Читать книгу I. Die Bio-Ökonomie - Die nachhaltige Nischenstrategie des Menschen - Hans-Günter Wagner - Страница 5

II. Rückbindung an die Lebensprozesse: Das neue Paradigma der Bioökonomie

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Veränderung beginnt im Denken und Fühlen. Scheinbar Bekanntes wird neu wahrgenommen und in neue Begriffe gefasst. Im gesellschaftlichen Zusammenleben, in gemeinsamer Arbeit, in Kommunikation und Interaktion formiert sich schließlich aus den Ideen in den Köpfen die gesellschaftliche Realität als sozial konstruierte Wirklichkeit.[55] Im Prozess der Konstruktion sozialer Wirklichkeit kommt den wissenschaftlichen Erklärungsmodellen von Natur und Gesellschaft ein besonderer Stellenwert zu. Wissenschaftliche Theorien und Aussagensysteme steuern maßgeblich den Modus des nischenstrategischen Handelns und genießen dabei zumeist den Status wertfreier Objektivität. Leider wird oft vergessen, dass auch wissenschaftliche Erkenntnisinteressen von subjektiven Nutzenabwägungen ausgehen und in ihren Begriffsschöpfungen – zumindest in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften – zu großen Teilen auf phänomenale Wahrnehmungen der Alltagswirklichkeit zurückgehen. In Phänomene wissenschaftlicher Wahrnehmung gehen daher Elemente subjektiver Erfahrung und sozialer Wertung mit ein. Viele Vertreter der reinen Wissenschaft lassen aber diese Tatsache gern unter den Tisch fallen und gebrauchen ihre vermeintlich wertfreien Theorien oft in krypto-normativer Absicht, wobei die Begleitumstände des Erkenntnisprozesses dann mit dem Dunsthauch der Objektivität vernebelt werden. Wissenschaftliche Erkenntnisprogramme, die den Anspruch auf Übereinstimmung mit den Tatsachen formulieren, sollten eigentlich nicht umhinkommen, diese Begleitumstände wissenschaftlicher Wahrnehmung hinsichtlich der Gültigkeit und der Verallgemeinerbarkeit ihrer Aussagensysteme zu reflektieren. Herman E. Daly[56] spricht von der voranalytischen Vision, die jeder wissenschaftlichen Analyse zugrunde liegt und die bereits wesentliche Elemente der Problemlösung in sich birgt.

Sogar J.M. Keynes glaubte, dass die Analogiebildung als ein wichtiges Steuerungsinstrument in wissenschaftlichen Erkenntnisprozessen fungiert und hielt sie für ein legitimes Verfahren in wissenschaftlicher und alltagsweltlicher Theoriebildung, wobei er die Stärke der auf diese Weise gewonnenen induktiven Schlussfolgerungen in Beziehung zum jeweils zugrundeliegenden Generalisierungsbereich setzte. In seinem frühen Werk A Treatise on Probability behauptet Keynes sogar, dass jede induktive Beweisführung ohne vorherige Analogiebildung vollkommen nutzlos sei.[57]

Wir wollen daher auch hier die voranalytische Vision transparent machen, die dem nachhaltigen und vorsorgenden Wirtschaftskonzept zugrunde liegt, und von der entsprechende Abstraktionen ihren Ausgangspunkt nehmen. Die Grundfesten eines solches Vorstellungsgebilde können wir auch als Paradigma bezeichnen, das als Muster und Problemlösungsmodell kategorienbildend und handlungsstrukturierend wirkt. Thomas Kuhn[58] hat den Begriff des Paradigma in dieser Form eingeführt, um das Gebäude metaphysischer Annahmen und Überzeugungen zu beschreiben, die von den Mitgliedern einer wissenschaftlichen Gemeinschaft geteilt werden und den jeweiligen Problemlösungsstrategien durchgängig zugrunde liegen. Anfangs hat Kuhn den Begriff des Paradigma in metaphysischer Breite gebraucht, ihn jedoch später auf die Elemente disziplinäres System und Musterbeispiele hin präziser definiert.[59] Wissenschaftlicher Fortschritt, so Kuhn, verläuft nicht - wie fälschlicherweise oft angenommen - über eine beständige und kumulative Vermehrung empirischen Wissens, sondern muss vielmehr als Prozess verstanden werden, in dem vorher geltende Erklärungsmuster verworfen und durch andere ersetzt werden. Die Tätigkeit der normalen Wissenschaft besteht darin, Rätsel im Rahmen des herrschenden Paradigma zu lösen. Im Zuge der Forschungsprozesse stößt dieses Rätsellösen jedoch auf Anomalien. Häufen sich diese Anomalien und können sie im Rahmen des herrschenden Paradigma nicht gelöst werden, so bleibt das entsprechende Problem entweder ungelöst oder es kommt zur Entwicklung eines neues Paradigma und zum Streit um seine Anerkennung: „Wenn der Übergang abgeschlossen ist, hat die Fachwissenschaft ihre Anschauungen über das Gebiet, ihre Methoden und ihre Ziele geändert.”[60]

