Читать книгу Das Erbe des Foltermeisters - Hans J Muth - Страница 9

2.Kapitel

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Sibelius legte den Hörer auf. Was sein Freund und langjähriger Wegbegleiter ihm soeben angedeutet hatte, weckte alle Neugier in ihm. Woran arbeitete Armin Kottelkamp derzeit eigentlich? fragte er sich, doch Sibelius wusste es nicht. Dass Armin stets auf der Suche nach Sensationen war, nach Unerforschtem aus vergangenen Tagen, war ihm schon bekannt. Daraus hatte sein Freund nie einen Hehl gemacht. Dennoch, er hielt Armin für einen Fantasten, immer auf der Suche nach dem Nichterreichbaren. Sein Verhalten heute jedoch ihm gegenüber war anders als sonst. War seine Arbeit von Erfolg gekrönt worden? Was hatte er denn so Wichtiges gefunden? Zu Übertreibungen hatte Kottelkamp eigentlich nie geneigt, wenn er auch oft einem Phantom hinterherjagte.

Sibelius schaute auf die Uhr. Die zwei Stunden waren nahezu verstrichen. Kottelkamp müsste jeden Moment bei ihm auftauchen. Doch nun schlug seine Neugier in Ungeduld um. Nach mehreren Blicken auf seine Armbanduhr entschloss er sich, außerhalb seiner Wohnung auf Armin zu warten. Etwas frische Luft würde ihm guttun. Der nahende Sommer weckte bei ihm mehr und mehr die in der Winzerzeit in den Hintergrund getretenen Wünsche nach Bewegung und so warf er sich eine dünne, aber dennoch gefütterte Jacke über die Schultern und begab sich aus seiner Wohnung im dritten Stock gemächlich Stufe für Stufe, nach unten.

Mit 65 Jahren war er auch nicht mehr der Jüngste und die rechte Hüfte bereitete ihm seit einem halben Jahr erhebliche Probleme. Um eine Operation würde er wohl nicht herumkommen, doch er verschob dieses Vorhaben immer wieder. Andere Dinge hatten für ihn Vorrang.

Draußen war es verhältnismäßig still. Sibelius wohnte abseits der verkehrsträchtigen Straßen am Stadtrand, ebenso wie Armin Kottelkamp es jenseits am anderen Ende der Stadt tat und die Anzahl der vorbeifahrenden Fahrzeuge hielt sich deshalb in Grenzen. Jetzt, da sich der Tag dem Abend zuneigte, hatten auch diese Fahrzeuge ihre Strecken hinter sich gebracht, die Insassen waren nach getaner Arbeit zu Hause bei ihren Familien.

Es war doch kühler als Sibelius es noch vorhin geglaubt hatte und so schlüpfte er in die Ärmel seiner Jacke, zog den Reißverschluss über dem kleinen Bauchansatz zu und schlug den Kragen hoch.

Plötzlich glaubte er, einen Schatten an der Hauswand der Straße auf der gegenüberliegenden Seite der Kreuzung wahrgenommen zu haben. Er strengte seine Augen an, um deutlicher sehen zu können, denn seine Brille hatte er in der Eile in seiner Wohnung gelassen.

Ich habe mich getäuscht, lächelte er in sich hinein. Armin wird sich ja wohl nicht vor mir verstecken wollen.

Dann ging ihm ein Licht auf. Er will nicht gesehen werden, so wichtig scheint ihm das zu sein, was er mir nicht vorenthalten will.

Die Spannung in Sibelius stieg. Was Armin entdeckt hatte, konnte nur mit der Zeit der Inquisition des späten Mittelalters zusammenhängen. Ihnen beiden, ihm und seinem Freund, hatte es die Zeit der Hexenverfolgung angetan, mit dem kleinen Unterschied, dass sich Sibelius immer noch damit befasste, Prozess um Prozess ans Licht zu bringen und sie auszuwerten, insbesondere, was seinen heimatlichen Bereich betraf.

Alleine aus seiner Heimatstadt hatte er über 15 hingerichtete Personen ermittelt und sie den heute noch lebenden Familien zugeordnet. Eine genaue Recherche der Verfolgung im Kurfürstentum Trier war ihm durch den fast völligen Verlust der Gerichtsakten, die vermutlich zu einem großen Teil einer gezielten Vernichtungsaktion am Ende der Verfolgungsperiode zum Opfer gefallen waren, nicht mehr möglich gewesen. Aber allein das Verzeichnis des Amtmannes Claudius Musiel wies für den Zeitraum von 1588 bis 1594 die Hinrichtung von ca. 400 Personen aus rund 36 Dörfern der Abtei St. Maximin bei Trier und weiteren umliegenden Orten, darunter auch solche mit kurtrierischer Zugehörigkeit, aus.

