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Nicht Casanova

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Das Paradies auf Erden? Gibt es das wirklich? Oh ja,- mann muss nur an der richtigen Stelle eine Eintrittskarte lösen. Kann das nicht ganz einfach sein, oder? Aber alle Zwei­fel zurückgestellt,- wo könnte es das denn geben?

Es gibt in Europa nicht wenige Menschen, die meinen, dass die italienische Toskana diejenige “geheime” Landschaft ist, die dieses Prädikat am ehesten verdient. Aber was ist denn dort so paradiesisch? Pinien und Zypressen in unvergesslichen langen Reihen auf geschwungenen Hügel­ketten, malerische kleine Städtchen hoch oben auf Bergkuppen, ein ewig blauer Himmel, der perfekt zu den sanften Pastelltönen der Landschaft passt? Schöne Menschen, die in voller Harmonie zu dieser Landschaft leben? Sind das nicht bürger­liche Illusionen?

Oh Wanderer, kommst du nach Aventurina, so tritt auf die Bremse! Die große Durch­gangsstraße dort schaut zwar absolut nicht paradiesisch aus, ist laut, vom Verkehr über­lastet, auch nicht gerade schön. Aber der Name des Ortes sollte dich hellhörig machen. Hat er nicht mit aventura, mit Abenteuer zu tun? Doch wahrscheinlich wirst du mit der Schulter zucken und dich fragen, wo denn auf dieser Lastwagenpiste Pinien oder Zypressen, malerische Bergkuppen oder schöne Pastelltöne zu sehen sind. Nichts als gehetzte Berufstätige, bürgerliche Realität.

Die beiden exotisch aussehenden Frauen in ihrem kleinen Auto mit offenen Verdeck wussten genau, an welcher Stelle frau zu der Therme abbiegen muss. Weil der Blinker seinen Geist aufgegeben hatte, streckte die Fahrerin kichernd den Arm aus dem offenen Fenster und reihte sich auf der Abbiegespur ein. Der heftige Berufsverkehr am einsetzenden Abend brachte sie nicht aus der Ruhe. Wenige Minuten später stiegen sie auf dem staubigen Parkplatz bei der Therme aus ihrem bescheidenen Gefährt, angelten sich große Handtücher vom Rücksitz, warfen sie sich über die Schultern und begaben sich zur Kasse. Nur wenige Leute kamen um diese Tageszeit hierher.

Recht verschieden schauten sie aus, im Alter wohl beide um die Dreißig, aber nicht genau einschätzbar. Ein erfahrener Asienreisender hätte gewiss sofort gesehen, dass am Steuer eine Thailänderin saß und ihre Freundin eine Balinesin war. Die kleine Thailänderin trug einen fast elegant wirkenden Minirock aus Jeansstoff und ein enges kurzes tief sitzendes Hemdchen. Was sie im Wunder-Bra zu bieten hatte, ließ sich so voll in Augenschein nehmen. Die etwas größere Balinesin stand ihr in Schönheit nicht nach. Doch sie war völlig anders gekleidet, eher europäisch mit einem „kleinen Schwarzen“, einem eng anliegenden Abendkleidchen aus Synthetik-Stoff. Zusammen boten die beiden einen hinreißenden Kontrast, ohne jedoch in dieser italienischen Umgebung unangenehm aufzufallen. Ein akzent-behaftetes, aber charmant klingendes Englisch sprachen sie miteinander.

„Hast du genug Geld für die Eintrittskarten?“, fragte die Thailänderin ihre Freundin.

„Natürlich nicht“, gluckste diese, verdrehte ihre malaysischen Augen wie ein Schalk und zog gleichzeitig einen Geldschein aus dem Portemonnaie.

„Ich habe aber wirklich kein Geld dabei, habe gestern alles meiner Familie geschickt. Aber der Typ muss ja zahlen. Kannst du hier für mich auslegen?“

„Weißt du, ich bewundere, wie du das immer tust,- so viel Geld denen schicken. Ich bin da etwas egoistischer. Du siehst ja, dass ich für das Kleid einiges ausgegeben habe, und morgen ist es vielleicht hinüber.“ Beide lachten laut los. Sie wussten genau, dass keiner von den Umstehenden verstand, was sie wirklich meinte. Das lag gewiss nicht an man­geln­den Englischkenntnissen.

