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V. Zusammenfassung

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B.1. Aus der programmatischen Konzentration der Theologie auf die Heilige Schrift, die mit der Reformation einsetzte, entstand in den folgenden Jahrhunderten das Bemühen, die biblischen Aussagen in ihrer Unterschiedlichkeit wahrzunehmen, d.h. ihre Verwendung als bloße dicta probantia für dogmatische Positionen zu transformieren in Richtung einer eigenständigen Exegese; erst deren Ergebnisse sollten der Dogmatik eine biblisch verantwortete Basis liefern.

B.2. Die dadurch wurzelhaft angelegte Doppelgesichtigkeit der neu entstehenden Biblischen Theologie (Johann Philipp Gabler) beförderte im ausgehenden 18. Jahrhundert einerseits durchaus folgerichtig die Entstehung der alttestamentlichen und neutestamentlichen Exegese als eigenständiger Disziplinen im Bereich der wissenschaftlichen Theologie; andererseits sorgte die zunehmende Emanzipation der Exegese von dogmatischer Bevormundung dafür, dass die Mannigfaltigkeit biblischer Aussagen in einer bisher nie gekannten Weise in den Mittelpunkt der Forschung rückte, was zu einer Diastase von Exegese und Dogmatik führte.

B.3. Das Phänomen des biblischen Kanons geriet unter den Verdacht, von Beginn an Produkt kirchlicher, das heißt dogmatischer Vorgaben zu sein, das im Rahmen neutraler wissenschaftlicher Schriftauslegung keine pauschale Gültigkeit mehr haben dürfe (Johann Salomo Semler). Bedeutende Stimmen fordern eine Umgestaltung neutestamentlicher Schriftauslegung und Theologie hin zu einem beschreibenden religionsgeschichtlichen Vorgehen, das sich grundsätzlich keiner kirchlichen Bindung verpflichtet weiß (William Wrede).

B.4. Die Dekonstruktion des biblischen Kanons (Dekanonisierung) sollte für zwei Jahrhunderte zum Programm wissenschaftlicher Schriftauslegung im Bereich des Alten und Neuen Testaments werden. Damit verbunden geriet die Frage nach einer möglichen Einheit des Alten und des Neuen Testaments wie auch der ganzen Bibel nicht nur aus dem Blick, vielmehr galt es als unwissenschaftlich und historischem Bewusstsein unangemessen, diese Frage ernsthaft zu stellen. Damit aber wurde es zunehmend unmöglich, biblische Aussagen unter dem Gesichtspunkt ihrer Normativität für die Auslegungsgemeinschaft Kirche zu betrachten.

B.5. In der Mitte des vergangenen Jahrhunderts markiert eine neu einsetzende Debatte um den biblischen Kanon (Ernst Käsemann) einen Wendepunkt; während sich die evangelische Schriftauslegung zunehmend darüber klar wird, dass sich eine Fortführung reformatorischer Positionen nur auf Teile speziell des neutestamentlichen Kanons berufen kann (Wolfgang Schrage, Siegfried Schulz), entsteht im Bereich römisch-katholischer Theologie ein neues Bewusstsein für die Herausforderung, den Kanon in seiner Gesamtheit ernst zu nehmen (Heinz Schürmann).

B.6. Neben Entwürfen, die im Rahmen eines religionsgeschichtlichen Vorgehens bewusst an das Programm der Dekanonisierung anknüpfen (Rainer Albertz, Heikki Räisänen), stehen bedeutende Neuansätze im Bereich der Biblischen Theologie, die eine reflektierte Neuorientierung am Konzept des Kanons darstellen und dabei das Wagnis eingehen, die Frage nach der Einheit des biblischen Zeugnisses zu stellen (Hans Hübner, Peter Stuhlmacher).

B.7. Die im Bereich der US-amerikanischen Exegese angestoßene kanonische Schriftauslegung (Brevard Childs) kann insofern als programmatisch gelten, als sie die Frage nach der hermeneutischen Bedeutung von Kirche als Glaubensgemeinschaft neu auf die Agende der wissenschaftlichen Exegese gesetzt hat.

