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3. Kapitel

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Professor Theodor von Wernecke rieb sich die Augen, um der aufkommenden Müdigkeit entgegenzuwirken. Es war ein langer Tag gewesen, doch mit dem Ergebnis der letzten 10 Stunden war er mehr als zufrieden. Gemeinsam mit seinem Team war der Archäologe seit nahezu einem Jahr auf der Suche nach Relikten der Vergangenheit. Während andere Berufskollegen die Welt erforschten und Geheimnisse der vergangenen Jahrmillionen aufdecken wollten, hatte er es sich in den Kopf gesetzt, anhand von Funden das Leben im Mittelalter nachzuempfinden.

Wernecke wusste schon, dass diese Zeit nicht nur erforscht, sondern auch durch zahlreiche Schriften und Überlieferungen belegt war, denn der Zeitraum, der ihn interessierte, lag über 400 Jahre zurück. Und dennoch hatte es ihm diese Zeit angetan. Die Zeit der Inquisition, der Hexenverfolgung, die Zeit der Massenhinrichtungen von Menschen, der Verbrennung so genannter Hexen und Zauberer oder die zahlreichen anderen Todesarten, die sie ereilten.

Wenn man ihn danach fragte, was er denn eigentlich suchte, er hätte darauf keine exakte Antwort geben können. Er wusste es selbst nicht so genau. So hatte er auch weder einen staatlichen Auftrag zu irgendwelchen Ausgrabungen, noch hatte ihn ein Museum darum gebeten. Dank seiner finanziellen Lage war es ihm möglich, sich nicht um anderer Leute Interessen kümmern zu müssen und in Gottes freier Natur konnte jeder das tun, was ihm beliebte, wenn es niemand anderen beeinträchtigte. Mit den Bewohnern der in der Nähe seines Wirkungskreises gelegenen Orte kam Wernecke gut zurecht. Man achtete ihn, denn in unregelmäßigen Abständen unterstützte er die eine oder andere Institution mit kleineren Investitionsspritzen und so sah man auch keine Veranlassung, ihm zu untersagen, sein Suchen auf privaten Feldern oder Wiesen durchzuführen, wenn er später alles so, wie er es vorgefunden hatte, auch wieder hinterließ.

Wernecke schaute über die hügelige Landschaft hinüber zu der Abtei Sankt Benedikt, die sich rund einen Kilometer entfernt auf einem Hügel in ihrer vollen Größe präsentierte. Im Tal schlängelte sich das Bett der Saar und am Horizont waren die Konturen der alten Römerstadt gerade noch wahrzunehmen. Es war ein Anblick, der jeden Maler entzückt hätte.

Mitten in der flachen Landschaft hatte sich die Erde zu einem riesigen Hügel gewölbt und das Kloster auf seiner Spitze machte den Eindruck einer Burg, die sich in vergangenen Zeiten der Angriffe von Feinden hatte erwehren müssen.

Wernecke hatte sich in den vergangenen Jahren mit dem traurigen Kapitel der Hexenverfolgung auseinandergesetzt und es zu seinem Hauptaufgabengebiet gemacht. Er konnte es sich leisten, das zu tun, was er wollte. Er war heute 43 Jahre alt, hatte sein finanzielles Schäfchen im Trockenen und konnte sich eine kleine Crew von Gleichgesinnten leisten, die unter ihm die für ihn wertvollen Forschungsarbeiten leisteten.

Sie hatten sich gerade diesen Ort für ihre Forschungszwecke ausgesucht, denn das Gebiet lag nicht mehr in dem so genannten Bereich der Hochburgen jener Zeit, sondern war nach Aussagen einschlägig bekannter Wissenschaftler lediglich ein Ausläufer. Aber gerade das machte es für Wernecke so interessant. Und die Stelle, auf der er und seine Leute sich gerade befanden, war in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg um mehrere Meter aufgeschüttet worden. Dass dies geschehen war, hatten seine Recherchen ergeben, doch warum es geschehen war, das war bis heute ein Geheimnis. Schon oft hatte er sich gefragt, wer dahintersteckte und je mehr er darüber nachgrübelte, umso öfter schaute er in Richtung des Klosters in der Ferne, mit seinem malerischen wolkenverhangenen Hintergrund, durch den sich gerade in diesem Moment gebrochene Sonnenstrahlen den Weg suchten und die Abtei fächerförmig einschlossen.