Kaum hatten sie den Kasseneingang passiert, lag wirklich ein nicht einmal ganz kleines Paradies vor ihnen. Ein nur ungefähr rundes, von Natursteinen umgebenes Wasserbecken von ansehnlicher Größe grenzte hinten an eine kleine Felswand, aus der ein dampfender Quellbach sprudelte. Die beiden Frauen interessierten sich nicht für das Schild, welches besagte, dass diese Therme bereits vor 2000 Jahren von lebenslustigen Römern frequentiert wurde. Offensichtlich mit dem Ort vertraut, prüften sie, ob das Wasser im Becken genauso warm wie beim letzten Mal war. Doch die im rötlichen Abendlicht romantische Felsenkulisse und der plätschernde Wasserzufluss im Hintergrund nahmen sie auch diesmal gefangen, so dass sie im ersten Moment ihren Bekannten Igor gar nicht bemerkten, der an einem Tisch am vorderen Beckenrand bereits auf sie wartete. Das Zwitschern von Vögeln schien sich dem rhythmischen Geplätscher anzupassen, der entspannende Anblick und die Töne fügten sich zu einem harmonischen Ganzen zusammen.

„Hallo Enni, was gibt es Neues in Thailand?“ ließ Igor sich aus dem Hintergrund vernehmen. Als würde er keine Antwort erwarten, fügte er hinzu: „Du siehst wieder so schön aus.“ Er legte seinen Arm um sie, was ihr offensichtlich ebenso wie dieses Kompliment gefiel.

„Na, nimmst du mich auch noch zur Kenntnis?“, frotzelte nun Anjali ein wenig unsicher, schien aber nicht eifersüchtig zu sein, dass er sich zuerst ihrer Freundin zugewandt hatte. Doch ihre größere Zurückhaltung ließ sich nicht übersehen.

„Ihr wisst doch, dass ich euch alle beide mag“, flüsterte Igor fast, als er sich kritisch angeschaut fühlte. Die beiden Frauen kannten sein Alter nicht, hielten ihn für etwa doppelt so „jung“ wie sie selber, denn sein kurz geschorenes Haar und seine gebräunte Haut machten eine Schätzung schwierig. Nicht nur älter, auch einen Kopf größer als sie war er. Doch er fühlte, dass sie ihn trotzdem mochten, und das gab ihm vielleicht Sicherheit.

Sie setzten sich zu ihm an seinen Tisch und wurden sogleich mit Cocktails verwöhnt, die sie ohne Zweifel gerne mochten. Die Stimmung wurde schnell noch lockerer als am Anfang. Neues aus Thailand war nicht zu erfahren, und aus Bali ebenso wenig. Kleine Anzüglichkeiten kamen ihnen dafür umso leichter über die Lippen. Und keiner hatte etwas dagegen, als diese nach etwas Alkohol erheblich saftiger wurden. Doch es wurde nicht viel nachbestellt. Ganz klar hatten alle Drei etwas ganz anderes im Sinn.

Enni platzte als erste damit heraus: „Ich möchte jetzt baden!“ Dazu reckte sie sich so sinnlich, dass kaum Widerspruch kommen konnte.

„Ihr habt mal wieder kein Badezeug dabei“, grinste Igor.

„Das macht doch ohne Badezeug viel mehr Spaß. Das weißt du doch ganz genau“. Sie legte ihre Uhr ab, stellte die Sandalen unter ihren Stuhl, und gluckste zu Anjali: „Du passt hier schön auf alle Sachen auf.“ Man merkte, mit wie viel Spaß sie an den Beckenrand ging, sich genüsslich streckte, langsam mit den Händen über ihre Kleidung strich und dann kopfüber hinein sprang.

Kaum war sie im Wasser verschwunden, fühlte er, wie sich Anjalis Blick veränderte. Da gab es keinen Zweifel, wie gern sie mit ihm baden würde. Igor gefiel das. Er erwiderte ihre Blicke gern, zog sich gleichzeitig aber seine Jeans und sein Oberhemd aus und sprang ebenfalls ins Wasser.