Der Wechsel von Paradigmen bildet also das Wesen wissenschaftlicher Revolutionen. Kuhn hat die Übertragbarkeit des Paradigma-Modells auf die Sozial- und Wirtschaftswissenschaften offengelassen. Faktisch sind aber die zentralen Begriffe des Paradigma längst zu Kernkonzepten nicht nur in den Geisteswissenschaften, sondern ebenso im alltagsweltlichen Denken geworden. Ein zentraler Unterschied liegt jedoch darin, dass Paradigmenwechsel in den Naturwissenschaften stattfinden, ohne dass sich die zugrundeliegenden Erkenntnisobjekte selbst ändern, während Paradigmenwechsel in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften weniger auf Anomalien zurückzuführen sind, die im Zuge des Rätsellösens auftreten, sondern vielmehr durch politische und soziale Bewegungen ausgelöst werden, die vorherrschende wissenschaftliche Erklärungsmuster in Frage stellen.[61] So führen heute die kontraproduktiven Folgen industriellen Wirtschaftens, wie beispielsweise die bedrohliche Zerstörung unserer Mitwelt, die Erschöpfung der Naturgrundlagen unseres Lebens und die steigende gesellschaftliche Unzufriedenheit mit diesen Entwicklungen dazu, dass die herrschenden ökonomischen Paradigmen ins Wanken geraten.

Die Ökonomie als von allen gesellschaftlichen Normen losgelöste monetäre Handlungswissenschaft wird immer öfter als bloße Profitlehre gesehen, die dem Interesse am Erhalt unserer Mitwelt aggressiv entgegensteht. In der Regel fragt die traditionelle Ökonomie weder nach den physikalischen Merkmalen der Dinge, mit denen sie sich befasst, noch zeigt sie größeres Interesse an den sozialen und psychischen Prozessen bei den beteiligten Subjekten. Zutiefst ahistorisch, reduziert sie alle menschlichen Interaktionen auf am Markt erscheinende Preis- und Mengenbewegungen. Soziale Phänomene werden dabei oft durch eine naturwissenschaftlich verbrämte Metaphorik ersetzt. Konsequenz der Orientierung am naturwissenschaftlichen Exaktheitsideal, die hier eine sehr enge Porträtierung des Handlungsrahmens der am Wirtschaftsprozess beteiligten Menschen zur Konsequenz hat. Indem alle diesbezüglichen Beschränkungen an sozialwissenschaftliche Nachbardisziplinen delegiert werden, etabliert sich eine reine Ökonomie jenseits des alltäglichen Erfahrungswissens. Anstelle der damit anvisierten strikten Trennung von beschreibenden und normativen Aussagen, kommt es dabei faktisch zur Bildung einer Grauzone, in der Aussagen beide Eigenschaften zugleich aufweisen.[62] Die zahlreichen Wachstumsmodelle im Rahmen des traditionellen Paradigma zeigen diese Defizite sehr ausgeprägt. Sie fußen auf Voraussetzungen und Annahmen, die in einer zunehmenden Zahl von Fällen einer empirischen Überprüfung nicht standhalten. Der tiefen Kluft zwischen Modell und Realität versuchen moderne Wachstumstheorien schon dadurch Rechnung zu tragen, dass sie im Unterschied zu klassischen Analysen gar nicht mehr den wirklichen Wachstumsprozess analysieren, sondern sich darauf beschränken nach den Voraussetzungen zu fragen, die gegeben sein müssen, damit wirtschaftliches Wachstum ungestört fortschreiten kann. Faktisch konzedieren sie damit jedoch, dass die tatsächliche Entwicklung ganz anders verläuft.