B.8. Auch innerhalb der deutschsprachigen exegetischen Wissenschaft wächst das Bewusstsein dafür, dass – trotz der Unhintergehbarkeit wichtiger Erkenntnisse der historisch-kritischen Schriftauslegung (Selbständigkeit der Exegese, Besonderheiten des Alten und Neuen Testaments, historische Genese des Kanons) – der biblische Kanon die bleibende Grundlage der christlichen Kirche als Auslegungsgemeinschaft der Heiligen Schrift bildet. Dabei geht es um dessen Bedeutung für die Identität des Christentums als Gemeinschaft (Jens Schröter), die trotz ihrer deutlich erkennbaren Pluralität (Christoph Markschies) auch unüberschreitbare Grenzen aufweist (Gerd Theißen). Darüber hinaus kann die Forschung heute zeigen, dass die Thesen ursprünglicher oder sekundärer Kanonizität der neutestamentlichen Schriften sich genau betrachtet nicht ausschließen (Gerd Theißen).

B.9. Im Blick auf die Zukunft der wissenschaftlichen Schriftauslegung geht es im Rahmen einer Diskussion der Bedeutung des biblischen Kanons um nichts weniger als die Frage, inwiefern die exegetischen Disziplinen der Auslegungsgemeinschaft der Kirche bleibend verpflichtet sind oder nicht (Oda Wischmeyer).

33 ROCHUS LEONHARDT, Reformatorisches Schriftprinzip und gegenwärtige Bibelauslegung, 301.

34 ebd.

35 vgl. EVE-MARIE BECKER U. STEFAN SCHOLZ, Kanon in Konstruktion und Dekonstruktion, sowie dort (623ff) den Beitrag von ODA WISCHMEYER, Kanon und Hermeneutik in Zeiten der Dekonstruktion, dessen erster Abschnitt die Überschrift trägt: „Kanonisierung – Hermeneutik – Dekanonisierung“.

36 so HERMANN VON LIPS, Der neutestamentliche Kanon, 167.

37 ebd., 168.

38 ebd., 177.

39 in: GEORG STRECKER, Das Problem der Theologie des Neuen Testaments, 32ff.

40 so JÖRG FREY, Zum Problem der Aufgabe und Durchführung einer Theologie des Neuen Testaments, 23.

41 ebd., 21 (Hervorh. i. O.).

42 JOHANN PHILIPP GABLER, Von der richtigen Unterscheidung, 41.

43 ebd., 43.

44 JÖRG FREY, Zum Problem der Aufgabe und Durchführung einer Theologie des Neuen Testaments, 24.

45 ROCHUS LEONHARDT, Wie viel Exegese braucht die Dogmatik?, 268f.

46 GEORG STEINS, Die Bibel als „Ein Buch“ lesen, 70 (Hervorh. i. O.).

47 WILLIAM WREDE, Über Aufgabe und Methode der sogenannten Neutestamentlichen Theologie, 83.

48 ebd., 89f.

49 ebd., 85 (Hervorh. i. O.).

50 ebd., 86 (Hervorh. i. O.).

51 ebd., 153f.

52 vgl. RAINER ALBERTZ, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit, Bde. 1+2, Göttingen 1996 oder MICHAEL TILLY u. WOLFGANG ZWICKEL, Religionsgeschichte Israels. Von der Vorzeit bis zu den Anfängen des Christentums, Darmstadt 2011.

53 vgl. HEIKKI RÄISÄNEN, Neutestamentliche Theologie? Eine religionswissenschaftliche Alternative, Stuttgart 2000 oder KLAUS BERGER, Theologiegeschichte des Urchristentums. Theologie des Neuen Testaments, 2. Aufl., Tübingen u. Basel 1995.