Wernecke war müde und auch seine Leute schienen für heute von der Arbeit genug zu haben. Während der letzten 20 Tage hatten sie hier gesucht, gegraben, und gehofft, doch die Enttäuschung war an jedem Tag mit dabei. Doch Wernecke war sich sicher: Irgendwann würde er fündig werden und er würde beweisen, dass gerade hier, in diesem Bereich um das Kloster und unter dieser Aufschüttung aus vergangener Zeit Relikte zum Vorschein kommen würden, die bestätigten, dass Menschen hier leiden mussten, hier verurteilt wurden, hier hingerichtet wurden. Und dann würden sich auch alle seine Vermutungen bestätigen.

Mit einem letzten Blick auf das Kloster drehte er sich zu seinen Leuten, die das Gelände absuchten, hier und da gruben oder Bodenproben mit dünnen Erdbohrern hervorholten.

„Für heute ist es genug!“, rief er ihnen zu und winkte dabei heftig mit den Armen, so dass auch die Entferntesten wussten, was er ihnen mitteilen wollte.

Er klopfte sich die khakifarbene Hose und die Arbeitsjacke der gleichen Farbe mit seiner sommerlich dünnen Schirmmütze aus und offenbarte dadurch sein Haupt mit dem dichten, fast schwarzen Haar, dessen leichte Naturwellen er nach hinten zu kämmen pflegte.

„Wollen wir wirklich hier noch weiter nach etwas suchen, von dem wir nicht wissen, was es sein könnte?“, hörte Wernecke eine Stimme hinter sich.

Er erkannte die Stimme. Es war Dr. Frederik Heidrich, sein jüngerer Kollege und Partner, mit dem er seit zwei Jahren eng zusammenarbeitete.

Wernecke drehte sich um und sah ihn an.

„Ich bin mir sicher, dass wir in diesem Bereich etwas finden. Er machte eine weit ausholende Bewegung mit seinem rechten Arm, wodurch er optisch den Aktionsradius beschrieb.

„Wir machen weiter, morgen. Für heute ist es genug. Wie wär`s mit einem Gläschen Rotwein? Bei mir. Als Feierabendtrunk?“

Noch ehe er eine Antwort erhalten konnte, klingelte sein Handy und er ärgerte sich gleich, dass er vergessen hatte, die Anrufweiterschaltung abzustellen. Mit einem Blick auf Heidrich hob er die Schultern fragend an und meldete sich. Der Anrufer hatte ihm offensichtlich einiges zu erzählen, denn Wernecke hörte nur stumm zu, nickte gedankenverloren und schaute schließlich zu Heidrich hinüber.

„Es wird nichts aus unserem gemeinsamen Trunk heute Abend“, sagte er. „Ich erwarte noch Besuch.“

„Ist alles in Ordnung?“

Heidrich sah seinen Chef erwartungsvoll an.

„Ja, alles in Ordnung“, antwortete der nachdenklich. „Entweder war das gerade ein Verrückter, oder er hat etwas, das für uns zur Sensation werden könnte. Einer nicht ganz ungefährlichen, wie ich heraushörte, wenn es denn nicht nur Geschwätz war.“

„Nicht ungefährlich?“

Heidrich verstand nichts von dem, was der Professor soeben von sich gab.

„Angeblich soll ein Mord geschehen sein. Im Zusammenhang mit dieser Angelegenheit, die mir der Anrufer heute Abend offenbaren will. Er hat mich um Diskretion gebeten, jeder Person gegenüber. Ich hatte den Eindruck, der Mann hatte panische Angst.“

„Dann brauche ich wohl keine weiteren Fragen zu stellen?“, schmollte Heidrich und schickte sich an, sein Arbeitszeug zusammenzusuchen.

