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2. Die Formulierung einer hermeneutica sacra in der Zeit der altprotestantischen Orthodoxie
ОглавлениеIm Verlauf des Jahrhunderts nach der Reformation, spätestens in der Epoche der lutherischen Hochorthodoxie – verbunden u.a. mit den Namen Johann Gerhard (1582–1637), Abraham Calov (1612–1686) oder Johann Andreas Quenstedt (1617–1688) –, kam es einerseits zu einer detailliert ausgebauten Lehre von der Heiligen Schrift; sie hatte zum Ziel, die formale Autorität der Bibel abzusichern: Man sprach den kanonischen Büchern spezielle Eigenschaften zu, wie Autorität (auctoritas), Vollkommenheit (sufficientia, perfectio), Deutlichkeit (perspicuitas, claritas) und vor allem Wirkkraft (efficacia); im Zusammenhang damit stand die Denkfigur der Inspiration der biblischen Schriften bzw. Verfasser durch den Heiligen Geist.22
Andererseits entwickelte man eine spezifische biblische Verstehenslehre, eine Art hermeneutica sacra. So verwendet Matthias Flacius Illyricus (1520–1575), der noch zur Generation unmittelbar nach Luther gehörte, in seinem 1567 veröffentlichten Werk Clavis scripturae sacrae das hermeneutische Prinzip der analogia fidei als Forderung einer Schriftauslegung in „Kongruenz und Konsonanz mit dem Glauben“, das heißt in Übereinstimmung mit der „katechetischen Schriftsumme oder den Glaubensartikeln.“23
Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass schon wenige Jahrzehnte nach Luthers Tod ein unabgesichertes Schriftprinzip als nicht ausreichend empfunden wurde:
„In der Lehre von der analogia fidei verliert die Schrift bereits in der zweiten Reformatoren-generation die ihr durch das ,sola-scriptura‘-Prinzip zugewiesene Funktion des kritischen Maßstabs gegenüber Dogmatik und Tradition. […] Die dogmatische Fessel erlaubt es der Exegese nicht, nach ihren eigenen Prinzipien und mit eigenem Instrumentarium vorzugehen. […] so bleibt die Schriftauslegung hinter dem ihr bereits Möglichen zurück.“24
Das flacianische Denkmodell der analogia fidei machte durchaus Schule: „Es erlangte einen festen Platz in der kirchlichen Hermeneutik der folgenden Jahrhunderte.“25