Wir können die historische Wirtschaftsentwicklung als Prozess interpretieren, in dessen Verlauf mehr oder weniger stationäre Zustände durch Wachstumsdynamiken aufgebrochen werden, die nach langen Entfaltungsperioden schließlich wieder erschlaffen und dann in qualitativ neuartige Gleichgewichtszustände übergehen. Um solche extrem langen Entwicklungsverläufe zu analysieren, hat die herrschende ökonomische Theorie kaum brauchbare Instrumente entwickelt. Diese Theorie selbst ist ja erst im Rahmengefüge industrieller Marktwirtschaften entstanden, in denen die Ökonomie als Sphäre mit eigener Gesetzlichkeit erscheint. So haben der Industrialismus und die Marktorganisation ganz zwangsläufig den Inhalt und die Methoden der ökonomischen Theorie geprägt. Mit der ökologischen Krise tritt der defizitäre Charakter dieser Form ökonomischer Theoriebildung heute recht offen zu Tage. Die Krise der menschlichen Herrschaft über die Natur manifestiert sich somit auch als Krise tradierter ökonomischer Lehrmeinungen, deren Erklärungskraft dahinschwindend gleich einem Ballon, dem eben der letzte Rest an Luft entzischt. Schon seit einigen Jahren haben die einst so heiß diskutierten ökonomischen Modelle und Handlungskonzepte der beiden konträren Schulen von Neoklassik und Keynesianismus außerhalb universitärer Dispute merklich an Attraktivität und Interesse eingebüßt. Die öffentliche Diskussion um die ökonomische Entwicklungsrichtung der Gesellschaft greift heute immer seltener auf diese Modellierungen zurück, da die tatsächliche Entwicklung durch ganz andere Faktoren bestimmt wird. Dies gilt insbesondere für die Richtung der Neoklassik. Viele Grundelemente der neoklassischen Schule der Wirtschaftswissenschaft, wie invariable Konsumgewohnheiten und unveränderliche Technologie, stehen im offensichtlichen Widerspruch zur Wirklichkeit. Aber auch das konkurrierende Paradigma des englischen Ökonomen J.M. Keynes, das mehr an der Realität als an der Konstruktion lupenreiner Modelle orientiert ist und stärker die Rolle von Veränderungen, Geschmack und Technologie betont, ist in eine tiefe Krise geraten, ganz einfach weil seine Grundvoraussetzung - die Möglichkeit unbegrenzten wirtschaftlichen Wachstums - heute auf unleugbare Grenzen stößt.[63]

Die herrschende Wirtschaftslehre ist ganz in der Erbfolge des dualistischen Denkens von Descartes, dessen Weltbild durch zwei Pole definiert ist: Auf der einen Seite das omnipotente und einsam denkende Selbst, ausgerüstet mit der Macht der Vernunft und der wissenschaftlichen Methode und auf der anderen Seite eine mechanisch gestaltbare Wirklichkeit: die Welt der Natur und der menscherzeugten Objekte, die sich vollständig der Herrschaft des denkenden Selbst zu unterwerfen hat. Dieses Selbst ist im Kern zutiefst patriarchalisch. Sein Leitbild ist der Mann als Jäger und Eroberer, der die Welt verfügbarer Objekte seinem Willen dienstbar macht. In der Ökonomie wird das autonome Selbst schließlich zum Motor des gesellschaftlichen Fortschritts. Die Selbstbehauptung im Konkurrenzkampf, die Eroberung neuer Märkte und das strategische Modell des immer-besser-immer-weiter-immer-mehr ist das Paradigma einer reduktionistischen Ökonomie, in der die Abhängigkeit des Menschen von der natürlichen Welt ausgeblendet wird und wo nur die bezahlte Arbeit als wertschaffend gilt. Über die Kosten der individualistischen Konkurrenzökonomie wird zumeist geschwiegen. Sie müssen von denen getragen werden, die nichts anzubieten haben, was in Geld bezahlt werden könnte, und die dennoch äußerst produktiv sind: die in häuslicher Reproduktion tätigen Frauen, die Menschen in den armen Ländern des Südens und die natürliche Mitwelt. Das traditionelle wirtschaftswissenschaftliche Paradigma geht von einem patriarchischen und kolonialen Verständnis von Werterzeugung und Produktivität aus: nur das geldvermittelte strategische Modell des Marktes gilt als Quelle der Wohlstandserzeugung und -mehrung, während die Reproduktionsarbeit in der Familie als sekundär bewertet wird.

Die Diskussion um eine paradigmatische Neuorientierung ökonomischen Denkens und Handelns speist sich heute aus verschiedenen Quellen. Neben der Debatte der siebziger Jahren um die Grenzen des Wachstums und den Versuchen einer Neu-Orientierung wirtschaftlichen Handelns an den Naturbedingungen aller ökonomischen Aktivitäten, ist es insbesondere die feministische Kritik, die gegen männliche Destruktivität, Beherrschung der Natur und Konkurrenz die Orientierung an immateriellen Werten und die Forderung nach einer weiblichen Ökonomie geltend macht. Kooperation, Beständigkeit, Dauer und Vorsorge für die Mit- und Nachwelt werden dabei als Leitwerte einer Feminisierung der Wirtschaft beschrieben. Die Kritik der männlichen Ökonomie richtet sich vor allem gegen die Ausbeutung der weiblichen produktiven Potentiale in der Hauswirtschaft, insbesondere in den Ländern der Dritten Welt. Mit der Entwicklung der industriell-kapitalistischen Nischenstrategie bildet sich die marktvermittelte Ökonomie als von männlichen Prinzipien dominierte Sphäre des Wirtschaftshandelns heraus, während die häusliche Reproduktion als Nicht-Wirtschaft definiert wird und als Privatsphäre gilt. Aber gerade in diesem Bereich der Reproduktion des Lebens haben sich jene weiblichen Merkmale ökonomischen Handelns herausgebildet, wie Vorsorge und verantwortliche Kooperation, die im schroffen Gegensatz zum Konkurrenzgebaren und zur Destruktivität des männlichen Wirtschaftshandelns stehen.[64]