Sibelius blickte nach allen Seiten die Straßen entlang, die von der Kreuzung vor seinem Haus wegführten, eine in die Innenstadt, zwei weitere aus der Stadt hinaus. Er kniff seine Augen zusammen, doch er sah Armin Kottelkamp nicht.

Dann fiel ein Schuss!

Und dann noch einer!

Auf der gegenüberliegenden Seite der Straße, in der Einmündung einer Gasse auf die Kreuzung zu, stand sein Freund Armin. Offensichtlich hatte er die Passage des kleinen Kaufhauses benutzt, um den Weg über die Straße zu vermeiden.

Sibelius hob die Hand, um Kottelkamp zuzuwinken, ihn auf sich aufmerksam zu machen, ihm mitzuteilen, dass er sich die Treppe zu seiner Wohnung ersparen könne, doch er hielt mitten in der Bewegung inne. Sibelius stand wie angewurzelt, den Arm in halb erhobener Position und beobachtete, wie sein Freund, fast wie in Zeitlupe erst auf die Knie, dann nach vorne über mit dem Gesicht auf den Erdboden schlug und sich nicht mehr rührte.

Sibelius rannte über die Straße, über die Kreuzung, so schnell es seine lädierte Hüfte zuließ, den Namen seines Freundes laut rufend. Fast hätte er dabei eine Person umgerannt, die mit gesenktem Kopf, ebenfalls aus Kottelkamps Richtung kommend, einen Haken schlug und in Richtung Stadtmitte davonrannte. Es war offensichtlich ein Mann, der die Wollmütze tief in die Stirn gezogen hatte und damit die Erkennung seines Gesichts unmöglich machte.

Sibelius schaute nur kurz in seine Richtung, während der Hauch eines extrem maskulinen After Shaves an ihm vorbeiwehte.

Dann stand er vor Sibelius und beugte sich zu ihm herab. Armin Kottelkamp atmete, er lebte noch. Auf seinem Rücken hatten sich Blutflecken um zwei Einschusslöcher gebildet, die sich rasch ausbreiteten.

„Einen Notarzt, rufen Sie einen Notarzt!“, schrie er den herbeieilenden Leuten, zu. Offensichtlich war die gesamte Nachbarschaft durch die Schüsse aufgescheucht worden und witterte nun eine Sensation, an der sie zumindest als Gaffer teilhaben wollten.

„Du wirst das schaffen, Armin, es kommt gleich Hilfe!“, sprach er zu seinem Freund, während er ihn vorsichtig aus seiner Bauchlage auf die Seite drehte und sein Gesicht aus dem Straßenstaub entfernte.

Sibelius sah, dass Kottelkamp die blutverschmierten Finger seiner Hand mehrfach krümmte, als wolle er ihn zu sich herab winken und beugte sich aus seiner knienden Haltung zu ihm hinunter.

„In meiner Brusttasche … schnell ...!“

„Du darfst dich nicht bewegen, Armin, gleich kommt Hilfe. Es wird alles gut!“

„Meine Briefmappe … der Zettel … schnell! Nimm sie an dich … ehe es zu spät ist!“

Kottelkamp hustete, sein Gesicht wurde auf einmal fahl und blass. Seine Augen schauten Sibelius an, doch sie sahen ihn nicht mehr.

„Leb wohl, mein Freund“, kam es ihm mit Tränen in den Augen über die Lippen, doch dann dachte er an Armins Worte. Während er in der Ferne die Sirenen von Polizei und Krankenwagen vernahm, fasste er in die Innentasche des Jacketts, nahm die Brieftasche seines Freundes an sich und schob sie mit unbewegtem Kopf, nur die Augen nach beiden Seiten bewegend, unter seinen Hosengürtel und zog seine Jacke darüber. Er war sich sicher, dass ihn niemand dabei beobachtet hatte. Dennoch oder gerade deswegen kam er sich vor wie ein Dieb, der soeben seinen besten Freund bestohlen hatte.

