Читать книгу Das Rätsel von Körper und Geist - Hans Goller - Страница 8

1. Alltagsüberzeugungen und Hirnforschung

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Was wir erleben, ist uns vertraut und rätselhaft zugleich. Über nichts wissen wir direkter Bescheid als über das, was wir persönlich empfinden und fühlen. Wir sind überzeugt, mehr zu sein als unser Körper. Dieses ‘Mehr’ nennen wir ‘Geist’, ‘Ich’, ‘Selbst’ oder ‘Seele’. Jeder von uns ist sowohl Körper als auch Geist. Wir erleben uns einerseits als Körper, umgeben von vielen anderen physischen Objekten, andererseits als Mittelpunkt eines Stromes von Erlebnissen, Gefühlen, Wünschen, Bedürfnissen, Gedanken, Vorstellungen und Fantasien. Zu den körperlichen Phänomenen zählen wir unseren Organismus mit seinem zentralen und peripheren Nervensystem, seinen Stoffwechselvorgängen, seiner Herz- und Kreislauftätigkeit. Zu den seelischen Phänomenen rechnen wir Wahrnehmungen, Empfindungen, Gefühle, Wünsche, Bedürfnisse, Absichten und Gedanken. Wir unterscheiden mit intuitiver Sicherheit zwischen physischen Phänomenen einerseits und psychischen Phänomenen andererseits (vgl. Bieri, 1993, 2). Unsere ‘Innenwelt’, die Welt der Gedanken, Gefühle und Wünsche, unterscheidet sich von der ‘Außenwelt’ der materiellen Dinge. Wir nehmen unseren Körper und die Außenwelt durch unsere Sinne wahr. Menschen und Dinge erfassen wir immer nur durch die Brille unserer Bedürfnisse und Bewertungen. Die Außenwelt ist uns lediglich durch den Filter unserer Wahrnehmungen und Bewertungen zugänglich und damit immer schon erlebte Außenwelt. Der Wiener Psychologieprofessor Hubert Rohracher beschrieb die grundlegende Andersartigkeit dieser beiden Phänomene mit folgenden Worten:

„Psychische Vorgänge haben nichts von den Eigenschaften, die wir an der Materie beobachten; die Freude an einem Kunstwerk besteht nicht aus Atomen und Molekülen, der Gedanke an die Lebensziele, die man sich gesetzt hat, hat keine Masse und kein Gewicht. Andrerseits hat die Materie nichts von den Eigenschaften des Psychischen; die Atome haben kein Bewusstsein, sie können nichts empfinden und wahrnehmen, sie fühlen nichts und sie wollen nichts“ (Rohracher, 1965, 10).

Körperliches und Seelisches prägen unser Erleben. Zur Beschreibung beider Phänomene verwenden wir unterschiedliche Begriffe. Zum Beispiel sagt uns keine noch so präzise Beschreibung eines Erdbebens in rein physikalischen Begriffen etwas darüber, wie die davon Betroffenen diese Naturkatastrophe erleben. Eine physikalische Beschreibung vermittelt uns nichts von der Panik, der Angst, den Befürchtungen und Hoffnungen dieser Menschen. Die physikalische Sprache beschreibt lediglich Körper in Bewegung. Das gesamte seelische Leben berücksichtigt sie nicht. Die physikalische und die psychische Beschreibung handeln jeweils von einem ganz anderen Thema (vgl. Brüntrup, 1996, 9).

Wir leben nicht in einer unproblematischen Einheit von Körper und Geist. Die persönliche Erfahrung zeigt uns eine Kluft zwischen dem Seelischen und dem Körperlichen. Einerseits sind wir fähig, vernünftige Entscheidungen zu treffen, unsere Zukunft zu planen und unser Verhalten zu steuern. Andererseits erleben wir, dass uns Dinge widerfahren, die wir nicht gewollt haben, wie beispielsweise Emotionen, gegen die wir uns kaum zu wehren vermögen, Stimmungen, die wir nicht willentlich ändern können, oder Gewohnheiten, die wir nicht bemerken. Manchmal mündet diese widersprüchliche Erfahrung in den Ausruf: Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach.