„Nun seien Sie mal nicht eingeschnappt. Sie wissen, dass Sie mein vollstes Vertrauen genießen. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Seien Sie heute Abend, sagen wir so gegen 21 Uhr bei mir. Dann werden wir beide wissen, woran wir sind. Übrigens: Der Mann kommt so gegen halb acht. Lassen Sie mir die Zeit mit ihm!“

***

Sibelius kam pünktlich um halb acht.

Als Wernecke ihm die Haustür öffnete, stand ein total verängstigter und eingeschüchterter Mann vor ihm, der nach allen Seiten witterte wie ein scheues Tier, das seine Jäger hinter sich spürte. Zitternd nannte er seinen Namen und setzte atemlos an, Worte zu bilden.

„Nun kommen Sie erst einmal herein!“

Wernecke geleitete Sibelius, der bislang noch kein Wort herausbekommen hatte, in sein feudales Wohnzimmer und forderte ihn auf, am Fenster, in einem seiner bequemen Ledersessel Platz zu nehmen.

Vorsichtig ließ Sibelius sich auf dem Sessel nieder, als könne er ihn beschädigen, wobei er sich zuerst mit den Handflächen abstützte, nicht ohne vorher prüfend mit der flachen Hand über das weiche Polster gestrichen zu haben. Doch er verharrte auf der vorderen Kante des Sessels, nicht in der Absicht diesem keinen Schaden zufügen zu wollen. Nein, seine Absicht war es, seinem Gegenüber nahe zu sein seine Mitteilung dem Professor leise mitzuteilen.

Wernecke füllte zwei Gläser mit Portwein und reichte eines davon Sibelius.

„Trinken Sie das! Das wird Ihnen guttun. Und dann erzählen Sie mir in aller Ruhe, was Sie auf dem Herzen haben.“

„Haben Sie heute schon die Nachrichten gesehen oder gehört?“, fragte Sibelius und als der Professor dies kopfschüttelnd verneinte, raffte er alle seine Kraft zusammen und erzählte von seinem beabsichtigten Treffen mit Armin Kottelkamp und den Schüssen, die in unmittelbarer Nähe seiner Wohnung fielen.

„Sie wissen, warum man Ihren Freund umgebracht hat?“ Der Professor neigte seinen Kopf zu Sibelius, denn der hatte seine Stimme um ein Erhebliches gesenkt und sich weiter in die Richtung Werneckes gebeugt, dass dieser bereits Bedenken hatte, Sibelius würde mit dem Sessel nach vorne überkippen.

„Armin hat mir in seinem Telefonanruf mitgeteilt, dass er einen sensationellen Fund gemacht hat. Sie müssen wissen, Armin und ich, wir sind beide Hobbyhistoriker und interessieren uns insbesondere für die Zeit der Inquisition im späten Mittelalter, also besonders für die Zeit um 1500 und danach. Armin wollte mir den Fund persönlich vorbeibringen, doch man hat ihn ermordet, ehe er bei mir in meiner Wohnung ankam. Nur dem Umstand, dass ich nach draußen ging, um ihm entgegen zu eilen, verdanken wir es, dass dieser Fund jetzt in meinem Besitz ist.“

Sibelius erzählte von der unbekannten Person, die ihn fast überrannt hatte und die Vermutung, dass es der Mörder offensichtlich auf den Fund von Armin Kottelkamp abgesehen hatte.

„Vielleicht hat der Mörder von der Durchsuchung des Toten Abstand genommen, weil ich so schnell bei ihm war. Damit konnte er nicht rechnen. Wenn ich es mir genau überlege, hätte der Mann mich doch auch erschießen können.“

„Vielleicht wusste er zu diesem Zeitpunkt nicht, wer Sie sind. Darüber würde ich mir erst einmal keine Sorgen machen. Haben Sie den … Fund dabei?“

Wernecke schien aufgeregt.

„Wissen Sie eigentlich, dass ich den gleichen Interessen verfallen bin wie Sie und Ihr Freund?“, fragte er.

„Ja, das weiß ich. Das ist auch der Grund, warum ich mich an Sie wende. Sie sind der Einzige, den ich kenne, der die Möglichkeiten hat, dem Hinweis nachzugehen.“

„Dem Hinweis? Welchen Hinweis meinen Sie?“

„Bei dem Fund handelt es sich um einen Zettel, offensichtlich geschrieben im Jahr 1587, ich vermute, von einem der Gerichtsschreiber der damaligen Hexenprozesse. Der Zettel …“

Wernecke unterbrach Sibelius.