Neben der aktuellen feministischen Ökonomiekritik hat es in der Geschichte der Wirtschaftswissenschaften seit jeher den Strang einer auf Ethik und Moral rückbezogenen Denkrichtung gegeben, die jedoch minoritär geblieben ist. So hat die historische Schule der Nationalökonomie die Veränderungen der Werthaltungen untersucht, die das wirtschaftliche Verhalten von der Frühzeit über die Antike bis heute bestimmt haben, ohne sich jedoch gegenüber der abstrakten und monetär orientierten Ökonomie durchsetzen zu können. Die herrschende Ökonomie ist einseitig auf marktorientierte und geldvermittelte Handlungsmuster hin ausgerichtet. Mit ihr können daher sogenannte primitive, nicht-marktförmig organisierte Gesellschaften oder die Ökonomie der häuslichen Reproduktion überhaupt nicht sinnvoll analysiert werden, da in diesen Bereichen nicht-marktförmige Erzeugungsstrukturen und Verteilungsprinzipien vorherrschen, die durch das Wertesystem der jeweiligen Gemeinschaften geprägt sind. Die westliche Traditionsökonomie spiegelt daher nicht das Spektrum der gesamten Formenvielfalt ökonomischen Handelns (wie ihre exponierten Vertreter nicht müde werden zu verkünden), sondern repräsentiert - bisweilen überdeutlich, mitunter verzerrt - die gesellschaftlichen Planziele ihrer historisch und aktuell identifizierbaren Urheber. Indem die Hauptrichtung der herrschenden Ökonomie das strategische Markthandeln und das Prinzip individualistischer Konkurrenz zur wirtschaftlichen Handlungskonfiguration par excellence erklärt, bildet sie selbst ein zentrales Verursachungsmoment der menschlichen Naturzerstörung und der Verschärfung sozialer Konflikte in der Gesellschaft. Indem sie die Subjektivität des Menschen durch Präferenzen ersetzt und mit dem Axiom des homo oeconomicus egoistisches Verhaltens zum rationalen Verhaltensmodell an sich erklärt, schafft sie selbst eine Welt, in der die Wirklichkeit zu einem Automaten wird, der allein nach ihrem Regelwerk zu funktionieren hat:

„Dass jeder Mensch in Märkten gewinnen und nicht verlieren will, ist eine Banalität. Das Neue aber war, dass jetzt ausschließlich die egoistische Motivation zählte und dass in ihrem Bilde eine ganze Gesellschaft modelliert werden sollte (...) Was aber, wenn die Wirklichkeit zu genau diesem Automaten wird? Was, wenn aus der Welt zunehmend eine große Maschine wird, die genauso operiert? Das Problem sind nicht die simplifizierten Modelle. Das Problem ist, dass wir Zeugen eines Umbruchs werden, in dem diese Modelle die Wirklichkeit codieren und dadurch selbst wirklich werden.“[65]