Im Alltag sind wir davon überzeugt, dass das Seelische und das Körperliche nicht beziehungslos nebeneinander vorkommen. Erklärungen wie die folgenden sind uns allzu vertraut: „Warum hat er die Tür zugeknallt? – Weil er wütend ist.“ Seelische Zustände verursachen körperliche Reaktionen. Und umgekehrt: „Warum bist du so blass? – Weil ich Magenschmerzen habe.“ Körperliche Zustände verursachen bewusstes Erleben. Körperliche und seelische Zustände wirken aufeinander ein. Seelische Zustände verursachen unser Verhalten und Handeln, und körperliche Zustände verursachen unsere bewussten Erlebnisse. Über diese wechselseitige kausale Beziehung zerbrechen wir uns im Alltag ebenso wenig den Kopf wie darüber, dass seelische Phänomene etwas anderes sind als materielle Phänomene. Beides scheint uns zu evident (vgl. Tetens, 1994, 10). Im Alltag vertreten wir ganz unbekümmert einen psychophysischen Dualismus und glauben an die kausale Macht des Seelischen. Wir unterscheiden zwischen freiwilligen und unfreiwilligen Handlungen und machen Menschen für das, was sie tun, verantwortlich. Die Idee der Willensfreiheit ist eine selbstverständliche Grundlage unseres Zusammenlebens und unserer Rechtsordnung. Eine moralische Bewertung unserer Handlungen wäre ohne sie undenkbar, ebenso wenig wie die Zuschreibung von Verantwortung für unser Handeln und dessen Folgen (vgl. Hermann, 1996; Prinz, 1996).

Die moderne Hirnforschung stellt das friedliche Nebeneinander unserer beiden Alltagsüberzeugungen, der Dualismusthese und der Wechselwirkungsannahme, in Frage. Sie geht davon aus, dass unser Erleben und Verhalten vom Gehirn und seinen Funktionen abhängen. Ohne funktionierendes Gehirn erleben wir nichts. Unser Denken, Fühlen und Wollen ist an die materielle Grundlage des Gehirns gebunden. Damit hat auch alles, was je über Seele, Materie und Bewusstsein gedacht und geschrieben wurde, seinen Ursprung in Gehirnvorgängen (vgl. Rohracher, 1965, 16). Das Erleben der eigenen Identität und die Einheit des Ich sind auch vom Gehirn abhängig. Zwar ist unsere Ich-Identität eng mit der Einheit unseres Körpers verknüpft, aber dieser verändert sich im Laufe des Lebens stark und seine materiellen Zustände wechseln. Unsere Erlebnisse sind oft mannigfaltig, unsere Aufmerksamkeit ist häufig geteilt und nicht selten erleben wir widersprüchliche Bedürfnisse. Trotzdem erleben wir uns als eine Person. Wir sind überzeugt, ein Leben lang mit uns selbst identisch zu bleiben. Es ist bisher keine bestimmte Hirnregion identifiziert worden, der man dieses Erleben zuordnen könnte. Unter den vielen Neuronen unseres Gehirns – Schätzungen schwanken zwischen 100 Milliarden und einer Billion – gibt es auch keine ‘pontifikale’ Zelle, die für das Identitätserleben zuständig wäre. Vielmehr muss das gesamte Gehirn hoch aktiv sein, um dieses Bewusstseinsphänomen zu ermöglichen (vgl. Breidbach, 1993, 84; Popper und Eccles, 1982, 156). Das Gehirn ist der Träger aller uns bekannten Verhaltensleistungen und Bewusstseinsvorgänge. Man kann sagen, das Gehirn ist unser intimstes Organ. Jedenfalls ist es das rätselhafteste aller menschlichen Organe. Wenn es uns gelingt, das Gehirn besser zu verstehen, dann werden wir auch uns selbst besser verstehen. Deshalb ist das Gehirn der wohl interessanteste Forschungsgegenstand für die Wissenschaft. Wir möchten nicht nur die Natur um uns, sondern auch in uns verstehen. Forschen, Erkennen und Verstehen sind dabei selbst auf das Gehirn als Erkenntnisorgan angewiesen (vgl. Linke, 1999, 7; Pöppel und Edingshaus, 1994, 7).