„Haben Sie diesen … Zettel dabei? Kann ich ihn sehen?“

„Nein.“

Sibelius witterte nach allen Seiten, und, obwohl er sich in der Wohnung des Professors aufhielt, fühlte er sich äußerst unwohl.

„Ich habe ihn in meiner Wohnung versteckt“, sagte er schließlich. „Aber ich habe den Wortlaut auswendig gelernt.“

Der Professor griff nach einem Blatt Papier und einem Stift.

„Legen Sie los!“, rief er ermunternd. „Mal sehen, was …!“

Ein lauter Knall und das Brechen und Splittern von Glas unterbrach jäh die fast lautlose Unterhaltung und als Wernecke zu Tode erschrocken den Kopf hob und in Richtung des Fensters schaute, sah er, wie die fast sechs Quadratmeter große Fensterscheibe in sich zusammenfiel und ihre Scherben sich nach dem Aufschlag auf die steinernen Fliesen durch die große Wucht im gesamten Wohnzimmer verteilten.

„Verdammte Sauerei!“, rief er und sprang auf.

„Das sind keine Scherze mehr“, schrie er vor sich hin, während er zum Fenster lief und durch die eben entstandene Öffnung nach draußen sah.

„Da sehen Sie, dass auch ich manchen Leuten hier in der kleinen Stadt ein Dorn im Auge bin“, keuchte er und sah zu Sibelius, der jedoch nicht mehr auf der Kante des Ledersessels saß.

Sibelius lag auf dem Boden, mit dem Gesicht nach unten. Aus einer faustgroßen Wunde in seinem Rücken quoll Blut und färbte mehr und mehr seinen Rücken, bis es schließlich in einem kleinen Rinnsal zwischen seinem Körper und dem rechten Arm auf den Boden lief.

Fassungslos und keiner Regung mächtig stand der Professor vor dem Mann, für den es keine Rettung mehr gab, das sah er sofort. Es war eine Einschussstelle, die einer äußerst großkalibrigen Waffe. Nur eine solche war in der Lage, ein Fester zu zertrümmern und eine solch riesige Wunde in einem Menschen zu verursachen.

Als Wernecke sich gefasst hatte, griff er zum Telefon und verständigte den Notruf. Rettungswagen und Polizei würden gleich eintreffen, sagte man ihm zu, nachdem er seinen Namen und Wohnort angegeben hatte.

Er sah auf Sibelius nieder.

„Was zum Teufel steht nur auf dem Zettel, das Menschen veranlasst, Morde zu begehen? Was bezwecken diese Leute mit diesen Morden?“

Doch die Antwort auf seine Frage gab er sich selbst.

„Man will um alles in der Welt diesen Zettel haben. Dafür räumt man jedes störende Menschenleben aus dem Weg. Was ist das bloß für eine Mitteilung aus der Vergangenheit, die Menschen in der Gegenwart dem Tode weiht?“

Die noch recht kühle Frühlingsluft breitete sich durch die künstlich hervorgerufene Fensteröffnung im Wohnzimmer aus und der Professor fror. Er fror vor Kälte und er fror vor Angst. Wenn bisher zwei Menschen wegen dieses gottverdammten Zettels dran glauben mussten, dann hatte man es unter Umständen auch auf ihn abgesehen, jetzt, da er Mitwisser war. Zumindest musste das die andere Seite nach dem Besuch von Sibelius in seinem Haus glauben.

Wernecke ging zum Wohnzimmerschrank und öffnete eine Doppeltür. Zum Vorschein kam eine Getränke-Bar. Er nahm eine Flasche Cognac heraus, schenkte sich ein großes Glas ein und leerte es in einem Zug. Er spürte, wie sich der scharfe Alkohol den Weg durch seine Kehle bahnte, er fühlte die wohlige Wärme in seinem Körperinneren aufkommen und wie das Rasen seines Herzen langsam abebbte.

Das Erbe des Foltermeisters

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