Dann wurde er plötzlich unsanft zur Seite geschoben und als er aufsah, konnte er die Leute des Rettungsdienstes in ihren rot-weißen Kleidungen erkennen, die sich um Armin Kottelkamp zu kümmern begannen. Er hatte sie in seinem Schmerz nicht kommen hören, es spielte auch keine Rolle mehr. Sibelius wusste, dass es zu spät war, dass es keine Hilfe mehr für seinen Freund geben würde. Er drehte sich um und wollte gerade mit gesenktem Kopf durch die sich inzwischen angesammelte Menschenmenge zurück zu seiner Wohnung gehen, als er eine Hand auf seiner rechten Schulter spürte.

„Sie kannten den Toten?“ Die Hand gehörte einem Mann in den Fünfzigern, der ihn mit großen blauen Augen fragend ansah. Sein grauer Mantel, in der Taille gebunden mit einem Gürtel derselben Farbe und sein grauer Hut erweckte in Sibelius Erinnerungen an Humphrey Bogart, nur, dass der vor ihm stehende gut einen Kopf größer war. Sibelius wusste gleich, dass es sich nur um einen Polizisten handeln konnte, einen Kriminalbeamten und er wurde in dieser Ansicht auch sofort bestätigt.

„Entschuldigen Sie! Meyfarth, Kriminalhauptkommissar Werner Meyfarth, Kripo Trier. Sie kannten den Mann?“, wiederholte er und sah Sibelius direkt an, wobei er ihm kurz seine Dienstmarke unter die Nase hielt.

Sibelius nickte.

„Mein Name ist Sibelius, Peter Sibelius. Er war mein Freund“, sagte er. „Mein einziger Freund. Wer hat das getan? Warum?“

„Sie haben neben dem Toten gekniet. Ich habe sie beobachtet. Waren sie zusammen, als es geschah? Er wurde erschossen, das kann man deutlich sehen. Meine Kollegen vom Erkennungsdienst werden es mir gleich bestätigen.“ Meyfahrt zeigte zu der Gruppe Männer, die in gebückter Stellung in weißen Overalls dabei waren, den Tatort aufzunehmen. Der Rettungstrupp und der Notarzt hatten sich inzwischen zurückgezogen.

„Er war auf dem Weg zu mir. Wir hatten eine Verabredung.“

Sibelius antwortete knapp. Was sollte er seinem Gegenüber sagen? Sollte er ihm gestehen, dass er die Briefmappe von Kottelkamp eingesteckt hatte? Der würde sich spätestens dann wundern, wenn er deren Fehlen feststelle, beziehungsweise von seinen Kollegen erfahren würde, dass der Tote ungewöhnlicherweise ohne Papiere und Bargeld unterwegs gewesen war. Von ihm jedenfalls würde er in dieser Hinsicht nichts erfahren, noch nicht. Vielleicht später, wenn er die seltsame Botschaft, die Kottelkamp ihm angedeutet hatte, beiseitegeschafft hatte.

Meyfarths Fragen rissen ihn aus seinen Gedanken. „Dann haben Sie etwas gesehen? Erzählen Sie! Überlegen Sie genau! Jede Kleinigkeit ist von Bedeutung.“

Sibelius sah in die Richtung, wo sein Freund lag und wo sich die Kriminalbeamten mit ihm beschäftigten. Ein Leichenwagen fuhr vor, doch einer der Beamten winkte ab. Sie waren offensichtlich mit ihrer Arbeit noch nicht so weit.

„Es waren zwei Schüsse. Der Täter –ich glaube, es war der Täter- hat mich fast überrannt.“

„Sie haben den Täter gesehen?“

Meyfahrt blickte erstaunt und erwartungsvoll. „Beschreiben Sie den Mann! Ich werde eine Fahndung nach ihm veranlassen.“

„Es wird nicht reichen.“

„Was wird nicht reichen?“

Meyfahrt schien ungeduldig. „Machen Sie schon! Jede Minute ist kostbar.“

„Es wird nicht für eine Fahndung reichen. Die Person, ich glaube -hören Sie, ich glaube! - dass es ein Mann war, hatte eine Wollmütze auf und weil er mit gesenkten Kopf an mir vorüberlief, konnte ich sein Gesicht nicht sehen.“

„Was hatte er an?“

„Es ging alles so schnell. Ich habe mich auf meinen Freund konzentriert. Soweit ich mich erinnere, trug der Mann eine dunkle Jacke und eine dunkle Hose.“

„Und weiter? War er groß? War er klein? Dick oder dünn? Hinkte er? Wohin ist er gelaufen?“

Sibelius sah Meyfarth fast abwesend an. Die Fragen, die auf ihn einprasselten, erreichten ihn nur teilweise. Sein Blick wurde immer wieder wie von einem Magneten zu dem Toten hingezogen. Warum hatte man ihn ermordet? Hatte es etwas mit dem von Kottelkamp erwähnten Papier zu tun? Und wenn es so war? Plötzlich kam es ihm in den Sinn, dass auch er unter Umständen in großer Gefahr schwebte. Er war nun der Besitzer des ominösen Zettels. Wenn nun der Täter gesehen hatte, dass er bei seinem Freund kniete musste er doch davon ausgehen, dass Armin Kottelkamp auf dem Weg zu ihm war.