Die Hirnforschung versucht, unser Erleben und Verhalten als Ergebnis der Aktivität der Nervenzellen zu begreifen. Ihre Forschungsergebnisse belegen, dass es einen engen Zusammenhang zwischen mentalen Prozessen und Gehirnprozessen gibt. Mit neuartigen Untersuchungsmethoden, den so genannten bildgebenden Verfahren, kann sie feststellen, welche Prozesse wo im Gehirn ablaufen, wenn eine Person geistig tätig ist, zum Beispiel wenn sie einen Gegenstand ansieht, etwas liest, sich etwas vorstellt oder über etwas spricht. Diese Verfahren erlauben einen Einblick in das arbeitende Gehirn. Untersuchungen mit Hilfe dieser Methoden zeigen, dass diejenigen Prozesse im Gehirn, die kognitiv besonders anspruchsvoll und von Bewusstsein begleitet sind, dort stets erhöhte Hirndurchblutung, Stoffwechselaktivität und neuroelektrische Aktivität aufweisen. „Gehirn und Geist hängen nach diesen Forschungsresultaten eng zusammen; wie weit man diesen Zusammenhang nachweisen kann, das hängt vom Stand des räumlichen und zeitlichen Auflösungsvermögens der derzeitig anwendbaren Registriermethoden ab“ (Roth und Schwegler, 1995, 71). Das Gehirn führt eine Unmenge von Aufgaben durch, doch nur ein sehr kleiner Teil seiner Aktivität geht mit Bewusstsein einher. Die meisten Gehirnprozesse – man schätzt 99% – laufen unbewusst ab. Verhalten und Erleben sind nur möglich, wenn unser Gehirn funktioniert. Allerdings hat bisher kein Mensch auch nur die leiseste Ahnung davon, wie aus Gehirnaktivität Bewusstsein entsteht. Wie entstehen aus neuronalen Aktivitätsmustern zum Beispiel Wahrnehmungserlebnisse wie Sehen, Hören, Tasten und Riechen? Wie ergibt sich aus der Vielfalt der Hirnereignisse eine einheitliche bewusste Erfahrung? Wir erleben eine außerordentlich vielfältige Welt der Farben, Formen, Klänge und Gerüche, und nicht eine Welt der Neuronenaktivität. Die Hirnforschung kann die organische Grundlage der Bewusstseinszustände erforschen, jedoch nicht die Bewusstseinszustände selbst. Sie kann prinzipiell nicht mehr leisten, als mentale Phänomene mit Gehirnprozessen zu korrelieren.

Bewusstsein ist das größte Rätsel für die Wissenschaft. Es ist das stärkste Hindernis bei der Entwicklung einer wissenschaftlichen Gesamttheorie des Universums. Das bewusste Erleben ist uns vertraut und rätselhaft zugleich. Wir kennen es viel intensiver und direkter als den Rest der Welt. Nichts ist für uns realer als das Bewusstsein, doch den Rest der Welt verstehen wir viel besser. Bewusstsein lässt sich nur äußerst schwer mit allem, was wir sonst wissen, in Einklang bringen. Wir tappen völlig im Dunkeln darüber, wie Bewusstsein sich in die natürliche Ordnung fügt.

Das Problem des Bewusstseins liegt an der Grenze zwischen Neurowissenschaften und Philosophie. Es entzieht sich dem Zugriff durch die gängigen wissenschaftlichen Methoden (vgl. Chalmers, 1996 a, XI ff.). Warum gibt es überhaupt bewusstes Erleben? Was tut es? Wie kann es aus einem Haufen grauer Hirnzellen hervorgehen? Solche Fragen gehören seit jeher zu den großen Rätseln menschlichen Forschens und Denkens (vgl. Chalmers, 1996 b, 40). Die Neurowissenschaften sind trotz reger Forschungstätigkeit bezüglich der Frage des bewussten Erlebens praktisch nicht vorangekommen. Obwohl dieses Problem seit der Antike bekannt ist, wird es in den aktuellen wissenschaftlichen Diskussionen häufig negiert oder missverstanden. Es handelt sich um das so genannte „schwierige Problem des Bewusstseins“ (vgl. Chalmers, 1995; Windmann und Durstewitz, 2000, 75). Was am bewussten Erleben entzieht sich so hartnäckig dem wissenschaftlichen Zugriff? Nach Chalmers lassen die meisten Veröffentlichungen über Bewusstsein in den letzten Jahren das „schwierige Problem des Bewusstseins“ unberührt. Zum Beispiel die Frage: Warum wird die Verarbeitung von Informationen im Gehirn von bewusstem Erleben begleitet? Es scheint äußerst rätselhaft, dass die Verursachung des Verhaltens mit einem inneren Erleben einhergeht. Warum ist das Verstehen des Bewusstseins so schwierig? Nach Chalmers berühren die Neurowissenschaften und die Kognitionswissenschaften, die uns Informationen und Wissen über das Gehirn zur Verfügung stellen, das „schwierige Problem des Bewusstseins“ überhaupt nicht (vgl. Chalmers, 1996 a, XI).

Das Rätsel von Körper und Geist

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