Wenige Minuten später lag am hinteren Rand des großen Beckens Enni in seinen Armen. Hier konnte man von ihnen nicht viel sehen, vollends nicht die wilde Erregung, die beide nun packte. Die Slips auszuziehen war für beide kein Problem. Ganz fest packte er sie unter ihrem kleinem Rock und führte sie voller Sinnlichkeit an sich heran. Sie machte keinen Hehl daraus, wie gern sie es hatte, als er immer tiefer in sie eindrang.

Als sie triefend nass zum Tisch zurück kamen, schien es, als ob Anjali eingeschlafen war. Doch ein kleines Blinzeln ihrer Augen machte schnell klar, dass sie die Situation zumindest vage beobachtet hatte. Enni beugte sich zu ihr, nahm sie liebevoll in die Arme und hatte gleichzeitig vollen Spaß daran, wie nass nun auch ihre Freundin in dem schönen Kleid war. Lachend ging sie um den Stuhl herum, beugte sich nun von hinten über ihren Rücken und sorgte dafür, dass auch hier nur wenig trocken blieb. Ihr lautes Gelächter erzeugte einige Aufmerksamkeit an den Nachbartischen, doch es schien, als ob hier im wesentlichen alle mit sich selbst beschäftigt waren. Und wenn nicht mit sich selbst, dann mit der Speisekarte. Inzwischen war die Dämmerung eingebrochen, und zahlreiche italienische Gäste nahmen an den Tischen entlang der Vorderseite der Therme Platz. Sie ließen keinen Zweifel daran, dass sie diesen Ort auch als eine Diskothek der gehobenen Sorte ansahen. Tanzen und Baden gehörten hier zusammen. Auch die hier eher seltenen Besucher aus den Gebieten nördlich der Alpen hielten sich an diesen Standard. Genauso selbstverständlich gehörten hier Essen und Trinken dazu und ebenso eine unaufdringliche Barmusik im Hintergrund.

Aphrodisiaka suchte mann gewiss vergeblich auf dieser Speisekarte, und für die Getränke galt ähnliches. Ebenso wenig fand frau, was sie sich für die schlanke Linie wünschte. Genussvoll den Magen zu füllen stand obenan. Doch Igor hatte noch Anderes im Sinn. Diskret flüsterte er Anjali seine Unersättlichkeit ins Ohr, und sie war durchaus nicht abgeneigt. Eine schwer zu trennende Mischung von Scham und Freude in ihrem Gesicht nahm er deutlich wahr. Doch sie vertraute wie wohl schon gewohnt ihre Schuhe und ein paar kleine Dinge ihrer Freundin an und ließ sich in ihrem kleinen schwarzen Kleid geschickt und unauffällig ins Wasser gleiten, ohne dass Fremde etwas davon bemerkten. Dass Igor ihr auf ähnliche Art folgte, war wohl eine Selbstverständlichkeit.

Was sie am anderen Beckenrand miteinander trieben, schien auf den ersten Blick ebenso eine Selbst­verständlichkeit zu sein. Nur Igor wusste, dass das absolut nicht der Fall war. Anjali zeigte sich viel gehemmter als ihre Freundin, was jedoch kaum etwas damit zu tun hatte, dass sie nun als Zweite an die Reihe kam. Liebe im Wasser zu machen, war sie auch durchaus gewöhnt. An Igor ging aber gar nicht so spurlos vorbei, was er vorher mit Enni gemacht hatte. Wie verschieden die Beiden waren! Ihn erregte Anjalis glattes schlüpfrig-nasses Kleid sehr, aber er spürte auch, wie sich ihre Haut dahinter unerreichbar verbarg. Und wie anders es war, in sie hineinzugehen, das konnte er mit keinen Worten beschreiben. Er spürte vor allem, dass er diese Erfahrung mit keinem anderen Menschen teilen konnte. Mit Enni hatte er Gemeinsamkeit gefunden, mit Anjali fand er Einsamkeit. Auch diese Einsamkeit hatte etwas sehr Erregendes an sich, doch sie endete nicht in einem gemeinsamen Orgasmus.