54 JENS SCHRÖTER, Religionsgeschichte des Urchristentums statt Theologie des Neuen Testaments?, 6f; er bezieht sich auf die Werke JOACHIM GNILKAS (Theologie des Neuen Testaments), GEORG STRECKERS (Theologie des Neuen Testaments) sowie KLAUS BERGERS (vgl. Fußnote 53) und schreibt: „Wenn ,Theologie des Neuen Testaments‘ bei Berger im Untertitel doch wieder auftaucht, dann soll damit zum Ausdruck gebracht werden: Eine Theologie des Neuen Testaments lässt sich nur als Theologiegeschichte des Urchristentums angemessen konzipieren.“

55 ebd., 7.

56 Zu nennen wären u.a. PETER STUHLMACHER, Biblische Theologie des Neuen Testaments, ULRICH WILCKENS, Theologie des Neuen Testaments sowie FERDINAND HAHN, Theologie des Neuen Testaments.

57 ERNST KÄSEMANN, Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche?; in: DERS., Exegetische Versuche und Besinnungen I, Göttingen 1960, 214–223.

58 ebd., 221.

59 ebd., 218.

60 ebd., 221.

61 ebd., 223.

62 ERNST KÄSEMANN, Das Neue Testament als Kanon, 403ff.

63 „was Christum treibet“, gilt nach Luther als sprichwörtliche Summe des Evangeliums – so heißt es in seiner Vorrede zum Jakobus-Brief: „Auch ist das der rechte Prüfstein, alle Bücher zu tadeln, wenn man siehet, ob sie Christum treiben oder nicht, […]“; in: LUTHERS VORREDEN ZUR BIBEL, 216.

64 ERNST KÄSEMANN, Das Neue Testament als Kanon, 406f.

65 WOLFGANG SCHRAGE, Die Frage nach der Mitte und dem Kanon im Kanon des Neuen Testaments, 442 (Hervorh. Verf.).

66 ebd., 441.

67 SIEGFRIED SCHULZ, Die Mitte der Schrift, 422 (Hervorh. i. O.).

68 ebd., 429ff (Hervorh. Verf.).

69 HEINZ SCHÜRMANN, Auf der Suche nach dem „Evangelisch-Katholischen“, 364ff (Hervorh. Verf.).

70 ebd., 368.

71 JÖRG FREY, Zum Problem der Aufgabe und Durchführung einer Theologie des Neuen Testaments, 13f.16 (Hervorh. i. O.).

72 HANS HÜBNER, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bde. I–III, Göttingen 1990ff.

73 HANS HÜBNER, Warum biblische Theologie?; in: Biblische Theologie. Entwürfe der Gegenwart, 9–39.

74 ebd., 20f.

75 Wichtig für HÜBNER (ebd., 27) ist die Erkenntnis, dass das AT durch seine spezifische Rezeption im NT eine Veränderung erfährt: „Wir stehen hier vor dem unbestreitbaren Tatbestand, dass die jüdisch gelesene und die christlich gelesene Heilige Schrift in ihrem jeweiligen Rezeptionssinn in einem ungeheuer großen Ausmaß divergieren.“

76 ebd., 33.

77 ebd., 37ff (Hervorh. i. O.).

78 PETER STUHLMACHER, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. I+II, Göttingen 1992 u. 1999; vgl. Bd. II, 302ff.

79 DERS., Der Kanon und seine Auslegung, 264; ebd.: „Wenn der Evangelischen Kirche Kraft und Wille fehlen, den reformatorischen Grundsatz sola Scriptura durchzuhalten, hat sie gegenüber dem römischen Katholizismus […] kein Existenzrecht mehr. Die Frage nach der Wertschätzung der Heiligen Schrift und der ihr angemessenen Auslegung ist zur Überlebensfrage des Protestantismus geworden“ (Hervorh. i. O.).

80 DERS., Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. II, 303.

81 DERS., Vom Verstehen des Neuen Testaments, 222 (Hervorh. i. O.).

82 ebd., 8.