Die herrschende Ökonomie forciert die ökologische Krise! Im Unterschied dazu haben die moralökonomischen Lehren der Vergangenheit krisenpräventiv gewirkt. Maria Mies hat beispielsweise sehr anschaulich beschrieben, wie eine alte Form der Ökonomie, die Moral Economy des 18. und frühen 19. Jahrhunderts auf der Grundlage einer Subsistenzethik und basierend auf den Prinzipien gegenseitiger Hilfe, Reziprozität, Großzügigkeit und Gastfreundschaft, sowie sogenannter Patron-Klienten Beziehungen, eine gänzlich andersartige ökonomische Handlungsgestaltung ermöglicht hat. Nach der Ethik der alten Moral Economy musste das Produkt eines Landes so verteilt sein, dass Subsistenzsicherheit für alle garantiert war. In einer solchen Wirtschaft zielte Arbeit nicht auf Gewinnmaximierung, sondern auf Subsistenzsicherung und Selbstversorgung. Die Beziehung zwischen Mensch und Erde/Natur musste in einer solchen Wirtschaft folglich eine pflegliche und ökologische, aber auch eine sozialer Ausgewogenheit sein. So zogen auch die Korn- und Brotaufstände, die bis 1840 in fast jeder Stadt und Grafschaft in England stattfanden - wie auch die Jakobinischen Revolten - ihre Legitimität aus den Werten der Moralischen Ökonomie. Ökonomische Grundlage dieser Ökonomie war vor allem die Dorf-Allmende, auf deren Nutzung die Armen ein ausdrückliches Recht hatten. Die Fundierung dieses ökonomisches Denkens war dabei gar nicht primär außermenschlich und offenbarungstheologisch, sondern gründete sich auf genaue Beobachtung und intime Kenntnis der Selbststeuerungskräfte der Natur: „Die 'Moral' der Moral Economy basierte nicht auf irgendwelchen Geboten oder Verboten einer irdischen oder außerirdischen Autorität, sondern auf der Kenntnis der ökologischen, sozialen und ökonomischen Grenzen einer bestimmten Region, eines Territoriums und der Gemeinden, die dort lebten.”[66]

Während sich ethisch und moralisch fundierte Wirtschaftslehren um eine integrierte Sicht von naturprozesslichen Abläufen und gesellschaftlicher Handlungsgestaltung bemühen, ist das ökonomische Denken des industriellen Kapitalismus in seinen Hauptströmungen durch und durch reduktionistisch und auf eine strikte Trennung des Blickfeldes auf Natur und ökonomische Handlungssphäre gegründet. Dieser Reduktionismus führt zur Produktion nischenstrategischer Handlungsmodelle, die ökologisch destabilisierende und destruktive Wirkungen entfalten, weil der Mensch nicht mehr als Naturwesen und in seiner Integration in den ökologischen Mitwelten gesehen wird. Vandana Shiva[67] hat in ihrer feministischen Kritik der westlichen Wissenschaft darauf hingewiesen, dass traditionelle Glaubenssysteme nur äußerst selten zu ökologische Katastrophen auslösenden, nischenstrategischen Transformationen führen, sich also in den meisten Fällen als brauchbar zur Aufrechterhaltung von Natur und Gesellschaft erweisen. Im Gegensatz dazu sieht sie jedoch in der praktischen Umsetzung des modernen, reduktionistischen wissenschaftlichen Denkens eine massive Bedrohung der lebensstützenden Systeme von Mensch und Natur. Diese Bedrohung wird besonders dann manifest, wenn solche Anwendungen in Subsistenzsystemen geschehen, deren Unterhalt sich zuvor auf selbstregulative Kreisläufe von Nahrungsproduktion und Konsumtion stützte.