Als sie wieder gemeinsam rund um den kleinen Tisch saßen, störte ihn Enni's leise Frage ziemlich: „Na, was ist denn nun verschieden zwischen uns?“ Er wusste, dass es darauf viele verschiedene Antworten gab. Enni machte ein ziemlich gelangweiltes Gesicht, als er sagte: „Die Kultur.“ Er kannte sie auch schon länger und hatte akzeptieren gelernt, dass Kultur ein Wort war, dass es in der thailändischen Sprache in dieser Form nicht gibt. Einen kurzen Augenblick später streichelte sie ihn ganz liebevoll. In diesem Moment empfand er, dass seine eigene Liebe ihr galt. Oder war es nur Zuneigung? Wie in einer kurzen Meditation spürte er die Unterschiede zwischen Thailand und Bali.

In Thailand gibt es statt Kultur Tempeldienst, seien es Andacht oder einfach eine Tempelbesichtigung oder eine Opfergabe, um die bösen Geister fern zu halten. Nicht nur die thailändische geschwungene, geheimnisvoll wirkende Schrift,- nein, vor allem auch die Tatsache, dass Thailand als einziges Land auf jener Seite der Erde nie längere Zeit kolonisiert worden ist, verleiht diesem Land einen mythischen, schwer erfassbaren Reiz, von welchem viele Touristen nur wenig mitbekommen. Verstärkt wird dieser Eindruck durch den dort vor allem von den Frauen sehr aktiv gelebten Buddhismus. Bei der dort Thera­vada genannten Form können fundamentalistische Züge gewiss nicht übersehen werden. Dass das Land sowohl von Japan als auch von den USA kurzzeitig mit Beschlag belegt worden ist, tut dem wenig Abbruch, hat aber Ressentiments gegen Fremde bestärkt.

In Bali wissen viele Menschen dagegen inzwischen recht genau, was die Fremden aus dem Westen unter Kultur verstehen. Vor allem gebildete Künstler aus dem deutschsprachigen Raum haben sich dort niedergelassen und eine attraktive Alter­nativ­szene aufgebaut, die viele Brücken zwischen der einhei­mischen und der fremden Bevölkerung ermöglicht. Die Balinesen sind nicht wie die Mehr­zahl der übrigen Indone­sier Moslems, sondern halten ihren hinduistischen Glauben in Ehren. Grausame Kolo­nialkriege bis vor nicht langer Zeit waren für sie schrecklich, haben viel Altes zerstört und auch Neues geschaffen.

Igor fühlte, wie er gar nicht über Sexuelles, sondern darüber, also über kulturelle Eigenarten, sprechen wollte und dies insbesondere in jener Umgebung nicht das geringste bisschen infrage kam. Die beiden Frauen schienen sich nun einig darin, dass sie spendabel eingeladen werden wollten und überhaupt gern die Hand offen hielten. Sie rauchten eine Zigarette nach der anderen und tranken wesentlich mehr Alkohol als er. Äußerlich ergab sich eine ausgelassene lustige Stimmung, doch Igor gestand sich fast schmerzlich ein, dass er die Nacht allein verbringen wollte, was schlussendlich auch geschah.

Beim Abschied fragte Enni, was er denn am nächsten Tag vor hat. Als er sagte, dass er nach Spelunca wolle, konnten die Beiden wenig damit anfangen. Anjali meinte aber nicht ganz unrichtig, das sei sicher ziemlich teuer und habe etwas mit Kultur zu tun. Enni fiel ihr ins Wort und seufzte fast, dass sie sich eben in Berlin selber auch wieder ums liebe Geld kümmern müsse. Wohl wissend, dass das auch ein Signal für ihn war, steckte er allen Beiden je einen Geldschein zu, der so zusammengerollt war, dass er wie eine Zigarette aussah. An ihren Gesichtern sah er, dass sie damit zwar zufrieden waren, aber nicht übermäßig begeistert. Er gehörte eben nicht zu den Reichen. Aber sie schienen auch zu spüren, dass er mehr als nur Geld zu bieten hatte.