83 ebd., 240ff.

84 ebd., 248f.

85 DERS., Der Kanon und seine Auslegung, 287.

86 DERS., Vom Verstehen des Neuen Testaments, 249; vgl. dazu die durch Stuhlmacher weiter explizierte Mitte der Schrift in: DERS., Biblische Theologie II, 320f.

87 DERS., Der Kanon und seine Auslegung, 287 (Hervorh. i. O.).

88 DERS., Vom Verstehen des Neuen Testaments, 250.

89 BREVARD S. CHILDS, Biblical Theology in Crisis, Louisville 1970.

90 DERS., Introduction to the Old Testament as Scripture, London u. Philadelphia 1979.

91 DERS., Biblical Theology of the Old and New Testaments: Theological Reflection on the Christian Bible, London u. Philadelphia 1993.

92 DERS., Die Theologie der einen Bibel, Bd. I: Grundstrukturen, Bd. II: Hauptthemen, Freiburg u.a., 1994 u. 1996.

93 DERS., Biblische Theologie und christlicher Kanon, 13f (Hervorh. i. O.).

94 ebd., 14.

95 DERS., Die Theologie der einen Bibel I, 16.

96 ebd., 6 u. 9.

97 ebd., 26.

98 ebd., 91 (Hervorh. i. O.).

99 DERS., Die Theologie der einen Bibel II, 9ff.

100 JENS SCHRÖTER, Die Bedeutung des Kanons für eine Theologie des Neuen Testaments, 363 (Hervorh. i. O.).

101 ebd., 358.

102 ebd., 366f.

103 ebd., 372.

104 DERS., Religionsgeschichte des Urchristentums statt Theologie des Neuen Testaments?, 9.

105 ebd., 10.

106 ebd., 10f.

107 vgl. JAN ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, 125–129.

108 JENS SCHRÖTER, Religionsgeschichte des Urchristentums statt Theologie des Neuen Testaments?, 11f.

109 ebd., 13f.

110 ebd., 15.

111 GERD THEIßEN, Wie wurden urchristliche Texte zur Heiligen Schrift? Kanonizität als literaturgeschichtliches Problem, 446 (Hervorh. i. O.).

112 vgl. Fußnote 49.

113 GERD THEIßEN, Wie wurden urchristliche Texte zur Heiligen Schrift? Kanonizität als literaturgeschichtliches Problem, 445f.

114 ebd., 424f.

115 ebd., 430.

116 ebd., 431 u. 437: „Kanonsignale, durch die sich das NT intentional auf das AT bezieht“.

117 ebd.: „Kanonsignale, die dem Anspruch des AT entsprechen oder ihn überbieten.“

118 ebd., 436.

119 ebd., 440.

120 ebd., 445.

121 GERD THEIßEN, Die Entstehung des Neuen Testaments als literaturgeschichtliches Problem, 36.

122 vgl. Fußnote 49.

123 ebd., 285 u. 309.

124 ebd., 311 (Hervorh. Verf.).

125 ebd., 312ff (Hervorh. i. O.).

126 ebd., 316.

127 ODA WISCHMEYER, Kanon und Hermeneutik in Zeiten der Dekonstruktion, 626; bezeichnenderweise heißt es ebd. mit Verweis auf die römisch-katholische Exegese: „Hier wird weiterhin das kirchliche Kanonverständnis vorausgesetzt, das die allgemeinen Dekanonisierungstendenzen […] unberücksichtigt lässt.“

128 ebd., 659 u. 667 (Hervorh. i. O.).

129 ebd., 672 (Hervorh. i. O.).

130 vgl. JAN ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, 16f.

131 CHRISTOPH MARKSCHIES, Kaiserzeitliche christliche Theologie und ihre Institutionen, 375.

132 ebd., 378.

133 ebd., 380ff.

134 ebd., 382 (Hervorh. i. O.).

135 ebd., 382f.

Kanon und Auslegungsgemeinschaft

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