzt schaute sie auf. Und sah, wie der vermeintliche Teufel regelrecht zu glühen und zu dampfen begann.

»Du kochst ja vor Wut!«, lachte Anna und hatte damit die Lage offenbar genau getroffen.

Doch als sie sah, was nun passierte, blieb ihr das Lachen im Halse stecken: Der kleine Wicht glühte nicht nur. Er blähte sich langsam auf. So wuchs er schnell von wenigen Handbreit auf eine Größe, mit der er unter dem Stuhl keinen Platz mehr hatte.

Eilig richtete Anna sich auf. Und weil sie glücklicherweise die Klinke sofort fand, öffnete sie schnell die Tür hinter sich. Inzwischen schob sich dieses Wesen unter dem Stuhl hervor.

Was weiter geschah, konnte Anna nicht mehr mit ansehen. Schnell war sie in den Wohnungsflur gehuscht und hatte die Tür hinter sich zugeschlagen. Nun lehnte sie atemlos vor Angst an der geschlossenen Tür und hörte, wie es drinnen in der Küche laut schnaubte.

»Es ist nur ein Traum«, flüsterte sie.

Das hatte ihr nun das eintönige Leben eingebracht: Immerzu tagtäglich das gleiche. Da musste man ja Komplexe bekommen! Manche sahen dann weiße Mäuse, manche auch Gespenster. Und sie hatte eben etwas gesehen, das sich als Teufel ausgab.

Anna seufzte. Sie brauchte wohl bloß eine Weile Ruhe. Dann würde sie die Tür wieder öffnen. Und sehen, dass alles wie immer war.

Anschließend war eine große Kanne Tee fällig. Und beim gemütlichen Trinken würde sie dann die Gelegenheit nutzen, um über ihr Leben nachzudenken. Sie nahm sich vor, die Ereignisse als Anstoß zu sehen, um endlich aus dem Alltagstrott herauszukommen. Vielleicht war dies eine Chance, ihrem Leben einen neuen Sinn zu geben? Anstatt es immer nur beenden zu wollen und nicht zu können?

»Das war wohl auch mal nötig«, sagte sie laut, »dass mir so etwas passiert!«

Aber nur einen Moment später wurde ihr bewusst, dass alles kein Traum war: Die Tür öffnete sich. Und Anna sah sich einem riesigen Ungeheuer gegenüber. Und sie hörte es mit dröhnender Stimme sagen: »War das wirklich nötig?«

Noch nie zuvor war sie jemals in Ohnmacht gefallen, aber jetzt tat sie's.


Der kleine Teufel

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