Hinter der moralischen Leerstelle der herrschenden Wirtschaftlehre verbirgt sich de facto die Einschleusung einer durch den Bezug auf eine scheinbare wissenschaftliche Objektivität vernebelten, ökologisch und sozial destruktiven Handlungsorientierung. Für eine ökologische Erneuerung sind vom herrschenden Wirtschaftsparadigma keine Impulse zu erwarten, diese kommen eher von den ausgegrenzten Rändern des Faches. Neben der feministischen Kritik an der patriarchalen Markt- und Konkurrenzfixierung gibt es noch einen weiteren Strang ökonomiekritischen Denkens, von dem gleichzeitig starke Impulse für eine Neuorientierung des globalen Wirtschaftshandelns ausgehen: Es ist dies die Rückbeziehung aller Wirtschaftsaktivitäten auf ihre natürliche, stoffliche und energetische Basis, wie sie durch die neue Richtung einer ökologischen oder Bioökonomie verkörpert wird. Wir werden uns im Folgenden hauptsächlich mit den konzeptuellen Entwürfen dieser neuen Richtung auseinandersetzen. Die Analysen der ökologischen Ökonomie beziehen sich auf die stofflichen und energetischen Grundlagen allen Wirtschaftens. Entsprechende Alternativmodelle sind heute insbesondere auf die Begriffe der Vorsorge und Nachhaltigkeit gegründet. Im Unterschied zur herkömmlichen Wirtschaftslehre, die stark durch das mechanische Denken des 19. Jahrhunderts geprägt wurde, und sich den Erkenntnissen der Thermodynamik weitgehend verschlossen hat, stützen sich die konzeptuellen Überlegungen einer am bioökonomischen Paradigma orientierten Wirtschaftsweise wesentlich auf Erkenntnisse der Ökosystemforschung und die Gesetze der Thermodynamik, welche den Verlauf der physikalischen Welt bestimmen. Mit der mechanischen Denkweise in Zusammenhang steht die Vernachlässigung der stofflichen Seite des Wirtschaftsprozesses durch das herrschende ökonomische Paradigma. Die herkömmliche Wirtschaftswissenschaft betrachtet alle wirtschaftlichen Phänomene nur unter monetären Gesichtspunkten und schenkt der Abhängigkeit des Menschen von der Natur keine hinreichende Beachtung. Wenn heute auch zunehmend versucht wird, ökologische Parameter in ökonomische Modelle einzubeziehen, so wird diese Entwicklung doch - wie später noch anhand der Umweltökonomie gezeigt wird - von der Tendenz zur Ökonomisierung aller Dinge geprägt, das heißt von einem Zweck-Mittel-Verfügungsdenken, das den Eigenwert aller nicht-menschlichen Lebensformen auflöst und die Natur zum bloßen Rohmaterial und jederzeit verfügbaren Ausbeutungsobjekt reduziert. Im Gegensatz dazu ist das bioökonomische Paradigma ganzheitlich und entfaltet sich gerade in der Kritik an der abendländischen Tradition der Naturaneignung, soweit sie unter der zentralen Idee der menschlichen Herrschaft über die Natur steht. In praktischer Hinsicht wird auf die Ökologie zurückgegriffen, die jedoch eine gewisse Erweiterung erfährt, um mit ökologischen Methoden und Erkenntnisweisen auch die Naturbedingungen menschlichen Handelns analysieren zu können. Allerdings besteht hier die Gefahr, dass nun ein uferloser Ökologiebegriff generiert wird. Die politische Brisanz der Ökologie liegt auch in dem Bezugsrahmen, den sie liefert, um die Beziehung der Gesellschaft zur Natur als Stoffwechselprozess mit den ökologischen Systemen zu analysieren, ohne dabei die Binnenstruktur der Gesellschaft analytisch auszuklammern. Im neuen Konzept der Tiefenökologie wird der Gesichtskreis später noch um die Ökologie des inneren Raumes, das heißt die geistigen und psychosozialen Dimensionen naturbezogenen Fühlens, Denkens und Handelns erweitert. Wobei hier darauf zu achten ist, dass die ökologische Krise nicht zu einer Krise der Wahrnehmung verdünnt, anstatt sie als Krise der menschlichen Herrschaft über die Natur zu analysieren.

Ein neuralgischer Punkt in der Entwicklung nachhaltiger Wirtschaftskonzepte ist die Bestimmung der Schnittstellen zwischen Ökonomie und Gesellschaft sowie zwischen Gesellschaft und Natur. Hier stellt sich das schwierige Problem, geeignete Kategorien und Maßstäbe zu finden, um die Prozesse in Systemen zu analysieren und ggf. vergleichbar zu machen, die auf unterschiedliche Beobachtungsweisen gründen. Von ökologisch orientierten Ökonomen werden heute oft Energie und Entropie als zentrale Parameter verwendet, um natürliche und gesellschaftliche Prozesse auf eine gemeinsame Ebene zu bringen. Daran anknüpfend werden im Folgenden die historische Entwicklung nachhaltiger Ökonomien und die Strukturen der industriellen Wachstumswirtschaft, ausgehend von den jeweils zugrunde liegenden energetischen Transformationen untersucht. Später wird sich jedoch zeigen, dass diese alternativen Parameter zwar über ein hohes Darstellungs- und Erklärungspotential zum sinnhaften Verständnis komplexer Entwicklungsverläufe verfügen, zugleich jedoch im Hinblick auf die Beurteilung konkreter ökologischer Handlungsalternativen nicht bestreitbare Defizite aufweisen. Diese Schwächen liegen vor allem im Bereich der Nicht-Messbarkeit bzw. oft nicht möglichen Vergleichbarkeit der auf diese Weise untersuchten Phänomene. Obwohl es zum Beispiel als sicher gilt, dass allen materiellen Prozessen energetische Phänomene zugrunde liegen, so ist doch umstritten, ob Materie und Energie auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können. Da allen Phänomenen der manifesten Wirklichkeit energetische Prozesse zugrundeliegen, erscheint es sinnvoll, die jeweiligen Energiebewegungen zum Ausgangspunkt der Betrachtung zu nehmen. Freeman J. Dyson hat festgestellt, dass die Lebensprozesse und das menschliche Handeln in der Biosphäre nicht von den Gesetzen befreit werden können, welche die Energieströme und -transformationen des Kosmos bestimmen. Die Energie selbst, so Dyson, habe eine transzendente Qualität.[68] Auch der Energietheoretiker H.T. Odum sieht alle Phänomene auf der Erde energetisch determiniert. Jeder Prozess könne daher als Energiemanifestation aufgefasst und sogar in Energieeinheiten gemessen werden. Dabei geht er auch noch einen Schritt weiter und erklärt, dass alle kritischen Themen in Politik und Öffentlichkeit letztlich von einer energetischen Basis ausgingen. Deshalb hält er es für irreführend, ökonomische Daten als Substitute für energetische Ströme zu verwenden. Dementsprechend versucht Odum Probleme der Wirtschaft, des Rechts und auch der Religion - durch Analyse der zugrunde liegenden energetischen Ströme - in neuartigen Modellentwürfen auszudrücken. Ein solcher Ansatz sei komplexitätsreduzierend und ermögliche eine leichtere Handhabung durch eine generalisierende Weltsicht. Wir werden später noch einen genaueren Blick auf einige der Odum'schen Modellierungen werfen.