Sibelius begann zu zittern, vor Aufregung, aber vor allem vor Angst.

„Herr Sibelius, ist Ihnen nicht gut?“, hörte er wie aus weiter Ferne sein Gegenüber fragen. „Kommen Sie, ich begleite Sie in Ihre Wohnung.“

„Nein, danke, es ist nichts“, entgegnete Sibelius, der sich wieder gefangen hatte. „Eine kleine Schwäche. Ist gleich vorbei.“

„Hören Sie!“, sagte Meyfahrt und seine Stimme klang eindringlich. „Sie müssen mir nun erzählen, was Sie wissen. Wir müssen etwas unternehmen, sofort! Wir wollen die Chance nutzen, den Täter zu fassen. Das ist doch auch in Ihrem Sinne!“

„Er ist da rüber gelaufen.“

Sibelius zeigte in die Richtung, in die er glaubte, dass der Mann sich entfernt hatte. Er war sich selbst nicht mehr sicher.

„Doch, da fällt mir noch etwas ein. Als der Mann an mir vorüberlief, konnte ich sein After Shave riechen. Aufdringlich. Sehr aufdringlich. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Darf ich nun gehen?“

„Gehen Sie! Das After Shave ist ein schlechter Hinweis. Verwenden viele Männer.“

Meyfahrt wandte sich zum Gehen.

„Aber halten Sie sich zu meiner Verfügung! Ich brauche Ihre schriftliche Aussage. Sie hören von mir.“

Kurz darauf ließ sich Sibelius, vom Steigen der Stufen in seine Etage noch außer Atem, auf einen Stuhl in seiner kleinen Küche fallen und schnaufte erst ein paar Mal durch. Dann ging er zum Fenster, von wo aus er in einiger Entfernung die Türme des Doms, der Liebfrauenkirche und den von St. Gangolf sah. Aber von hier aus konnte er auch genau auf die Stelle sehen, wo es seinen Freund Armin Kottelkamp erwischt hatte.

Die Leichenbestatter hatten ihn offensichtlich eingesargt, denn sie trugen einen hölzernen Schrein und schoben diesen in das Heck des Leichenwagens. Dann brauste der schwarze Kombi mit den aufgemalten silbernen Palmblättern auf den Seitentüren davon. Auch die Polizei zog nun ab und die Gaffer entfernten sich, hier und dort miteinander diskutierend, in alle Richtungen.

Dann war der Platz leer. Genauso leer, wie er noch vor einer Stunde vor dem Vorfall war und nichts deutete darauf hin, dass vor kurzer Zeit genau an dieser Stelle ein Mensch sein Leben hatte lassen müssen.

Dort unten nahm die Welt ihren weiteren Lauf, doch in der kleinen Wohnung von Sibelius schien sie still zu stehen. Nachdem er sich von der Anstrengung des Treppensteigens erholt hatte, erinnerte er sich der Brieftasche unter seinem Hemd und zog sie langsam und bedächtig, als könne er ihr einen Schaden zufügen, hervor. Aufgeregt und mit zitternden Händen schlug er die beiden ledernen Seiten auf und legte sie vorsichtig auf dem Tisch ab. Aus den Fächern der Innenseiten lugten diverse Papiere hervor, darunter ein paar Geldscheine, der Personalausweis von Kottelkamp, mit dem typischen Passfoto, das nach neuesten Vorschriften wie ein Bild aus einem Verbrecheralbum wirkte. Sibelius zog ihn vorsichtig heraus und betrachtete lange das Foto seines Freundes und seine Augen wurden feucht. Schließlich steckte er den Ausweis zurück in das Fach und untersuchte die Mappe näher. Dann stieß er auf ein gefaltetes Blatt weißen Papiers und als er es aufschlug, wusste er, dass er gefunden hatte, was er suchte. Er starrte gebannt auf den Zettel vor sich, von dem er glaubte, dass er der Grund war, der zum Tod seines Freundes Armin Kottelkamp geführt hatte.

Das Erbe des Foltermeisters

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