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1. LEIBNIZ:
ALLGEMEINE CHARAKTERISTIK UND PHILOSOPHISCHE AUSGANGSLAGE 1. Leibniz als philosophischer Typus

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Am 14. November 1716 starb einsam in Hannover der siebzigjährige Reichsfreiherr Gottfried Wilhelm Leibniz. Kaum jemand beachtete seinen Tod, einzig sein Sekretär begleitete den Sarg zur Grablegung. Und doch war Leibniz ein geheimer Mittelpunkt der geistigen Welt seiner Zeit gewesen, hatte mit allen Großen jener Tage inhaltsvolle Briefe gewechselt, hatte die gewiß wichtigste Erfindung des Jahrhunderts gemacht, nämlich die Infinitesimalrechnung entwickelt.1 Mehr noch: Er war Diplomat im Dienste des Erzbischofs von Mainz und dann Hofrat im Dienste des Kurfürsten von Hannover gewesen, dessen Ansprüche auf den englischen Thron er mit Erfolg in ausführlichen Rechtsgutachten begründet hatte;2 die Nachfahren jenes Georg Ludwig, der 1714 als Georg I. König von England wurde, residieren noch heute im Buckingham Palast. Weiter: Die Gründung der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin ging auf Leibniz’ Initiative zurück, er war ihr erster Präsident; als Berater Peters des Großen von Rußland und des deutschen Kaisers in Wien regte er auch die Bildung der Akademien in Petersburg und Wien an. Schon als junger Gelehrter war er, noch nicht dreißigjährig, zum Mitglied der Royal Society in London ernannt worden.

Ein von Ehren und Wirkung erfülltes Leben hat er also geführt, nicht nur als Philosoph und Forscher in der Studierstube, sondern mitten hineingestellt in das öffentliche Leben seiner Zeit, als juristischer und politischer Ratgeber von Fürsten und Kaisern, als Organisator des wissenschaftlichen Lebens, aber auch als Ingenieur, der seine physikalischen Forschungen zum technischen Nutzen der frühen Industrie verwandte; jahrelang hat er sich um Verbesserungen des Bergbaus im Harz bemüht, mit dem Ziel, menschliche Arbeit durch maschinelle zu ersetzen und so eine Steigerung der Förderungsleistungen zu erreichen. Auf vielen Gebieten der Technik gibt es Verbesserungsvorschläge von ihm. Der technische Fortschritt war ihm aber nicht, wie so manchen Erfindern, ein Selbstzweck, geboren aus Freude an der Vervollkommnung der Mittel, sondern sollte nach seinem Willen im Dienste des Wohles der Menschen stehen. Technik und Wissenschaft erkannte er als eine Einheit mit dem Sinn, die Existenzbedingungen zu erleichtern, das Leben lebenswerter zu machen und die Menschen auf eine höhere Stufe der Bildung zu heben. Sein Geist war immer universell auf das Ganze gerichtet, und im Mittelpunkt des Ganzen sah er den Menschen. Auch der Staat repräsentierte für ihn nur das Ganze, insofern er das Glück seiner Bürger zu sichern unternahm.

Die Universalität des Philosophen, des Gelehrten, des Technikers, Politikers, Juristen Leibniz hat der Philosoph Ludwig Feuerbach in seiner Darstellung, Entwicklung und Kritik der Leibnizschen Philosophie (1837) beredt beschrieben:

„Er hatte einen schlechthin unbeschränkten Sinn und Trieb, eine Neigung zu allen Wissenschaften … Die Frucht dieses seines viel- oder vielmehr allseitigen Studiums, das er ‚stets lernbegierig‘, sein ganzes Leben ununterbrochen hindurch, als ein wahres perpetuum mobile, mit rastloser Tätigkeit fortsetzte, war seine immense, überall gegenwärtige, bewunderungswürdige Polyhistorie – bewundernswürdig nicht sowohl der Größe ihres Umfangs nach als vielmehr ihrer Qualität wegen, denn es war nicht die Vielwisserei des toten Gedächtniskrämers, sondern eine geniale, produktive Polyhistorie. Sein Kopf war kein Herbarium; seine Kenntnisse waren Gedanken, waren fruchtbare Zeugungsstoffe … Alles in ihm war Geist und Leben, seine Konsumtionskraft Produktionskraft. Er umfaßte nicht nur die verschiedensten, ja, entgegengesetztesten Zweige des Wissens, sondern auch die verschiedensten Eigenschaften und Anlagen, auf denen sie allein sprossen und Früchte tragen. Alle Geistesgaben, die gewöhnlich nur geteilt sich finden, konzentrierten sich in ihm: die Eigenschaften des abstrakten und praktischen Mathematikers, des Poeten und des Philosophen, des Historikers und Erfinders – ein Gedächtnis, das ihn der Mühe enthob, das, was er einmal aufgeschrieben, je wieder nachzulesen, das mikroskopische Auge des Botanikers und Anatomen und der freie Überblick des generalisierenden Systematikers, die Passivität und Rezeptivität des Gelehrten und die Sprödigkeit und Kühnheit des Autodidakten und selbständigen, auf den Grund dringenden Forschers.“3