Dem energiereduktionistischen Ansatz soll in dieser Arbeit aber nicht blindlings gefolgt werden. Er ist zwar einerseits von heuristischer Brauchbarkeit, weil er einen hohen Darstellungswert besitzt, wenn auch die Vorteile der Vereinfachung einer hochkomplexen Wirklichkeit die Gefahren des Realitätsverlusts bergen; andererseits aber ist sein Problemlösungswert umstritten, weil, wie bereits angedeutet, der Energiemaßstab zum ersten zahlreiche Vergleichs- und Bewertungsprobleme aufwirft, und zum zweiten, weil in solchen Modellen oft Wertentscheidungen impliziert sind, die in der äußeren Form technischer Lösungen erscheinen und damit einem offenen Diskurs über die impliziten Wertpräferenzen eher blockieren.[69] In ökonomischen Entscheidungsproblemen manifestieren sich Formen gesellschaftlicher Selbstbegegnung sowie die strukturellen Verflechtungen allen menschlichen Lebens mit den ökologischen Lebensräumen. Sie sollten daher letztlich auf den Diskurs und die Authentizität unserer Wahrnehmungen und Lebensgefühle gründen, nicht aber gesellschaftlichen Wertentscheidungen den Nimbus naturwissenschaftlichen Dignitäten gemäßer Rationalität verleihen. Weder die monetäre noch die energetische Ökonomie verfügen als praktische Wissenschaften über solche, den Naturwissenschaften vergleichbare Erkenntnisdaten. Der energetische Ansatz kann in Entscheidungssituationen zwar zusätzliche Bestimmungsmomente von Rationalität liefern, einen neuen generalisierenden Maßstab ökonomischer Rationalität vermag er jedoch nicht bereitzustellen. Energetische Analysen liefern daher für nischenstrategische Entscheidungen wichtige Entscheidungsgesichtspunkte, aber die letztlich moralischen Entscheidungen können auch durch sie den Menschen nicht abgenommen und quasi an die Natur zurückdelegiert werden. Wie Eberhard K. Seifert richtig feststellt, ist die Bedingung für einen naturförmigen Wirtschaftsstil die Unterordnung der ökonomischen Rationalität unter die Kulturfrage, wie wir heute und in Zukunft leben möchten. Entscheidend ist daher die Frage nach den systematischen Bezügen eines naturgemäßen Wirtschaftens und zu welchen kulturellen und ökologischen Imperativen.[70]

Ökonomische Modelle sind nur Konstruktionen über die Wirklichkeit, und alles Konstruierte ist zerbrechlich. Wie wir in Zukunft leben möchten, ist nicht nur eine Frage nüchterner Verstandesabwägung und handlungsleitender Klugheit. Als biologische Wesen sind wir vollständig Teil der natürlichen Mitwelt, über die wir zumeist bloß als Umwelt reden. Der Verstand, die Worte, die Welt der Begriffe und Symbole - sie alle liegen schon außerhalb dessen, was wir im Kontakt mit unserer biologischen Konstitution und der Naturhaftigkeit unserer Mitwelt unmittelbar und direkt erfahren können. Alles rationale Argumentieren ist daher immer schon getrennt vom Ort des ursprünglichen Fühlens. Ein erweiterter Begriff von Rationalität wird daran zu messen sein, inwieweit es uns gelingt, wieder zu unseren ursprünglichsten und innersten Gefühlen und Triebkräften zurückzufinden. Viele Menschen leiden unter den Katastrophenmeldungen über stets neue menschliche Katastrophen und Naturzerstörungen, lassen diesen Schmerz um die Erde jedoch nicht zu und verleugnen ihn. Joanna Macy hat sehr engagiert beschrieben, wie viele Probleme aus der Unterdrückung unserer Reaktionen auf schon eingetretene oder bevorstehende Katastrophen entstehen:

Durch die Weigerung, diese Reaktionen zu erfahren oder sich auch nur einzugestehen, kommt es zu einer tiefen und gefährlichen Spaltung. Es entsteht eine Kluft zwischen Verstandestätigkeit einerseits und unserer intuitiven, emotionalen und biologischen Einbettung in die Matrix andererseits. Diese Spaltung lässt uns passiv einwilligen in die Vorbereitung für unseren eigenen Untergang.”[71]

Joanna Macy ruft dazu auf, unseren Schmerz um die natürliche Mitwelt nicht länger zu verleugnen: Nur wenn ihn zulassen, können wir erfahren, was Mit-Fühlen und Mit-Leiden eigentlich bedeutet. Lassen wir uns auf diese Weise auf die Welt ein, finden wir zur Autorität unseres Wissens und Fühlens wirklich zurück. Gelingt dies, so Macy, dann geschieht etwas mit uns, was alle großen Religionen vermitteln wollen - eine Identifikationsverschiebung vom isolierten Selbst zu etwas unendlich viel Größerem, das wir in Wahrheit sind. Was Alan Watts das hautumschlossene Ego nennt wird heute aus den Angeln gehoben und abgeschält. Andere, erweiterte Auffassungen von Identität und Eigeninteresse treten an seine Stelle; man kann hier von einem ökologischen Selbst sprechen und im Bezug auf dieses Selbst kann Rationalität wieder als das definiert werden, was sie im Kern ist: der Bezug auf das Ganze, nicht aber auf konkurrierende Partikularinteressen ökonomischer oder sonstiger Provenienz. Durch den Bezug auf Natur als Ganzheit und Selbst finden wir zum Konzept der Umsicht und Nachhaltigkeit im Wirtschaftshandeln zurück, denn das Bestreben nach Erhalt und die Sorge um das Vorhandene entspringen unserer gegenseitigen Verbundenheit mit allem Leben. Diese Idee drückt sich bei Joanna Macy in ihrer Übung der Konferenz des Lebens aus: Die anderen Wesen, die mit uns im Gewebe des Lebens existieren, bekommen die Auswirkungen unseres Handelns zu spüren, ohne selbst bei unseren Überlegungen und Plänen ein Stimmrecht zu besitzen. Wir sollten uns daher in andere Lebensformen hineindenken. Daran ist nichts Abwegiges. Dichter und Kinder tun es, so Macy, Schamanen und Naturvölker kennen diese Gabe und auch die Vorlebensgeschichten des Buddha, die Jatakas, berichten, wie das vollendete Mitfühlen des geistig Erwachten aus zahlreichen früheren tierischen Inkarnationen erwuchs. Wenn wir die Geschichte der evolvierenden Erde als unsere eigene erkennen, kann sich unser Zeitbewusstsein entscheidend erweitern. Wir können dann eine starke Verbundenheit mit Vergangenheit und Zukunft empfinden. Aus dieser Einstellung entwickelt sich echte Fürsorge um die natürliche Mitwelt.[72]

Von solch einer erweiterten Rationalität sind wir heute leider weit entfernt. In der Wirtschaft herrscht Das große Fressen zukunftsloser und morbider Wachstumskolosse. Wir halten uns offenbar für die letzte Generation. Wenn die Zukunft gestrichen ist, braucht man sich nicht um das Land zu kümmern, auf dem wir leben. Zu einem erheblichen Teil hat uns das ökonomische Zweck-Mittel-Denken in diese katastrophale Situation hineinmanövriert. Die ökonomische Sicht der Welt, die sich auf das nur seinen eigenen Vorteil suchende ego oeconomicus gründet, hat die Welt fein säuberlich in verschiedene Schichten zerteilt. In der Wirtschaftssphäre herrscht das Wolfgesetz der Individualkonkurrenz und der persönlichen Gewinnmaximierung über alle menschlichen Beziehungsmuster. Wenn von Ethik und Moral gesprochen wird, so weist die ökonomische Logik zumeist jede Verantwortung von sich und deutet schlicht auf die Kompetenz außerökonomischer Sphären, in denen über solches zu entscheiden sei. Die Wirtschaft selbst gehorche hingegen keinen anderen Gesetzen als jenen, welche die Rationalität des Marktes selbst hervorgebracht hat. Und wer diesen keinen Tribut zolle, habe folglich in ökonomischen Daseinskampf des survivel of the fittest keine Überlebenschance. Werfen wir im Folgenden einen genaueren Blick auf diese Bestimmung der Sphäre des Ökonomischen, sowie ihre Abgrenzung von anderen Lebensbereichen, dabei wird sichtbar, wie das herkömmliche und das bioökonomische Paradigma wirtschaftliches Handeln jeweils ganz unterschiedlich definieren.

I. Die Bio-Ökonomie - Die nachhaltige Nischenstrategie des Menschen

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