Als die Beiden in ihrem kleinen Auto davon gebraust waren, hängte er sich sein Gepäckbündel über die Schulter, kontrollierte, dass Geld und Papiere dort waren, wo sie in seiner Welt hingehörten, und schlenkerte zum Bahnhof. In dem um diese Zeit völlig menschenleeren Gebäude schaute er sich die Übersicht der Zugabfahrten an und warf einen Blick auf die Uhr. Zufrieden lächelnd stellte er fest, dass in einer knappen Stunde ein Nachtzug in den Süden hier hielt. Er holte sich eine Cola und Schokolade aus einem Automaten und wartete auf einer Bank die Ankunft des nur wenig verspäteten Zuges ab. Als dieser einrollte, war es nicht ganz einfach, einen freien Sitzplatz zwischen all den mehr oder weniger laut schnarchenden Südländern zu finden. Er setzte sich zwischen eine halb schlafende Familie. Ein kleines Kind schrie kurz auf, ließ sich dann aber in seinem Schlaf nicht weiter stören. Nachdem der controllore ihm eine Fahrkarte ausge­stellt hatte, dachte er noch einen kurzen Moment an Giulia, die er in Spelunca besuchen wollte, und tat es dann dem Kinde bald nach.

Weil jener Ort nicht an der Eisenbahnlinie liegt, ließ er sich von einem Taxi die letzten Kilometer dort­hin bringen. Er fragte den lustigen Fahrer, wo er sowohl preiswert als auch bei netten Leuten wohnen könne, und wurde dann fast ohne weiteren Kommentar vor einer Pension abgesetzt, die zwar teurer war, als er sich das vorgestellt hatte und auch nicht im alten Stadtkern lag. Doch sowohl die nette Familie als auch deren Speisekarte überzeugten ihn dann schnell, dass es die richtige Wahl war.

Spelunca liegt am Meer zwischen Rom und Neapel. Wie verschieden das Leben in jenen beiden weltbekannten Großstädten ist, bleibt für Touristen meist ein Geheimnis. Das zu ergründen lockt auch nicht sehr, falls man sich nicht einfach auf die üblichen touristischen Sehenswürdigkeiten beschränken will. Denn weder gibt es dort Badestrand noch ist es selbst mit Italienisch-Kenntnissen leicht, die Dialekte zu verstehen. Sowohl die führenden Kreise in Rom als auch die Mafiosi in Neapel haben ihre eigene Sprache und lassen Fremde da nicht gern hinein hören, geschweige denn, dass sie das spezielle lokale Vokabular erklären würden.


Spelunca dagegen! Welch ein Traum von einer kleinen Stadt! Hoch auf einem Felsen hinter einer kleinen unbenutzten Zitadelle liegt der Kern des in vielem noch mittelalterlichen Ortes. An beiden Seiten erstrecken sich breite Badestrände und im Land dahinter moderne Gebäude für all diejenigen, die nicht gern hinaufsteigen, um zu den verwinkelten uralten, aber schön renovierten Häusern zu kommen, und die obendrein dort kein Auto vor der Tür haben können. Welche Freude es macht, sich dort hinauf zu bemühen!

Es roch in den engen Gassen nach Kultur. Zumindest bildete Igor sich das ein, als er wieder einmal den steilen Weg hoch stapfte. Nachdem er ein wenig Abstand zu Aventurina gewonnen hatte, zu dem faszinierenden Abend mit seinen zwei asiatischen Schönheiten, schien ihm genau das der Punkt zu sein, der ihm eben dort doch gefehlt hatte: eine gute Prise Kultur. In seinem Kopf blitzten rote Lampen auf. War er in Aventurina bereits im Rotlichtbezirk gelandet? Hatte er sich auf Sextourismus einge­lassen? Ihm schien, dass seine braven Freunde aus früherer Zeit neben ihm standen und mit dem Finger auf ihn zeigten. Aber es kamen keine Argumente. Sie wandten sich ein­fach von ihm ab.