Den neueren Forschern ist die enzyklopädische Weite des Leibnizschen Wissens und Denkens fremd geworden. Die einen spezialisieren sich nur noch auf besondere Aspekte seines Denkens, die Logik oder die Metaphysik, die Mathematik oder die Jurisprudenz, die anderen können darin nur noch die Unübersehbarkeit und Zersplitterung eines barocken Denkstils erkennen; er bleibt ihnen unverständlich, „weil Leibniz als Mensch des Barock in Vielheiten, in Mannigfaltigkeiten zu leben und zu denken gewohnt war … Das Werk Leibnizens ist ein Mosaik gewaltigsten Ausmaßes, überall zwar unvollendet, aber in seinen einzelnen Zügen doch gut erkennbar … So sehen wir in Leibniz einen Vertreter des Vielheitsstils, in der besonderen Ausprägung der Betonung des Unendlichen, des Ausgleichs, der Verhaftung der Teile untereinander, des Ausschöpfens eines Universums“.4

Für Karl Schlechta stellte sich hingegen das „Barock“ der Denkergestalt Leibniz nicht als Mosaik disparater Elemente dar, sondern als die große Fähigkeit zur Synthese „im gleichen Umfange und mit demselben Reichtum aller Erscheinungsformen, wie sich uns etwa die attische Philosophie im Stagiriten (d. i. Aristoteles), die Scholastik in Thomas von Aquin vergegenwärtigt. Eine solche Fülle und Genialität des Wissens war seit Aristoteles nicht mehr in einem einzigen Kopfe vereinigt“.5

Schlechta folgte damit dem Leibniz-Bild Dietrich Mahnkes, der Leibniz als den „Typus des harmonischen Synthetikers“ gekennzeichnet hatte.6 Er sah die alle metaphysischen Synthesen übergreifende synthetische Leistung von Leibniz darin, daß dieser nicht nur einen theoretischen Standpunkt einnimmt, von dem aus er (wie Hegel7) alle anderen Standpunkte unter sich subsumieren kann, sondern gleichsam in einer „(Meta-)Theorie der Theorien“ die relative Wahrheit jedes Standpunkts, ja sogar noch den Wahrheitsgehalt, der ihm zukommt, anzugeben vermag.

„Er stellt sich nämlich die Aufgabe, die subjektiven ‚Ansichten‘ der verschiedenen philosophischen Richtungen zu einem ‚System von Perspektiven‘ der gleichen ‚Objektivität‘ zu vereinigen … und so gelten ihm nun auch die zahllosen philosophischen ‚Ansichten‘ trotz ihrer Gegensätzlichkeit als Projektionen derselben Wahrheit, nur unter Verwendung verschiedener Projektionszentren … Es ist also ein objektiver Perspektivismus, den Leibniz an die Stelle des subjektiven Relativismus setzt, nämlich eine universelle Systematik aller individuellen Erkenntnisstandpunkte“.8

Diese objektive Perspektivität, die Pluralität nicht pluralistisch als eine beliebige Vielzahl von verschiedenen Einzelheiten versteht, sondern sie „mit metaphysischer Strenge“ als die Manifestation der sich aufgliedernden Einheit des „Universums“ (nicht „Pluriversums“) begreift, ist die Besonderheit des Leibnizschen Weltkonzepts. Welt kann nur als ein geordneter Zusammenhang der Vielen, als universelle Harmonie gedacht werden – und das Leibnizsche Denken in seinem inneren Zusammenhang muß als methodische Konstruktion und metaphysische Darstellung der universellen Harmonie nachvollzogen werden.

Das ist umso schwieriger, als Leibniz nur kurze, thesenartige Resumes seiner Philosophie gegeben hat9 und die vielfältigen Aspekte seines Weltbegriffs erst bei Durchsicht seiner riesigen Korrespondenz und einer schier unübersehbaren Menge von Notizen sich erschließen. Schlechta hat richtig hervorgehoben, daß diese Verstreutheit der Gedanken die Stilform ist, in der sich der Denktypus Leibniz realisiert.

„Die Form, in der Leibniz seine Ideen mitteilte, waren großenteils Briefe, Aufsätze und Gespräche. Die literarische Form aber ist so wenig eine zufällige wie die natürliche: der immer lebendige Reichtum dieses Geistes, der Umfang, die Unmittelbarkeit und Intensität seiner Interessen sprachen sich im soeben bezeichneten Stil am reinsten aus. Die erlebte Mannigfaltigkeit des Gegebenen und die Gewandtheit dieses durch keine Schwierigkeiten zu ermüdenden Verstandes konnten in der Gelegenheitsschrift oder im Brief mit größerem Nuancenreichtum, d.h. adäquater in Erscheinung treten als in einer schulgerecht verfahrenden Darstellung“.10

Anders gesagt: Die Aussageform von Leibniz ist selbst ein Ausdruck dessen, daß das Individuum in ein Netz von Beziehungen und Perspektiven eingeknüpft ist, durch die es sich definiert und deren mannigfache Reflexe in seinem Bewußtsein erst die Fülle der Inhalte seines Weltbildes ausmachen.

Leibniz

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