Ihn machten diese Gedanken müde. Er schaute sich um, wo er sich ein wenig hinsetzen könnte, und merkte, dass er genau vor einem Internetcafé stand. Wenig sich darum kümmernd, dass dieser Ort nichts von der eigentlichen Kultur repräsentierte, die er suchte, ließ er sich einen Computer und eine Flasche Cola geben und schaute in seine E-Mail. Drei Mails von seinen Freunden enthielten alle, als hätte es eine geheime Absprache zwischen ihnen gegeben, ganz ähnlich die Frage, ob er ihnen Fotos von seiner Reise schicken könnte, und sie wollten alle wissen, wie es ihm geht. Vage kam in ihm das Gefühl hoch, dass eigentlich niemanden interessiert, was er hier wirklich sucht. Einer machte eine frotzelnde Anspielung, dass er sicher mal wieder eine Frau gefunden habe für . . . .

Ja, für was, das äußerte dieser nicht. Doch die auszufüllenden Punkte sagten alles. Nur für ihn selbst schien das nicht so. Für was hatte er sich denn mit den Beiden in Aventurina getroffen,- für was kam er jetzt hierher? Es stimmte schon, dass der Sex ihm gewaltige Freude gemacht hatte. Aber wenn ihm jemand ins Gesicht gesagt hätte, dass er dort nur Sex suchte, hätte er der Person sicher die Augen ausgekratzt. Er hatte das Gefühl, dass die beiden Frauen genau gespürt hatten, wie ihn der kulturelle Unter­schied zwischen ihnen interessiert, auch wenn sie das sprachlich nicht artikulieren konnten.

Dann schaute er sich die Webseite von Wikipedia über Spelunca an. Er wollte sich doch für die viel­schichtige Kultur dieses Ortes interessieren. Ah, schon die Spartaner und der römische Kaiser Tiberio hatten hier ihre Spuren hinterlassen. Später waren die Sarazenen und die Türken, also islamische Völker, als Angreifer gekommen, hatten den Fischern, die sich hier eine Festung zu ihrem Schutz gebaut hatten, zweimal den Ort verwüstet. Er lag knapp außerhalb des damaligen Vatikan­staates. Die Altstadt bekam ihre heutige Form danach,- also vor etwa 300 Jahren. Später wurde die Gegend ein Zankapfel zwischen den sich bildenden italienischen Regionen Lazio und Campania. Die großen Veränderungen kamen aber erst über 10 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Der Bau der Küstenstraße brachte den Tourismus und beendete die große Armut der Bevölkerung.

Noch in dem Intercafé rief er Giulia an und machte mit ihr ein Treffen in einem Lokal auf dem Markt­platz der Altstadt aus. Als er sie zwei Stunden später dort zur Begrüßung liebevoll in die Arme nahm, spürte er deutlich, wie sie ihm mit größerer Reserve als die beiden Asiatinnen begegnete. Fünf Jahre hatte er sie nicht mehr gesehen. Sie schien ihm recht verändert, war fülliger geworden,- eine Vollblut-Italienerin, dachte er. Auch ihren Namen schrieb sie nicht mehr Julia wie in Deutschland, sondern jetzt eben Giulia.

Genau darauf zielte nun seine erste Frage, als sie in der stimmungsvollen Dämmerung zwischen all den gestikulierenden und oft recht lautstarken Italienern an einem Tisch Platz genommen hatten: „Na, wie geht es dir denn hier? Du hast mir doch erzählt, dass du halb eine Italienerin und halb eine Spanierin bist. Als du Deutschland verlassen hast, hast du dich da voll und ganz für Italien und nicht für Spanien entschieden?“ Sie lachte laut los und meinte, wie er denn auf die Idee kommen könnte, dass ein Mensch plötzlich eine Hälfte seines Wesens verliert. „Du erinnerst dich doch, wie ich damals den spanischen Sieg in der Fußball-Europa-Meisterschaft erlebt habe. Aber dieses Mal hat eben Italien gesiegt, und ich habe mit den Italienern gefeiert. Aber wie geht es denn dir? Bist du jetzt ein richtiger Casanova geworden, oder? Bevor du angekommen bist, habe ich mir im Internet kurz die Biografie von Casanova angeschaut. Soll ich dir mal erzählen, was ich davon behalten habe?“ Als er leicht belustigt nickte, fuhr sie fort:

„Casanova war ein Kind von wissenschaftlichen Schaustellern, das älteste von fünf Geschwistern. Als Kind war er mehrmals lebensgefährlich erkrankt, und kam auch durch den damaligen Krieg dreimal in unmittelbare Lebensgefahr, sah, wie Soldaten vor seinen Augen ums Leben kamen und erlebte den Tod von Schulkameraden durch Krankheit. Dadurch hat er aber in seinem späteren Leben kaum mehr Angst gehabt. Auf Wunsch sowohl der Eltern als auch der Großeltern wurde er Wissenschaftler. Der kräftige Alkohol­genuss in den Studentenkneipen der traditionsreichen Stadt Monte Mirtillo schadete seiner Karriere zunächst nur wenig. Er setzte dort und in Colonia, wo er die Schönheit der Basis unseres Lebens zu erforschen lernte, je ein legales Kind auf die Welt. Von der Gesamtzahl seiner Kinder erhielt er laut Wikipedia jedoch nur teilweise Kenntnis.

Später reiste er zu einem wissenschaftlichen Papst in der Nähe von Harvard. Der dortige Vatikan war fest in jüdischer Hand. Die dortigen jüdischen Novizinnen gefielen ihm aber besser als die Kardinäle. Doch mehr und mehr fühlte er sich zur filmischen Schaustellerei hingezogen. Schon in Colonia, als eine Revolution der Untertan das Land nicht sehr blutig erschütterte, war er nach Haschgenuss unter heftigen Lachanfällen aus einem Institut getorkelt. Doch erst nach einigen frustrierten Jahren in wissen­schaftlichen Tempeln verschiedener jungkapitalistischer Länder zog er sich in den bayerischen Sumpf zurück. Er traf auf Roland Emmerich, Werner Herzog und die damals noch lebendige Underground-Szene, die aber nicht das Rückgrat hatte, zu ihrer Life-Verfilmung von Schnitzlers 50 Jahre altem sexy Reigen zu stehen. Wie sehr von Männern dominiert diese Szene war, wo er doch die Frauen liebte! Die wenigen „diesbezüglichen“ realen Möglichkeiten bauschte er zu 101 Nächten auf. Sie sollen hier kein Thema sein. Wie sehr sie dennoch seinem Ruf geschadet haben, ist historisch klar.

In den letzten Jahren seines Lebens widmete er sich nur noch dem Schreiben und der wiederholten Durchsicht seiner Manuskripte. Casanova starb in Deutschland oder Tschechien im Alter von 73 Jahren, wie in „101 Nacht“ beschrieben ist. Danach verschwand er aus seiner Grabkammer, feierte in Asien Wiederauferstehung und wurde zum wirklichen Casanova. Er gab das dort sinnlose Zählen der Nächte auf und widmete sich ihnen fortan auf asiatische Art.

Wegen Königslästerung wurde er in die Bleikammern von Bang Kopf geworfen. Doch der eigentliche Grund war wohl seine Liebe zur Einfachheit. Nicht nur, dass er keinerlei Möbel besaß, nein, auch die Minimal Arts liebte er. Die Liebe zu dieser Art von Musik hatte er von seinem Sohn geerbt, diejenige zur Architektur dagegen von einer Berliner Gespielin, und zum Film von einem ewig brummelnden Freund, der nur zwei Minuten lange Filme am besten fand. Auch die Religion- er verehrte mehr das Unverständliche als das Menschliche- wollte er auf ein Minimum reduzieren, indem er Raum und Zeit aus der Trans­zendenz verbannte. Das Recht dazu nahm er sich durch wissenschaftlich fragwür­dige, vielleicht aber nicht ganz dumme angebliche Spekulationen, die natürlich sofort auf dem Index der peer review landeten. Aber wer glaubte in dieser angeblich gestochen rationalen Welt schon noch an Zusammenhänge zwischen so verschiedenen Gebieten wie Kunst, Religion und Naturwissenschaften?

All die Mini-Päpste dieser etablierten Disziplinen, die in üblicherweise von ihnen bewohnten, bisweilen mit stattlichen staatlichen Gehältern finanzierten aufwendigen Villen im Fernsehen wirksam zu Geltung kamen, fürchteten natürlich dergleichen wie die Rattenpest.“

An dieser Stelle musste Igor bei Giulias mit todernstem Gesicht vorgetragener Story laut loslachen. Doch so ganz war ihm nicht zum Lachen zumute. Durch sein von dem inzwischen ausgetrunkenen Glas Wein leicht verändertes Bewusstsein huschte die schnell wieder verdrängte Frage, ob diese Frau denn hellseherische Fähigkeiten habe.

Er spürte eine merkwürdige Mischung von Nähe und Distanz bei ihr. In dem Wunsch, diese unklaren Gefühle überbrücken zu wollen, rückte er näher an sie heran, legte seine Hand auf ihre Schulter und flüsterte ihr ins Ohr: „Können wir hier wieder so zusammen sein wie damals? Das wäre super!“ Doch ihre Reaktion kam unerwartet schnell: „Du giltst hier als typischer Deutscher. Ich weiß wohl, dass du das nicht bist. Aber ich könnte mich hier auf keinen Fall auf dich einlassen. Schau dich mal um! Hier kommen keine deutschen Reisegruppen her. Ich weiß genau, dass es in Reisekatalogen bei euch kaum Angebote für diesen Ort gibt. Das hat eine ganze Reihe von Gründen. Die italienische Oberschicht macht hier traditionell Ferien. Das sind Leute sowohl mit viel Geld als auch mit Beziehungen. Denen stinkt, wie die Deutschen sich mit ihrem Geld wichtig tun und aber nicht die lockere Lebensart haben, die hier vorherrscht. Aber sie erinnern sich auch genauer, als ihr ahnt, an die schlimmen Dinge, die die Deutschen hier im Krieg verursacht haben. Hast du mal von Monte Cassino gehört? Und den Wiki­pedia-Artikel über „Deutsche Kriegsverbrechen in Italien“ scheint kaum jemand von den Touristen zu lesen. Das allerschlimmste Verbrechen in Marzabotto bei Bologna ist dort sogar nur in Fußnoten erwähnt.“ Er merkte, wie Giulia sich in Rage redete. Doch diesmal war ihre Rage echt und kein gut gespieltes Theater, wie er es früher bei ihr erlebt hatte. „Nein, Igor, sei mir nicht böse, aber ein Mann deines Alters hat hier in Italien keine Chance bei mir, auch wenn ich wohl weiß, dass du auch damals noch ein Kind warst und selbst unter dem Krieg gelitten hast. Ich könnte mich einfach hier im privaten Bereich nicht mit dir sehen lassen. Verstehst du das?“

Jetzt begann er, in ihr sehr mütterliche Züge zu sehen,- wie eine Mutter, die die Kinder ihres Landes verteidigte. Er hatte immer das Mütterliche der italienischen Frauen so gerne gemocht. Er mochte es auch gern, wenn sie ihm etwas beibrachte. Früher war das die italienische Sprache gewesen. Jetzt aber ging es um solche eher unangenehme Dinge. Doch er achtete sie deswegen, fast wie eine alte weise Frau. Er schloss die Augen, als ihm in den Sinn kam, dass in seinen Vorstellungen bei dieser scheinbar perfekten Traumfrau trotz ihrer unglaublichen Schönheit und ihrem zusätzlich vorhandenen scharfen Verstand hier etwas fehlte, was sie gehabt hatte, als er sie vor Jahren an einem Badesee im Umland seines deutschen Wohnortes kennen gelernt hatte. Ja, sie hatte sich dort als leichtlebiges kleines Luder gezeigt und keinen Hehl daraus gemacht, zwar nicht wie eine Prostituierte, aber doch auch nicht weit davon entfernt, Männer aufs Kreuz zu legen. Gleichzeitig hatte sie sich lebhaft für den Existentialismus interessiert. Wie ihm das gefallen hatte! Ja, eine richtige Traumfrau sollte schön, schlau und sehr sexuell sein,- eine Katze auf dem Catwalk, eine erleuchtete Lehrerin und eine Hetäre! Als er an dieses Wort dachte, erschrak er fast und fühlte den bösen Blick vieler ihm nahestehender Leute auf sich gerichtet, die darunter wohl vor allem einfach eine Nutte verstanden.

Das Ende dieser Episode lässt sich schnell erzählen. Er fühlte sich ganz gewiss nicht als ein Casanova. Am nächsten Tag kehrte er nach Deutschland zurück.

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